„Verbraucherforschung wird wichtiger“ – so lautet die Überschrift eines Editorials von Dr. Christian Grugel, Abteilungsleiter im BMELV, erschienen im Mai 2012 im Journal für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Grugel 2012). Die dort ausgeführte Begründung, weshalb dies der Fall ist – und weshalb dies auch so sein sollte – ist immer noch hochaktuell. Erfreulich und berichtenswert ist, dass es zwischenzeitlich eine Reihe von Fortschritten gab, die zu den Zielen einer evidenzbasierten und wissenschaftsassistierten Verbraucherpolitik sowie einer finanziell und institutionell soliden Verbraucherforschung beitragen.

In der Tat scheint das Thema Verbraucherforschung „angekommen“ zu sein: So hat das „Netzwerk Verbraucherforschung“ des BMELV, eine Plattform für den interdisziplinären, verbraucherwissenschaftlichen Austausch, 2012 eine Reihe von Veranstaltungen und Netzwerktreffen durchgeführt, auch in Kooperation mit Universitäten und anderen Verbraucherforschungsnetzwerken. In Planung ist ein solide ausgestattetes Forschungsprogramm des Bundes, dessen thematische Schwerpunkte nicht am grünen Tisch, sondern ganz im Sinne der Partizipation und Nutzerintegration vom Netzwerk der Wissenschaftler selbst gesetzt wurden. In Baden-Württemberg wurde an der Zeppelin Universität ein „Forschungszentrum Verbraucher, Markt, Politik“ als Netzwerkknoten für die Verbraucherforschung des Landes gegründet und vom Verbraucherministerium finanziell und ideell gefördert. Das Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalen hat ein „Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW“, angesiedelt bei der Verbraucherzentrale, auf den Weg gebracht, das Forschung anstößt, institutionell vernetzt und finanziell unterstützt. Die gestiegene Bedeutung der Verbraucherforschung findet sich heute zudem in der Mehrheit der Programme, mit denen die politischen Parteien im Herbst 2013 in den Wahlkampf ziehen. So wird z.B. eine politische Aufwertung der Verbraucherforschung in Form eines Sachverständigenrats für Verbraucherfragen diskutiert. Und nicht zuletzt hat das BMELV erstmalig ein Gutachten zur Lage der Verbraucher in Auftrag gegeben und 2012 veröffentlicht.

Diese erfreulichen Entwicklungen sind keinesfalls selbstverständlich; vielmehr sind sie auf die wachsende politische Bedeutung verbraucherpolitischer Themen, die zunehmende fachliche Anerkennung der Verbraucherforschung sowie die wachsende Sichtbarkeit der Akteure der Verbraucherforschung zurückzuführen. Ebenso wichtig ist der sanfte, aber stete Nachdruck, mit dem sich insbesondere Vertreter des Verbraucherinteresses – allen voran: der Verbraucherzentrale Bundesverband – seit Jahren für die bessere Profilierung und Institutionalisierung von Verbraucherforschung an den Hochschulen in Deutschland einsetzen. Bei allen Erfolgen ist hier sicherlich noch „Luft nach oben“, insbesondere, was geplante Forschungsprogramme für die Verbraucherwissenschaften angeht, die ja bislang den Kern der Forschungsförderung in diesem Gebiet darstellen.

In der vorliegenden Ausgabe des Journals für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit werden die Vorträge des „1. Verbraucherforschungsforums“ vorgestellt, das im Januar 2013 knapp 100 Verbraucherforscher aus ganz Deutschland an der Zeppelin Universität zusammenbrachte. Ziel war, die Grenzen des immer noch in der Verbraucherpolitik vorherrschenden „Informationsparadigma“ zu diskutieren sowie mögliche Alternativen auf den Prüfstand zu stellen. Als besonders erfolgversprechende Alternativen wurden neurowissenschaftliche und verhaltensökonomisch basierte Ansätze identifiziert. Letztere sind insbesondere in dreierlei Hinsicht vielversprechend: erstens, im Bereich der Ausgestaltung von Verbraucherinformation und -kommunikation (framing, anchoring, Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung, gute Verständlichkeit, Einsatz von emotionalen Elementen); zweitens im Gestalten von Wahloptionen durch ein gezieltes Design einer „Architektur der Wahl“ (Defaults, Reduktion der Alternativen, „Editing out“) mit dem Ziel, Heuristiken entgegenzuwirken, die eine optimale Konsumentscheidung verhindern (wie zu frühes Abbrechen der Informationssuche bei folgenreichen Konsumentscheidungen oder Finanzentscheidungen aufgrund der Überkomplexität der Wahl); und drittens im systematischen Entgegenwirken verbreiteter Verhaltenstendenzen („biases“), wie der Tendenz, sich zu überschätzen (Overconfidence), Aufgaben hinauszuschieben (Prokrastination) sowie zukünftigen Nutzen übermäßig stark zu unter- und den Gegenwartsnutzen zu überschätzen (hyperbolische Diskontierung). Besonders relevant für die Anwendung in der Verbraucherpolitik scheint die Idee der „Vereinfachung“ von Information, Kommunikation und des Zugangs zu sein, beispielsweise das Anbieten klarer Wegweiser und vereinfachten Zugangs zu sozial erwünschten Optionen (Sunstein 2013).

Zudem werden künftig auch von den Neurowissenschaften wichtige Impulse für die Verbraucherwissenschaften und die Verbraucherpolitik erwartet. Diese Entwicklung wird unter dem Rubrum „Consumer Neuroscience“ diskutiert und beinhaltet im Kern die systematische Integration neurowissenschaftlicher Methoden, Theorien und Konzepte in die Verbraucherforschung. Um die mit dieser Entwicklung einhergehenden verbraucherpolitischen Chancen und Risiken beurteilen zu können, hat der wissenschaftliche Beirat für Verbraucherpolitik beim BMELV im Juni 2013 ein Fachgespräch zum Thema Consumer Neuroscience initiiert. Behandelt wurden u. a. wirtschaftliche, gesellschaftliche, gesundheitspolitische und rechtliche Themen aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Im Ergebnis wurde das große verbraucherwissenschaftliche und -politische Potenzial der Consumer Neuroscience an vielen Stellen erkennbar. Da zudem deutlich wurde, dass die wissenschaftlichen Arbeiten oft noch unsystematisch und ohne weitere politische Reflektion erfolgen, besteht in diesem Feld zweifelsohne ein erheblicher Forschungs- und Transferbedarf, den es künftig institutionell abzubilden gilt.

Empirische Erfahrungen mit verhaltensökonomisch – und zunehmend auch neurowissenschaftlich-basierten verbraucherpolitischen Instrumenten gibt es international insbesondere im Bereich der Finanzentscheidungen, der gesunden Ernährung und der körperlichen Bewegung sowie im Bereich des nachhaltigen Konsums, insbesondere im Bereich Energienutzungsverhalten, Wahl von Energieanbietern und energieeffizienten Geräten sowie umweltfreundlicher Mobilität. Für die Marketingforschung und -praxis sind diese Überlegungen keinesfalls neu. Neu ist dagegen, dass solche verhaltensbasierten Instrumente systematisch und strategisch für verbraucher-, gesundheits- und nachhaltigkeitspolitische Ziele eingesetzt werden.

Eine Einführung in das Thema „Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik“ sowie eine Übersicht und Würdigung der einzelnen Beiträge findet sich in diesem Heft im Beitrag von Kenning und Reisch. Eine Fortführung dieser Diskussion zwischen Verbraucherforschung, Landes- und Bundespolitik, Verbraucherorganisationen und Wirtschaft ist für den 3./4. April 2014 beim „2. Verbraucherforschungsforum“ der Zeppelin Universität geplant. Wir hoffen, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen in Friedrichshafen willkommen heißen zu dürfen, um mit namhaften Referenten unterschiedlicher Disziplinen „Die Grenzen des rationalen Konsumierens“ zu diskutieren.