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Deutungsmuster und Deutungsmusteranalyse

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Das Diskursive Interview

Part of the book series: Qualitative Sozialforschung ((QUALSOZFO))

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Zusammenfassung

Die Methode des Diskursiven Interviews wurde als Instrument zur Erfassung und Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster entwickelt. Zum Verständnis des Diskursiven Interviews ist es daher notwendig zu klären, was Deutungsmuster sind und warum die Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster sozialwissenschaftlich bedeutsam ist. Vor allem aber basieren die methodischen Verfahren des Diskursiven Interviews auf einem spezifischen Verständnis sozialer Deutungsmuster; sie lassen sich ohne eine Vorstellung davon, was Deutungsmuster sind und wie sie funktionieren, nicht nachvollziehen.

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Notes

  1. 1.

    Übersetzungsvorschläge gibt es zumindest einige: In jüngeren Veröffentlichungen z. B. „patterns of interpretation“ (Müller 2013); „interpretive frames“ (Alemann 2014), „collective mindsets“ (Pohlmann et al. 2014) und „interpretative patterns of meaning“ (Schetsche und Schmied-Knittel 2013).

  2. 2.

    Zu stark nicht etwa, weil Durkheims Denken für die wissenssoziologische Perspektive unangemessen wäre, sondern weil durch diese Begriffswahl womöglich andere und direktere Bezüge des Deutungsmusterkonzepts gewissermaßen ausgeblendet würden und auch weil das Deutungsmusterkonzept stärker an andere Theorietraditionen anknüpft.

  3. 3.

    Das Fehlen einer Theorie sozialer Deutungsmuster wird seit Beginn der Verwendung des Deutungsmusterbegriffs beklagt (für Versuche einer stärkeren theoretischen Fundierung und Einordnung vgl. aber z. B. Keller 2014, Konderding 2008, Plaß und Schetsche 2001). Ob es einer solchen Theorie bedarf und ob sie überhaupt möglich wäre, ist aber zu bezweifeln: Kein Bedarf besteht, weil „Deutungsmuster“ ein Konzept und kein Aussagensystem ist. Als Konzept basiert es auf (vor)theoretischen Prämissen oder Axiomen, deren Tragfähigkeit sich in deren Umsetzung in Theorie und Forschung erweisen muss. Wie viele andere soziologische Grundbegriffe (z. B. Rolle oder Interaktion) hat sich das Deutungsmusterkonzept zudem in unterschiedlichen Theorietraditionen entwickelt. Daher ist eine „isolierte“, eigenständige Deutungsmustertheorie nicht vorstellbar, sondern bestenfalls unterschiedliche Deutungsmustertheorien. Dagegen könnten (insb. wissenssoziologische und kommunikationstheoretische) Weiterentwicklungen von Erklärungsansätzen, die die Handlungsrelevanz unterschiedlicher Wissensformen in den Blick nehmen, sicher mehr Aufschluss über die Funktionsweise sozialer Deutungsmuster ermöglichen.

  4. 4.

    Mit Arnold (1983) können wir für den Deutungsmusteransatz im engeren Sinn drei wesentliche Theorieimpulse unterscheiden: Diese sind die Wissenssoziologie insbesondere in der Tradition von Schütz (1993; Schütz und Luckmann 1979) und Berger/Luckmann (1990), die sog. Arbeiterbewusstseinsforschung (Popitz et al. 1957; Neuendorff und Sabel 1978; Thomssen 1980) und die von strukturalistischen Ideen ausgehende objektive Hermeneutik Oevermanns (1973, 2001; Oevermann et al. 1979). Zu ergänzen wäre hier noch die historisch-genetische Perspektive (u. a. Honegger 1978, 2001; Schütze 1986). Zur Definition und zur theoretischen Einbettung des Deutungsmusterkonzepts vgl. a. Keller (2014), Lüders (1991), Lüders/Meuser (1997), Meuser/Sackmann (1991), Müller (2013), Plaß/Schetsche (2001) und Schetsche (2000).

  5. 5.

    Auf die zum Teil sehr unterschiedlichen theoretischen Bezüge dieser und weiterer Termini kann hier nicht eingegangen werden. Sofern diese Begriffe nicht einfach unspezifisch verwendet werden, ist es aufgrund der oft gegensätzlichen theoretischen Rahmungen meist nicht möglich, Unterschiede zwischen Deutungsmustern und diesen Konzepten grundsätzlich und in allgemeiner Form zu klären. Schon hier kann aber festgehalten werden, dass Unterschiede oft bestehen oder zumindest bestehen können und dass Deutungsmuster daher nicht einfach als Synonym von „script“, „Metapher“ usw. gelten kann.

  6. 6.

    Aber zumindest eine klassische und wohl auch am häufigsten zitierte, nämlich die des oft als eine Art „Vater“ des Deutungsmusterkonzepts angesehenen Oevermann: „Unter Deutungsmustern sollen nicht isolierte Meinungen oder Einstellungen zu einem partikularen Handlungsobjekt, sondern in sich nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge verstanden werden. Soziale Deutungsmuster haben also ihre je eigene „Logik“, ihre je eigenen Kriterien der „Vernünftigkeit“ und „Gültigkeit“, denen ein systematisches Urteil über „Abweichung“ korreliert. Insofern sind sie durchaus wissenschaftlichen Hypothesensystemen als Argumentationszusammenhängen mit spezifischen Standards der Gültigkeit vergleichbar.“ Und weiter: „Soziale Deutungsmuster sind funktional immer auf eine Systematik von objektiven Handlungsproblemen bezogen, die deutungsbedürftig sind“ (Oevermann 1973, S. 3).

  7. 7.

    Dennoch sollen hier zumindest drei Unterschiede zu meinem Verständnis sozialer Deutungsmuster benannt werden:

    (1) So besteht m. E. kein Grund, warum Deutungsmuster, wie bei ArnoldArnold, Rolf, bereits definitorisch auf soziale Gruppen beschränkt sein sollen. Die soziale Verbreitung und Verteilung von Deutungsmustern ist eine empirische Frage. Neben klassen-, milieu- oder gruppenbegrenzten Deutungsmustern können daher z. B. auch individuelle, familiale oder kulturelle und historische bestehen.

    (2) Ein Verständnis von Deutungsmustern als „Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen“ und als „stereotype Sichtweisen und Interpretationen“ ist zwar weit, aber dennoch eine nicht notwendige Verengung. Warum sollte es nicht z. B. auch in Bezug auf Gegenstände, soziale Gruppen und Kategorien, historische Prozesse u. a. m. Deutungsmuster geben?

    (3) Dass Deutungsmuster „ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential (…) in der Form grundlegender (…) Situations–, Beziehungs- und Selbstdefinitionen“ (Hervorh. von mir) bilden, legt es nahe, dass Deutungsmuster Situationsdefinition sind. Dagegen wird hier davon ausgegangen, dass Deutungsmuster in Situationsdefinitionen (oder allgemeiner: auf Bezugsprobleme) angewendet werden, also nur im Grenzfall mit Situationsdefinitionen zusammenfallen.

  8. 8.

    Vgl. hierzu u. a.: Gans (1992); Geremek (1991); Groenemeyer (1999); Leibfried und Voges (1992); Oorschot und Halman (2000); De Swaan (1993).

  9. 9.

    Wenn im Folgenden das, worauf sich Deutungsmuster beziehen, als Bezugsproblem bezeichnet wird, geschieht dies in Ermangelung eines geeigneteren, vor allem eines theoretisch gehaltvolleren Begriffs, aber auch in Anknüpfung an einen im Kontext der Deutungsmusteranalyse verbreiteten Sprachgebrauch. Die Bezeichnung als Bezugsproblem soll aber in keiner Weise Deutungsmuster auf den Bereich „soziale Probleme“ oder individuelle Entscheidungs- und Handlungsprobleme begrenzen. „Problematisch“ ist hier (zumindest in der Perspektive des Deutungsmusterverwenders) allein die Deutung eines Phänomens, die dann zum Rückgriff auf Deutungsmuster führt. Dass Deutungsprobleme dann auch oft zu individuellen Handlungsproblemen führen und Deutungsmuster dann handlungsermöglichend sind, ist eine häufig zu beobachtende Folge, aber keine notwendige Bedingung für das Vorhandensein von Deutungsmustern.

  10. 10.

    Im Unterschied zu heute so verbreiteten Postmodernismen und Radikalkonstruktivismen war Oevermann (1973, S. 4) hierzu bereits erfrischend klar: „Natürlich treten objektive Handlungsprobleme immer schon als kulturell interpretierte, also als in Begriffen von Deutungsmustern interpretierte Probleme, in das Handlungsfeld des Subjekts. Insofern stehen Deutungsmuster immer am Anfang einer soziologischen Kausalanalyse. Andererseits lassen sich Deutungsmuster ohne die Rückbeziehung auf objektive Probleme sozialen Handelns, auf die sie antworten, nicht erklären“.

  11. 11.

    Dass dieses Potenzial sozialer Deutungsmuster nach wie vor nicht hinreichend ausgeschöpft wird, ist vielleicht auch auf die in den Sozialwissenschaften verbreitete Fokussierung auf das Bourdieusche Habituskonzept (Bourdieu 1976) zurückzuführen, die – trotz früher Betonung von Parallelen und sich ergänzenden Orientierungen (u. a. Matthiesen 1989) – zu einem Festhalten an der strukturalistischen Bias des Habituskonzepts geführt hat. Noch 2001 betont auch Oevermann die Nähe seines Deutungsmusterverständnisses zum Habituskonzept (Oevermann 2001, S. 46).

  12. 12.

    Vor allem durch diese Komplexität unterscheiden sich Deutungsmuster auch von fast allen „konkurrierenden“ Konzepten (s. o.). Dies gilt für alle primär kognitiven Konzepte (cognitive maps, scripts, frames, Metaphern), aber z. B. auch für normative (Einstellungen, Werte).

  13. 13.

    Die Reichweite sozialer Reaktionen ist hierbei groß und reicht von Irritationen in Interaktionssituationen über kulturell akzeptierte oder tolerierte Formen von Devianz bis hin zu psychotherapeutischen Eingriffen. Die sozialen Reaktionen sind dabei selbst wiederum von sozialen Deutungsmustern geleitet. Wie insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit religiösen Deutungen zeigt, können diese einzelnen Handelnden ebenfalls – und wider aller empirischen Evidenz – aufgenötigt werden.

  14. 14.

    Der Begriff der Derivation geht auf Pareto (1955 [1916]) zurück und bildet zusammen mit seinem strukturellen Pendant des Residuums den Kern der Paretoschen Wissenssoziologie (vgl. a. Eisermann 1962, S. 170 ff.). Der hier verwendete Derivationsbegriff weicht dadurch vom Paretoschen ab, dass hier damit nur „in Handlungsbegründungen verwendete Deutungsmuster“ bezeichnet werden (und nicht alle Formen von „Handlungsrationalisierungen“). Zugleich wird auf die bei Pareto zumindest implizite Ideologieannahme verzichtet.

  15. 15.

    Dies schließt natürlich nicht aus, dass sich deutungsmusteranalytische Forschung und andere mit Deutungsmustern befasste Forschungsrichtungen fruchtbar ergänzen können. So lassen sich für die Analyse sozialer Deutungsmuster und deren Wirkungsformen sehr gut „Arbeitsteilungen“ insbesondere mit der historischen und wissenssoziologischen Diskursforschung und der Konversationsanalyse vorstellen. Die Diskursforschung befasst sich ohnehin oft explizit mit den Prozessen der Entstehung und Durchsetzung sozialer Deutungsmuster (z. B. Honegger 1978; Schütze 1986) oder betrachtet Deutungsmusteranalysen als Teil einer Diskursrekonstruktion (Keller 2014). Konversationsanalytische Arbeiten könnten dagegen insbesondere über die kommunikative Funktion und Praxis von Deutungsmustern (Legitimierung, Validierung) Aufschluss geben.

  16. 16.

    Aus diesem Grund hat es sich auch als schwierig erwiesen, Deutungsmuster mit standardisierten Methoden zumindest nachzuweisen (vgl. Lüdemann 1992; Ullrich 2008). Der Deutungsmusteransatz „verträgt“ sich ganz offensichtlich nur schlecht mit der Variablen- und Subsumtionslogik standardisierter Forschung.

  17. 17.

    Die Erzeugung (längerer) schriftlicher Primärtexte im Forschungsprozess scheitert meist an der zu geringen Motivation der untersuchten Personen (die Verfassung eines schriftlichen Berichts etc. ist weit aufwendiger als z. B. Fragen in einem mündlichen Interview zu beantworten). Eine umfassendere Textproduktion kann zwar durch stärkere (finanzielle) Anreize erreicht werden; diese bergen aber die Gefahr einer „Ersatzmotivation“ und damit einer Artefakteproduktion (wenn, im Extremfall, Berichte und Erzählungen frei erfunden werden, um dafür bezahlt zu werden).

  18. 18.

    Besonders häufig werden auch „Experteninterviews“ (vgl. u. a. Bogner et al. 2002; Gläser und Laudel 2009; Meuser und Nagel 1991) für deutungsmusteranalytische Forschung eingesetzt. Dies ist vor allem auf das starke Interesse an der Rekonstruktion des Deutungswissens des jeweiligen Expertentyps zurückzuführen (u. a. Bogner und Menz 2001; Meuser 1992). Experteninterviews definieren sich jedoch über den Forschungsgegenstand. Sie stellen keinen eigenen Interviewtyp dar und sind meist Leitfadeninterviews.

  19. 19.

    Diese Methodenschule (der Dokumentarischen Interpretation) versteht sich zwar nicht dezidiert als deutungsmusteranalytisch, verfolgt aber ähnliche Zielsetzungen. Bohnsack (1992, 1997) verwendet den Begriff des Orientierungsmusters, der deutliche Parallelen zum Deutungsmusterbegriff aufweist.

  20. 20.

    Bohnsack definiert „konjunktive Erfahrungsräume“ allerdings relativ weit und fasst darunter auch Milieus und Generationen (1991, S. 115). Dies würde gegen eine Beschränkung auf Realgruppen sprechen, die aber nach wie vor die dominante Gruppenform dieser Forschungsrichtung ist (vgl. u. a. Bohnsack et al. 2007). Entsprechend ließe sich argumentieren, dass sich auch (oder gerade) mit künstlich zusammengestellten Gruppen Deutungsmuster erschließen lassen (so z. B. Mensching 2010; Müller 2014). Auch hier stellt sich aber das Problem, dass bereits hinreichende Kenntnisse über die soziale Verteilung von Deutungsmustern bestehen müssen, um die Diskussionsgruppen zusammenstellen zu können. Der Unterschied zwischen sozialen und an „konjunktive Erfahrungsräume“ gebundene Deutungsmuster besteht jedoch vor allem darin, dass soziale Deutungsmuster nicht nur über milieugebundene Interaktionen, sondern auch über öffentliche Diskurse gebildet und validiert werden.

  21. 21.

    Die in jüngerer Zeit zunehmend über ihren Ursprungskontext hinaus angewendete Konversationsanalyse ist demgegenüber bisher noch ohne größeren Einfluss auf deutungsmusteranalytische Arbeiten.

  22. 22.

    Für einen Überblick und eine vergleichende Darstellung sequenzanalytischer Verfahren vgl. insb. Kleemann et al. (2009).

  23. 23.

    So ist die Haltung vieler qualitativer Sozialforscher/innen z. B. gegenüber der Inhaltsanalyse nach Mayring (1983), z. T. aber auch gegenüber der Grounded Theory Methodology (Strauss und Corbin 1990) oft zumindest ambivalent. In einigen Lehrbüchern werden diese Methoden nicht oder – gemessen an den Anforderungen sequenzanalytischer Verfahren – als defizitäre Methoden dargestellt.

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Ullrich, C. (2019). Deutungsmuster und Deutungsmusteranalyse. In: Das Diskursive Interview. Qualitative Sozialforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24391-3_1

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