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2005 | Buch

Theorien der Europäischen Integration

herausgegeben von: Hans-Jürgen Bieling, Marika Lerch

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Wer die Stichwörter "Europa", ,,Europäische Union" oder "europäi­ sche Integration" in die Suchmaschine eines Bibliothekskatalogs eingibt, wird von Treffern gleichsam erschlagen. An Monographien, Sammelbänden und diversen Arbeitspapieren besteht wahrlich kein Mangel. Auch die Liste der einschlägigen Fachzeitschriften ist lang, und sie wird tendenziell eher länger als kürzer. Trotz dieses expan­ dierenden und qualitativ sehr anspruchsvollen Literaturangebots stellt dieser Sammelband, der in deutscher Sprache Basiswissen über Theorien der europäischen Integration vermittelt, eine Reaktion auf eine "Leerstelle" dar. So gibt es zwar eine Reihe von Lehrbüchern, die in die Geschichte, die Institutionen und die Funktionsweise des EU-Systems einführen und diese anhand ausgewählter Politikfelder erläutern. Die konkurrierenden integrationstheoretischen Perspekti­ ven können dabei zwar vorgestellt, aber meist nicht in ausreichender Tiefe und Breite diskutiert werden. Eine zweite Kategorie bilden Sammelbände und Monographien, die sich eingehend mit Integrati­ onstheorien befassen, hierbei jedoch weniger ein didaktisches Kon­ zept umsetzen, als vielmehr ein spezifisches Forschungsinteresse verfolgen und die integrationstheoretische Diskussion - mit Blick auf einzelne Politikfelder oder spezielle Diskursstränge - voranbrin­ gen wollen. Schließlich konzentriert sich eine dritte Gruppe von Bü­ chern auf die empirische Anwendung und Weiterentwicklung ausge­ wählter Theoriestränge. Aufgrund ihres hohen Abstraktionsniveaus - häufig handelt es sich um Dissertationen oder Habilitationen - sind diese Arbeiten recht voraussetzungsvoll, d. h. sie sind zumeist nur als weiterführende oder ergänzende Literatur in der Lehre geeignet.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Theorien der europäischen Integration: ein Systematisierungsversuch

Theorien der europäischen Integration: ein Systematisierungsversuch
Zusammenfassung
Theorien europäischer Integration beschäftigen sich mit einem „moving target“: einem politischen Phänomen, das sich parallel zur wissenschaftlichen Beschreibung und Beobachtung immer wieder verändert und transformiert. List (1999) hat Europa treffend als eine „Baustelle“ beschrieben, an der seit über 50 Jahren fleißig gewerkelt und gearbeitet wird. Nach einer Krisen- und Stagnationsphase in den 1970er Jahren sind seit Mitte der 1980er Jahre wieder besonders umfangreiche Aktivitäten auf der Baustelle zu beobachten, die sehr grob der doppelten Logik bzw. Dialektik von „Vertiefung“ und „Erweiterung“ folgen: Zwischen 1980 und 2004 hat sich die Zahl der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Union (EU) beinahe verdreifacht (von 9 auf 25), und weitere Beitritte stehen bevor. Zugleich sind insgesamt vier Vertragsreformen mit umfassenden institutionellen Veränderungen und Kompetenzerweiterungen durchgeführt worden. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA, 1986) sowie die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) haben aus der Wirtschaftsgemeinschaft eine politische Union mit staatsähnlichen Befugnissen in vielen Politikbereichen werden lassen.
Hans-Jürgen Bieling, Marika Lerch

Klassische Ansätze

Frontmatter
Föderalismus
Zusammenfassung
Die europapolitische Verwendung des Begriffs „Föderalismus“ ist in Schweden und in Großbritannien verpönt und negativ besetzt; in Deutschland, Österreich und Belgien hat er hingegen einen guten Klang. Der deutsche Außenminister war sich der politischen Brisanz seines Vorstoßes bewusst, als er im Mai 2000 seine Pläne für eine „Europäische Föderation“ vorstellte (Fischer 2001). Die Rede Joschka Fischers in der Berliner Humboldt-Universität erfuhr ein breites nationales und internationales Echo, wobei Kritik und Zuspruch gleichermaßen zu vernehmen waren (vgl. Hrbek 2001; Joerges et al. 2000; Schneider 2001a, 2001b). Während britische Zeitungen vor einem „European Superstate“ (The Daily Telegraph, 13.05.2000) warnten, begrüßten andere den „frischen europapolitischen Wind“ (Neue Zürcher Zeitung, 31.05.2000) und riefen erfreut aus „Endlich: eine Vision“ (Rheinischer Merkur, 18.05.2000). Erklären lassen sich diese unterschiedlichen Reaktionen durch den doppelten Tabubruch, den Fischer begangen hatte. Zum einen war er der erste in einer Reihe von prominenten Politikern, der die Frage nach der bewusst offen gehaltenen „Finalität“ der europäischen Einigung wieder aufgeworfen hat; zum anderen verknüpfte er seine Zukunftspläne mit föderalen Leitbildern, die in der Entstehungsgeschichte der europäischen Integration zwar eine zentrale Rolle gespielt hatten, im Kreis der europäischen Staats-und Regierungschefs in den Jahren danach jedoch mit einem Tabu belegt waren und nur in Teilen der Politik- und Rechtswissenschaft sowie bei Europaaktivisten wie den „Jungen Europäischen Föderalisten“ hochgehalten wurden. Die ganz unterschiedlichen Reaktionen in Europa auf die Humboldt-Rede Fischers verweisen auch auf die unterschiedliche Rezeption des Begriffs „Föderalismus“: „It means different things to different people in different contexts in different times“ (Burgess 2004: 27).
Martin Große Hüttmann, Thomas Fischer
Neo-Funktionalismus
Zusammenfassung
Der Neo-Funktionalismus ist zweifellos der Urvater der empirisch-analytischen (im Gegensatz zu den normativen) Theorien europäischer Integration. Er nimmt dazu die wesentlichen analytischen Elemente des Funktionalismus vor allem von David Mitrany auf (nicht zuletzt die „doctrin of ramification“, den konzeptionellen Vorläufer des „spill-over“), entwickelt diese zu einem Hypothesen generierenden Ansatz weiter, verwirft aber die normative Teleologie des Funktionalismus, insbesondere dessen strikte Begrenzung auf Kooperation in technischen, im wesentlichen apolitischen Fragen. Der Neo-Funktionalismus entwickelte sich damit zum zentralen Referenzpunkt der integrationstheoretischen Debatte der Nachkriegsjahrzehnte; sei es als Fundament, auf dem aufgebaut werden konnte, oder aber als Eiche, an der sich die (kritischen) Eber rieben. Ernst Haas’ zentrales Werk, „The Uniting of Europe“ (Haas 1958) gehört zu den am meisten (unterstützend wie kritisierend) zitierten Werken der Integrationstheorie.
Dieter Wolf
Intergouvernementalismus
Zusammenfassung
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich allmählich die Auffassung durchzusetzen, dass der Erfolg der europäischen Integration auf die Einhegung, wenn nicht sogar die Überwindung des Nationalstaats hinausläuft. Dieses Verständnis der europäischen Integration prägte nicht nur die föderalistische Bewegung und die politische Praxis der hohen Behörde unter Jean Monnet, sondern auch die integrationstheoretische Perspektive des prozeduralen Föderalismus (Friedrich 1968) und Neo-Funktionalismus (Haas 1958, 1964). In den 1960er Jahren wurde die Annahme einer sukzessiven Vergemeinschaftung politischer Kompetenzen dann jedoch durch den Intergouvernementalismus in Frage gestellt. Die Beiträge von Stanley Hoffmann (1963, 1964a, 1964b, 1966), der in diesem Kapitel im Zentrum stehen wird, waren insofern bahnbrechend, als dieser erstmals eine realistisch inspirierte Theorie der europäischen Integration entwickelte. Die Grundaussage lautete dabei, dass die Nationalstaaten nach wie vor die zentralen Basiseinheiten der europäischen Integration darstellen und die Gemeinschaftspolitik vor allem durch die nationalen Regierungen bestimmt wird.
Hans-Jürgen Bieling
Marxistische Politische Ökonomie
Zusammenfassung
Mit den Anfängen der europäischen Integration wurde der Marxismus in zweifacher Hinsicht — theoretisch und politisch-praktisch — neu herausgefordert. Zum einen entstanden mit ihr neue politökonomische und staatstheoretische Fragen, etwa in Bezug auf die räumlich-territoriale Verankerung der kapitalistischen Reproduktion und die konkreten Konkurrenz- und Kooperationsverhältnisse zwischen den kapitalistischen Staaten. Zum anderen wurden auch neue Fragen für die politische Praxis aufgeworfen: Unter welchen Bedingungen kann sich die Arbeiterbewegung als das zentrale politische Subjekt auf einem den nationalstaatlichen Rahmen überschreitenden Terrain politisch konstituieren und in Klassenauseinandersetzungen bestehen (Ziltener 1997: 1000)?
Martin Beckmann

Modifikationen, „Brückenschläge“ und neue Perspektiven

Frontmatter
Supranationalismus
Zusammenfassung
Der Supranationalismus beschäftigt sich mit der Frage, warum der europäische Integrationsprozess in verschiedenen Sektoren ungleichmäßig und ungleichzeitig voranschreitet. Während die politische Entscheidungsfindung in manchen Politikfeldern nach wie vor dem intergouvernementalen Muster folgt, wird sie in anderen Bereichen inzwischen besser als supranationales Regieren (supranational governance) bezeichnet. Mit letzterem meint der Supranationalismus die Fähigkeit der Institutionen der Europäischen Union,2 in einem bestimmten Politikfeld für alle Akteure verbindliche Regeln zu setzen. Als zentralen Motor zur Herausbildung supranationaler Politikmuster werden transnationale Austauschprozesse identifiziert, insbesondere wirtschaftlicher Art. Diese Austauschprozesse (genauer: die durch sie begünstigten Gruppen) drängen die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedsstaaten dazu, neue Politikfelder einer europäischen Regulierung zu unterwerfen. Die relative Intensität transnationaler Aktivität, messbar im intertemporalen und intersektoralen Vergleich, determiniert dabei die unterschiedliche Tendenz zur europäischen Regulierung. Sobald diese Regelungen etabliert sind, tragen sie wiederum dazu bei, transnationale Austauschprozesse weiter zu intensivieren und den Integrationspfad zu befestigen (vgl. Stone Sweet/Sandholtz 1997: 297ff.).
Andreas Nölke
Liberaler Intergouvernementalismus
Zusammenfassung
Der Begriff des „Liberalen Intergouvernementalismus“ geht — mit dem Liberalismus und dem Realismus — eine zunächst paradox erscheinende Verbindung zweier Traditionslinien der Internationalen Beziehungen ein. Oft wurde der Ansatz, der von Andrew Moravcsik entwickelt wurde, dabei als Reformulierung intergouvernementaler Ansätze begriffen und in Abgrenzung zu „funktionalistischen“ Theorien eher dem „realistischen“ Strang des integrationstheoretischen Denkens zugeordnet. Freilich kann den Arbeiten Moravcsiks, der sich — wie wir sehen werden — der Weiterentwicklung einer liberalen Forschungsagenda verpflichtet sieht, kaum das (neo)realistische Label angeheftet werden. Gleichzeitig zählt der Liberale Intergouvernementalismus jedoch zu den explizit staatszentrierten Ansätzen. Mit dem Realismus teilt er eine grundsätzliche Annahme: Im europäischen Integrationsprozess treten die Staaten nach außen als eine geschlossene Einheit auf. Ihre Regierungen sind die maßgeblichen Brückenköpfe, die zwischen innenpolitischer und internationaler Ebene vermitteln. Andere Akteure spielen — wenn überhaupt — nur eine untergeordnete, jedoch keine entscheidende Rolle. Zu Integrationsfortschritten kommt es also nur dann, wenn die Interessen der dominierenden Nationalstaaten konvergieren und über zwischenstaatliche Verhandlungen gemeinsame Regeln beschlossen werden, die wiederum den nationalstaatlichen Interessen nützen (Hoffmann 1964: 85).1 Im Unterschied zur realistischen Perspektive werden die nationalstaatlichen Interessen im Liberalen Intergouvernementalismus — und genau hier setzt Moravcsiks liberale Forschungsagenda an — nicht in erster Linie durch die Machtverteilung zwischen den Staaten, sondern durch einen innergesellschaftlichen Präferenzbildungsprozess bestimmt (Moravcsik 1997: 513).
Jochen Steinhilber
Neogramscianismus
Zusammenfassung
Der mit dem Binnenmarktprojekt von 1985 ausgelöste europäische Integrationsschub hat das theoretische Interesse an der EU deutlich belebt. Nicht nur sind die traditionellen intergouvernementalistischen und funktionalistischen Integrationstheorien weiterentwickelt worden. Hinzugekommen sind neue theoretische Paradigmen wie der Konstruktivismus, oder Ansätze, die ihre Impulse weniger aus den Internationalen Beziehungen (IB) denn aus der vergleichenden Regierungslehre beziehen. Trotz aller Unterschiede ist diesen Ansätzen eines gemeinsam: Sie sind in der Regel nicht darauf ausgerichtet, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der EU kritisch zu hinterfragen und nach Alternativen zu suchen. Dies jedoch ist das Anliegen eines kritischen Forschungsprogramms, welches die Konzepte des italienischen marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci (1891–1937) für die Analyse der europäischen Integration nutzbar macht. Von entscheidender Bedeutung ist dabei insbesondere seine Politik- und Staatstheorie, ein in marxistischen Arbeiten bis dahin eher vernachlässigtes Feld.
Dorothee Bohle
Der Multi-Level Governance-Ansatz
Zusammenfassung
Der Begriff „Multi-Level Governance“ (MLG) wird in der Integrationsforschung immer dann ins Spiel gebracht, wenn die Besonderheiten oder der sprichwörtliche „sui generis“-Charakter der Europäischen Union (EU) auf den Punkt gebracht werden sollen. Die EU zeichnet sich — vergleicht man sie mit „normalen“ politischen Systemen — durch eine eng verflochtene Mehrebenenstruktur aus: Wie bei einer russischen Puppe sind die unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen verschachtelt und lassen sich in vielen Politikbereichen kaum mehr voneinander trennen. Die supranationale Ebene („Brüssel“) ist z.B. ebenso in beschäftigungspolitische Maßnahmen eingebunden wie die mitgliedstaatliche, die regionale und auch die kommunale Ebene. Somit ist eine große Zahl von Akteuren mehr oder weniger direkt — das schwankt von Politikfeld zu Politikfeld — an den europäischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Weil diese „moderne“, auf breite Mitwirkung angelegte Politik mit dem klassischen Verständnis von „Regierungshandeln“ als einer hierarchisch angelegten staatlichen Steuerung wenig gemein hat, wird hierfür der englische Begriff „Governance“ verwendet (Benz 2004; Kooiman 2002; Mayntz 2004; Pierre 2000).2 Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch (2003a: 15) definieren den Begriff „Regieren“, (engl. „Governance“) sehr umfassend als „den fortwährenden Prozess bewusster Zielbestimmung und Eingriffe zur Gestaltung gesellschaftlicher Zustände“.
Michèle Knodt, Martin Große Hüttmann
Der akteurzentrierte Institutionalismus
Zusammenfassung
Den Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus haben Renate Mayntz und Fritz Scharpf gemeinsam am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung entwickelt. Aufgrund der zentralen Rolle, die der Ansatz den nationalen Regierungen in der Analyse europäischer Politik zuspricht, und aufgrund der Wertschätzung für die Spieltheorie als analytischem Instrumentarium wird der akteurzentrierte Institutionalismus in der Regel in die Tradition,,rationalistischer“ Theoriebildung gestellt, wie sie den Intergouvernementalismus Stanley Hoffmanns (vgl. das Kapitel von Hans-Jürgen Bieling in diesem Band) oder den liberalen Intergouvernementalismus von Andrew Moravcsik (vgl. den Beitrag von Jochen Steinhilber in diesem Band) auszeichnet. Dabei wird allerdings leicht übersehen, dass der akteurzentrierte Institutionalismus auch auf Theoreme zurückgreift, die im Neo-Funktionalismus und im Konstruktivismus eine große Rolle spielen (vgl. die Kapitel von Dieter Wolf und Guido Schwellnus in diesem Band): Internationalen Institutionen werden Auswirkungen auf die Perzeptionen und Präferenzen von Akteuren zugesprochen, und in Verhandlungen wird nicht nur ein interessenbasiertes Aushandeln, sondern darüber hinaus ein „problemlösender“ Interaktionsmodus für möglich gehalten.
Wolfgang Wagner
Historischer Institutionalismus
Zusammenfassung
„We are all institutionalists now“. Mit diesem Satz beginnen Aspinwall und Schneider ihren Überblicksartikel zum „institutionalist turn“ in der Europaforschung (2000: 1). Der historische Institutionalismus ist Bestandteil dieses „Wendepunktes“ und hat seinen Ursprung in der US-amerikanischen vergleichenden Politik- und Systemforschung. Dort forderte man in den 1980er Jahren ein neues Verständnis von Institutionen ein (March/Olsen 1984, 1989). Im Gegensatz zum „alten“ Institutionalismus, der sich auf die Betrachtung formaler Staatsorganisation beschränkte und der Verbindung mit anderen institutionellen Formen keine Beachtung schenkte (Seibel 1997: 363), wurde der „neue“ Institutionalismus als ein Rahmenprogramm skizziert, das die wachsende Bedeutung von Institutionen im politischen und gesellschaftlichen Leben in der Analyse angemessener widerspiegeln sollte. Der Begriff der Institution umfasst folglich neben formalen Institutionen wie bürokratischen Agenturen, Legislativorganen oder Gerichtshöfen informelle Institutionen wie Routineverfahren und gesellschaftliche Praktiken. Institutionen sind auch normativer Natur, indem sie die Präferenzen und Identitäten von Individuen prägen (March/Olsen 1989: 16ff.). Sowohl verhaltenssteuernde als auch verhaltenslegitimierende Strukturen wie Symbolsysteme oder „mentale Landkarten“ („mental maps“) sind somit Bestandteil des weiten, neo-institutionalistischen Institutionenbegriffs.
Melanie Morisse-Schilbach
Europäisierung nationaler Politik
Zusammenfassung
Trotz der stetig wachsenden Bedeutung „Europas“ für die Politik der Mitgliedstaaten entdeckte die Politikwissenschaft das Thema der Europäisierung erst relativ spät. Lange Zeit haben sich Wissenschaftler vor allem mit dem Prozess der europäischen Integration selbst beschäftigt. Sie sind der Frage nachgegangen, warum souveräne Staaten sich immer enger zusammenschließen und supranationale Institutionen schaffen, an die sie einen Teil ihrer Souveränität abgeben, und sie haben versucht, das entstehende politische System auf der europäischen Ebene zu erklären.
Katrin Auel

Konstruktivistische, feministische und interdisziplinäre Impulse

Frontmatter
Sozialkonstruktivismus
Zusammenfassung
Im Anschluss an die „konstruktivistische Wende“ (Checkel 1998), die sich seit Beginn der 1990er Jahre in den Theorien internationaler Beziehungen vollzogen hat, haben konstruktivistische Ansätze in jüngster Zeit auch in die Theorien der europäischen Integration Einzug gehalten (Christiansen et al. 1999; Risse 2004a: 159). Für die Etablierung des Konstruktivismus in der Disziplin der Internationalen Beziehungen hatten zweifelsohne das Ende des Kalten Krieges und die diesbezüglichen Erklärungsdefizite der Mainstream-Theorien (Realismus, Liberalismus, Neoliberaler Institutionalismus) eine Katalysatorfunktion. Hingegen war für die Beschäftigung mit konstruktivistischen Ansätzen in der Integrationsforschung neben dem „spill-over“ aus der Debatte in den Internationalen Beziehungen vor allem relevant, dass der Integrationsprozess nach dem Zusammenbruch des pro-europäischen „permissiven Konsensus“ — besonders deutlich seit den Auseinandersetzungen um den Maastrichter Vertrag — und die daran anschließende Debatte um eine Konstitutionalisierung und Finalität des europäischen Integrationsprojektes politisiert wurde. In der Folge gelangten zentrale konstruktivistische Themen wie die Entstehung, die Wirkung und der Wandel von Identitäten und Normen, die Legitimität supranationalen Regierens und die normativen Fundamente der Europäischen Union zunehmend ins Blickfeld der Integrationsforschung (Diez/Wiener 2004: 9f.).
Guido Schwellnus
Feministische Perspektiven
Zusammenfassung
Spätestens seit Anfang der 1990er Jahre hat sich innerhalb der EU-Forschung ein feministischer Strang entwickelt, der sich theoretisch aus feministischer Sozialtheorie im weitesten Sinne speist und zu dem neben Politologinnen auch Soziologinnen, Juristinnen und zum Teil Ökonominnen beitragen. Im Mittelpunkt stand zunächst die Frage, welche Rolle Frauen und Frauenpolitik im Integrationsprozess spielen (vgl. Biester et al. 1994). Auf diesen in erster Linie sektoralen Ansatz des „adding women in“ bauen neuere Forschungen auf, welche die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen im europäischen Integrationsprozess in einem komplexeren Zusammenhang sehen und die geschlechtliche Natur der supranationalen Polity — neben der Geschlechtsblindheit gängiger Integrationstheorie — kritisieren (vgl. Kreisky et al. 2001). Der feministischen Europaforschung geht es dabei nicht um den Entwurf einer feministischen Großtheorie des Integrationsprozesses, sondern um eine Analyse ansonsten vernachlässigter, gleichwohl geschlechterpolitisch bedeutsamer Forschungsfelder und -fragen sowie um eine Begriffs- und Theoriekritik. Damit verbunden ist eine Kritik am realen Integrationsprozess. Theorie dient somit zur Erklärung des Integrationsprozesses einschließlich des Zustandes des politischen Systems der EU, sie ist aber zugleich kritisch-normative Intervention.
Gabriele Abels
Soziologische Perspektiven: Auf der Suche nach der europäischen (Zivil-)Gesellschaft
Zusammenfassung
Die Beschäftigung mit dem europäischen Integrationsprozess bleibt bislang vornehmlich den Politikwissenschaften überlassen. Europäische Integration manifestiert sich demnach im Wesentlichen als ein auf Dauer gestellter Prozess der politischen Entscheidungsfindung und -durchsetzung im vertraglich-institutionellen Rahmen der Europäischen Union. Über einen Transfer von Zuständigkeiten auf die europäische Ebene sollen in erster Linie politische Steuerungsleistungen erbracht werden. Offen bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz und Tragweite transnationaler Herrschaftsausübung, wenn vorausgesetzt werden darf, dass es sich bei den Konstituenten von Herrschaft nicht lediglich im formal-rechtlichen Sinne um die Regierungen der Mitgliedstaaten handelt, sondern dass darüber hinaus auch gesellschaftliche Strukturen in umfassender Weise von der freigesetzten Transformationsdynamik erfasst werden (Bach 2000: 13).
Hans-Jörg Trenz
Integration durch Recht
Zusammenfassung
Der Titel dieses Buches — „Theorien der europäischen Integration“ — lässt darauf schließen, dass der Leser es mit Integrationstheorien zu tun hat. Dieses Kapitel aber behandelt keine Integrationstheorie. „Integration durch Recht“ („Integration Through Law“ — ITL) zeichnet sich durch Fragmentierung und Heterogenität aus, besitzt kaum gemeinsame oder gar homogene Annahmen, Erwartungen, Reichweiten, Methoden oder Erkenntnisgegenstände und verfügt nicht über eine konsistente Methodologie oder ein kohärentes Verständnis von Prozessen oder Gegenständen. ITL besitzt eine theoretische Reichweite, welche sowohl das kleine Detail als auch die große Erzählung umfasst, und ist daher weniger eine Theorie als eine Bewegung: eine organisierte und konzertierte Anstrengung von Wissenschaftlern, die ein gemeinsames Ziel im Auge haben. Das einigende Erkenntnisinteresse von ITL ist die Untersuchung der Rolle des Rechts und der Rechtsinstitutionen im Prozess der europäischen Integration. Dieses gemeinsame Ziel erlaubt es immerhin, ITL wie eine Theorie zu behandeln.
Ulrich Haltern

Ausblick

Frontmatter
Theoretischer Pluralismus und Integrationsdynamik: Herausforderungen für den „acquis académique“
Zusammenfassung
Die Landschaft integrationstheoretischer Diskussionen ist durch eine hohe Vitalität mit häufigen Umbrüchen („turns“) und durch eine ausgeprägte Vielfalt mit einem beträchtlichen Grad an Unübersichtlichkeit und Fragmentierung gekennzeichnet.1 Dieses Bild unserer Arbeit wird wohl auch in absehbarer Zukunft vorherrschend bleiben.
Wolfgang Wessels
Backmatter
Metadaten
Titel
Theorien der Europäischen Integration
herausgegeben von
Hans-Jürgen Bieling
Marika Lerch
Copyright-Jahr
2005
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-11642-4
Print ISBN
978-3-8100-4066-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-11642-4