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(Polizei-)Gewalt verstehen – Überlegungen zu einer Ethnographie polizeilichen Überwältigungshandelns

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Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung

Zusammenfassung

Aus einem ethnographischen Verständnis von Polizeiarbeit heraus ist „Gewalt“ ein sehr vielschichtiger Aspekt polizeilicher Tätigkeit. Während die juristische und administrierte Konstruktion von „Staatsgewalt“ stets Legalität und Legitimität implizieren, ist diese auf der Handlungsebene häufig ein uneindeutiges Geflecht von „potestas“ und „violentia“. Um beide Aspekte analytisch als Bestandteil eines Handlungszusammenhangs erfassen zu können, schlage ich als Oberbegriff für die Zwangstätigkeiten den Begriff „Überwältigungshandeln“ vor. Darin ist noch keine normative Position festgeschrieben. Die Perspektive löst sich überdies von personaler Disponiertheit und wendet sich Situationen (bzw. Interaktionen) zu, in denen Überwältigungshandeln stattfindet. Im Ergebnis bedeutet das, dass es keine „gute Gewalt“ gibt, die sich gegen die „schlechte Gewalt“ stellt, sondern dass beide Anteile von Gewalt in einer Handlung vorkommen können und dass im übrigen Gewaltverhältnisse strukturell in die Polizeiarbeit eingewoben sind. Einige dieser Strukturen werden im Text beschrieben, und zwar sowohl solche, die gewaltfördernd sind als auch jene, die gewaltminimierende Wirkung haben. Allerdings thematisiert die Polizei gegenwärtig jede Form von nicht erwünschtem und/oder abweichendem Verhalten ihrer bediensteten als individuellen Einzelfall und sieht nicht die kulturellen und strukturellen Bedingungen, die zu Fehlverhalten (hier besonders: Übergriffe und rechte Radikalisierung) führen.

Alles Böse wurzelt in einem Guten und

alles Falsche in einem Wahren

Thomas von Aquin

Vorläufergedanken zu diesem Aufsatz finden sich schon in dem Beitrag „„Gewalt‘ und ‚Zwang‘ – Überlegungen zum Diskurs über Polizei“, in: Schmidt-Semisch, Henning/Henner Hess (Hrsg.) (2014): Die Sinnprovinz der Kriminalität. Zur Dynamik eines sozialen Feldes (Festschrift für Sebastian Scheerer), Wiesbaden, S. 203–218. Inspiriert hat mich auch der Zwischenbericht des DFG-Projekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ (KViAPol) der Universität Bochum, der am 17.09.2019 veröffentlicht wurde (einzusehen unter https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf, zugegriffen am 19.09.2019)

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Notes

  1. 1.

    Darauf verweist u. a. Nedelmann 1997, S. 62–72, mit ihrer Unterscheidung in „Mainstreamgewaltforschung und neuerer Gewaltforschung. Die Arbeiten von Wolfgang Sofsky (1996) und Jan Philipp Reemtsma (1998, 2006, 2008) bilden hier besonders prominente Ausnahmen.

  2. 2.

    Vgl. Waddington 1999 passim.

  3. 3.

    Für diesen wichtigen Gedanken bin ich Werner Schiewek dankbar, der das, meiner Erinnerung nach, während eines Vortrags („Gibt es ‚gute‘ Gewalt? – Das staatliche Gewaltmonopol in der moralischen Zwickmühle“) am 11.06.2015 in etwas so umschrieben hat: In der Ausführung der legitimen Gewalt (potestas) „lauert“ potentiell auch die Gefahr einer illegitimen Gewalt.

  4. 4.

    Auf diesen Aspekt bin ich nach der Ansicht zahlreicher Bilder im Anschluss an der G20-Gipfel 2017 in Hamburg gekommen, auf denen offensichtlich und für den fachlich nicht ganz unbedarften Beobachter (eine) polizeiliche Gewaltanwendung(en) zu sehen war(en) – nicht aber für die Hamburger Staatanwaltschaft, die keine einzige dieser Handlungen zur Anklage brachte. Erst als ein Polizist von einem Kollegen angegriffen wurden, landete dieser Fall in einer gerichtlichen Hauptverhandlung (vgl. den Artikel „Sondereinsatz mit Folgen“ von Annabel Trautwein unter https://www.zeit.de/hamburg/2019-11/g20-gipfel-hamburg-prozess-polizeigewalt-polizisten-reizgas (04.11.2019).

  5. 5.

    Vgl. zum Konzept Polizeikultur ausführlich Behr 2006, 2008.

  6. 6.

    So der Tenor der so genannten „Authority Maintenance Theory“ von Alpert/Dunham 2004.

  7. 7.

    Vgl. Karsten Polke-Majewski, Wenn die Verrohung zum Zeitgeist wird, 09.07.2017, www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/g20-gipfel-polizei-olaf-scholz-hartmut-dudde-linksextremismus, (15.04.19).

  8. 8.

    Vgl. Feltes u. a. 2007. Dieser Aufsatz gehört gleichzeitig zu den wenigen substanziellen Arbeiten zu einer gleichermaßen empirischen und theoretischen Verortung polizeilichen Überwältigungshandelns.

  9. 9.

    Exemplarisch dafür vgl. Fiedler (2019: 4–5).

  10. 10.

    Eine Aufzählung der konkreten Muster für die polizeiliche Praxis findet sich in Behr 2000, S. 219.

  11. 11.

    Davon gibt es „berühmte“ Ausnahmen wie der Fall eines israelischen Professors, der in Bonn im Jahr 2019 rassistisch bzw. antisemitisch angegriffen worden war und den die Polizei zunächst für den Täter, nicht für das Opfer hielt, vgl. https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/stadt-bonn/mann-wegen-angriffs-auf-juedischen-professor-angeklagt_aid-44063667 (12.10.19).

  12. 12.

    Diese Aufzählung soll nicht darüber hinweg täuschen, dass es natürlich auch individuelle, also psychologische Haltungen/Faktoren gibt, die zu Übergriffen etc. führen. Ich beschränke mich hier aber auf die organisatorische Rahmung, die beobachtbar und veränderbar ist.

  13. 13.

    Vgl. https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/id/DE_Malchow-Kaum-zu-glauben-was-Polizisten-alles-ueber-sich-ergehen-lassen?open&ccm=000 (12.10.2019).

  14. 14.

    Vgl. Ziegler, Jean-Pierre: Schlechter Umgang, in: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizeigewalt-kommentar-zur-bochumer-studie-schlechter-stil-a-1286495-amp.html (29.10.19).

  15. 15.

    Vgl. https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/wilmer-machtmissbrauch-steckt-in-dna-der-kirche, vom 14.12.2018, zugegriffen am 15.08.2019.

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Behr, R. (2020). (Polizei-)Gewalt verstehen – Überlegungen zu einer Ethnographie polizeilichen Überwältigungshandelns. In: Hunold, D., Ruch, A. (eds) Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung. Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30727-1_9

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