Die Suche nach einer „weltweiten Einheitssprache der Rechnungslegung“ ist ein politisches Faktum. Während aber die Harmonisierungsbestrebungen sowohl in Europa mit der IASVerordnung als auch weltweit mit der reziproken Anerkennung und Konvergenz der IFRS und US-GAAP weit gediehen sind, sucht der IASB noch immer nach einem Kanon akzeptierter zugleich theoretisch fundierter Rechnungslegungsregelungen „that are consistent with the same conceptual framework“.
Klassifikationen, wie sie von Linné oder Mendelejew in den Naturwissenschaften entwickelt wurden, schaffen Erkenntnisgewinn, indem durch Einteilung eines Gegenstandsbereichs in Klassen die Übersichtlichkeit und daraus abgeleitet die Deskription und Analyse eben jenes Gegenstandsbereichs erleichtert wird. Die Zusammenführung von Elementen in Gruppen, in denen sie untereinander ähnlicher sind als Elementen anderer Gruppen, führt zur Komplexitätsreduktion und ermöglicht die Identifikation dem Gegenstandsbereich inhärenter, vergangener und aktueller Strukturen sowie die Prädiktion zukünftiger Entwicklungen.
In der internationalen, detaillierten Vergleichen von Rechnungslegungssystemen gewidmeten Literatur erfolgt die Abgrenzung unterschiedlicher Rechnungslegungssysteme gemeinhin über eine Gleichsetzung mit den ihnen zu Grunde liegenden Normensystemen. Eine solche Abgrenzung beschränkt den Vergleich von Rechnungslegungssystemen auf die Erfassung inhaltlicher Unterschiede der Rechnungslegungsnormen. Es setzt zudem bereits ein Systemdenken im Sinne normativer Theorieansätze voraus, denn ein System gilt nach dieser Sichtweise nur dann als gegeben, wenn die Prinzipien und Einzelnormen eines Rechnungslegungssystems als Elemente des Systems in einer durch den Sinn und Zweck der Rechnungslegung bestimmten, widerspruchsfreien Ordnung zueinander stehen.
Die Klassifikationen von Rechnungslegungssystemen, die ein kontinentaleuropäisches Cluster identifizieren und diesem das deutsche und französische Rechnungslegungssystem zurechnen, ziehen zur Begründung der Clusterbildung einhellig das der Privatrechtsvergleichung entliehene Argument heran, wonach kontinentaleuropäische Rechnungslegungssysteme aufgrund der ihnen zugrundeliegenden legalistischen Rechtsordnungen durch eine vornehmlich gesetzliche Regulierung gekennzeichnet sind. Wenngleich die Similarität des deutschen und französischen Rechnungslegungssystems – wie sie aus einem auf der Makroebene angesiedelten (privatrechtlichen) Vergleich hervorgeht – unbestritten gegeben ist, könnten angesichts der in dieser Arbeit identifizierten Unterschiede das deutsche vornehmlich aber das französische Rechnungslegungssystem ebenso als dem anglo-amerikanischen Rechnungslegungsmodell ähnlich eingestuft werden – für das im Folgenden das amerikanische Rechnungslegungssystem Pate steht.
Die Rechnungslegung eines Landes bildet ein soziales System, das durch zahlreiche, komplexe Wechselbeziehungen zwischen den daran beteiligten Akteuren und eine umfassende Verflechtung mit der Systemumwelt charakterisiert ist. Die damit einhergehende Komplexität erschwert einen länderübergreifenden Vergleich. Zahlreiche Rechnungslegungsstudien lösen dieses Problem, indem sie die im Rahmen des Vergleichs betrachteten Rechnungslegungssysteme den ihnen zu Grunde liegenden Normensystemen gleichsetzen. Die Wechselbeziehungen innerhalb eines Rechnungslegungssystems sowie die maßgeblichen Einflussfaktoren, die zur Herausbildung dieser Normensysteme beigetragen haben, werden dabei regelmäßig vernachlässigt. Der holistische Systemansatz ermöglicht dieses Manko zu vermeiden oder zumindest schrittweise zu reduzieren. Durch diese Denkweise lässt sich ein Rechnungslegungssystem als ein Gefüge von (Sub-)Systemen verstehen, das als ein Teilsystem in das Gesellschaftssystem eines Landes eingebettet ist. Die separate Analyse dieser einzelnen Systeme ermöglicht dann die sukzessive Aufdeckung der Systemzusammenhänge, die das Rechnungslegungsverständnis eines Landes bestimmen.
Muriel Schulte
Backmatter
Metadaten
Titel
Systemdenken im deutschen und französischen Handelsbilanzrecht