Zusammenfassung
Diskursanalysen in der Tradition Michel Foucaults und die am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) entwickelte Öffentlichkeitstheorie sind die beiden zentralen Ansätze, die zur soziologischen Analyse öffentlicher und massenmedialer Kommunikation in Anschlag gebracht werden. Beide Ansätze weisen auf relevante Aspekte gesellschaftlicher Kommunikation hin. Sie werden aber bislang nicht zu verbinden versucht. Dies ist das Anliegen des vorliegenden Artikels: Zunächst wird gezeigt, dass die theoretischen Prämissen beider Ansätze Parallelen aufweisen. Anschließend wird versucht, mittels des Konzepts der „Diskurskoalitionen“ eine theoretische Brücke zwischen Diskursanalyse und WZB-Öffentlichkeitstheorie zu schlagen, und es wird vorgeschlagen, Diskurskoalitionen mittels multipler Korrespondenzanalysen zu rekonstruieren. In der Folge wird die Berichterstattung deutscher Leit-Printmedien über zwei biowissenschaftliche Themen exemplarisch untersucht. Für die beispielhaft analysierten Fälle, die Humangenomforschung und die Stammzellforschung, zeigen sich jeweils plausibel interpretierbare Diskurskoalitionen, die ein unterschiedliches Ausmaß an Diskursmacht zu besitzen scheinen.
Abstract
Two of the most highly developed analytical approaches to public and mass media debates are discourse analyses in the tradition of Michel Foucault and the theory of the public sphere that has been developed at the Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Both approaches emphasize relevant and complementary aspects of societal communication, but so far, there has been no attempt to combine the two. This is the aim of this article: First, it is shown that both approaches are based on similar assumptions. Second, the concept of “discourse coalitions” is employed in order to bridge discourse analyses and the WZB model. Third, I propose to reconstruct discourse coalitions statistically using multiple correspondence analysis. Fourth, two examples will be considered in order to demonstrate discourse coalitions in a concrete mass media debate. In the cases of human genome research and stem cell research, three discourse coalitions can be shown, each having a different weight and therefore, a different discursive “power” in the coverage.
Notes
Bei der Verwendung dieses Konzepts ist auf zweierlei hinzuweisen: Erstens muss erwähnt werden, dass sich das Konzept der „Diskurse“ in Foucaults Sinne von der Verwendung dieses Begriffs bei einigen anderen Autoren unterscheidet, etwa von Jürgen Habermas (vgl. zur Erläuterung und Diskussion dieser Unterschiede z. B. Kerchner 2006; Schrage 1999) oder auch von einigen Arbeiten der Öffentlichkeitssoziologie (z. B. Keller et al. 2001a: bes. 9ff). Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich Foucault in seinen späteren Arbeiten stärker mit „Dispositiven“, mithin heterogenen Konstellationen bzw. „Netzen“ beschäftigt, die umfassender angelegt sind und „Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes“ umfassen (Foucault 1978: 119f.; vgl. auch Jäger 2001b). In den Sozialwissenschaften, v. a. in den einschlägigen empirischen Arbeiten, wird aber dennoch vornehmlich an Foucaults Konzeption von Diskursen angeknüpft (vgl. überblicksweise Bublitz et al. 1999a; Keller et al. 2001b; 2004b).
Ob nun Massenmedien oder Öffentlichkeit ein gesellschaftliches Teilsystem darstellen, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Niklas Luhmann (1995) bspw. interpretiert Massenmedien als gesellschaftliches Teilsystem und verwendete den Öffentlichkeitsbegriff nur in seinem Frühwerk einige Male an exponierterer Stelle (Luhmann, 1971). Gerhards/Neidhardt (1991) dagegen billigen der Öffentlichkeit den Status eines Teilsystems zu und ordnen Massenmedien diesem Teilsystem unter.
Die Annahme, dass massenmediale Kommunikation als Konkurrenz um die Platzierung von Themen und Akteuren und um die Deutung von Sachverhalten zu verstehen ist, findet sich auch in einer Reihe weiterer sozialwissenschaftlicher Arbeiten (z. B. bei Berkovitz 1992; Cottle 1998; Hilgartner/Bosk 1988; McQuail 2000: 284; Ten Eyck 1999). Ähnlich beschreibt letztlich sogar Jürgen Habermas, obschon aus einer anderen theoretischen Tradition kommend und aufgrund seiner normativen Position mit kritischem Unterton, die Charakteristika massenmedialer Berichterstattung. Diese gilt ihm als „vermachtete Öffentlichkeit“,in der herrschaftsfreie und auf Verständigung zielende Diskurse nicht möglich sind, da die Akteure dort nur darauf zielen, das Publikum zu überzeugen (Habermas 1992: 438f). Zu der Diagnose einer Konkurrenz um massenmediale Repräsentanz passt, dass unterschiedliche gesellschaftliche Akteure in den vergangenen Jahren ihre Bemühungen um Öffentlichkeitsarbeit und v. a. um Medienkontakte und -repräsentanz verstärkt haben. Dies lässt sich etwa für die Politik (z. B. Tenscher 1999), die Wirtschaft (z. B. Kunczik 1999), die Wissenschaft (z. B. Neidhardt 1994a: 43f) und für NGOs (Baringhorst 1998) beobachten.
Außerdem soll das Konzept Hajer zufolge – auch dies macht die Nähe zu Foucault deutlich, wird hier jedoch nicht im Mittelpunkt stehen – dazu nutzbar sein, die Wirkungen dieser Formationen außerhalb von Diskursen, etwa in Form von Institutionen zu beschreiben („discourse institutionalization“, vgl. Hajer 1993: 46).
Es gibt auch andere, nicht aus der Theorietradition Foucaults stammende Versuche, unterschiedliche Charakteristika von öffentlichen oder massenmedialen Debatten zu verknüpfen. So haben Gamson und Modigliani „interpretative packages“ beschrieben, d. h. inhaltliche Syndrome, die neben Deutungen auch Bewertungen eines Themas enthalten, allerdings die Akteurs-Dimension nicht inkludieren (Gamson/Modigliani 1989: 2ff.). Kohring und Matthes haben die Berichterstattung über Biotechnologie analysiert und dabei mittels Clusteranalyse Akteure und Deutungen in „Frames“ zusammengefasst (Kohring/Matthes 2002). Dieses Vorgehen ähnelt dem hier vorgeschlagenen Vorgehen in einigen Punkten, sorgt aber durch die Verwendung des „Frame“-Begriffs für terminologische Verwirrung, weil dieser Begriff in der Literatur eher reinen Deutungsrahmen und -mustern vorbehalten ist und Akteure in der Regel nicht einschließt (vgl. überblicksweise z. B. Entman 1993; Scheufele 2003).
Alternative Verfahren wie die multiple Diskriminanzanalyse oder log-lineare Analysen weisen diese Vorteile nicht oder nur z. T. auf. Dennoch wären sie möglicherweise sinnvolle Ergänzungen der vorgelegten Analyse. Der Einsatz log-linearer Analysen z. B. würde auch Interaktionen höherer Ordnung zwischen den untersuchten Variablen aufzeigen.
(Multiple) Korrespondenzanalysen wurden bislang nicht zur Analyse massenmedialer Debatten eingesetzt. Sie fanden sich aber u. a. in Studien zur Beschreibung wissenschaftlicher und universitärer Felder (Bourdieu 1988), bei der Darstellung semantischer Verteilungen zur Beschreibung von Weinen (Diaz-Bone/Hahn 2007), zur Beschreibung der sozialstrukturellen und kulturellen Ordnung von Jugendszenen (Otte 2007: bes. 170), der Geschlechtersegregation im Arbeitsmarkt (Chang 2000) oder der Positionierung von Bewegungsakteuren hinsichtlich der WTO-Politik (Gerhards 1993: bes. 190).
Im Team wurden Reliabilitätstests im Inter-Coder- und im Intra-Coder-Vergleich durchgeführt. Die Reliabilität der hier berichteten Variablen (berechnet als Mittelwert der jeweils paarweisen Übereinstimmungen zwischen zwei Codierern) bewegte sich zwischen 0,7 und 1,0 und damit im zufriedenstellenden, meist sogar guten oder sehr guten Bereich (für Referenzwerte vgl. Früh 1998: 170).
Das rechnerische Maximum der Achsenzahl beträgt hier 26 (Anzahl der Kategorien-Anzahl der Variablen, also 29-3=26).
Die Diskriminanzmaße der Variablen auf den beiden Achsen geben das auch deutlich wieder (Akteursvariable auf der x-Achse 0,613 bzw. auf der y-Achse 0,555; Bewertungsvariable 0,679 bzw. 0,641; Deutungsvariable 0,236 bzw. 0,222). Zwar lässt sich dennoch eine Verteilung der Deutungen erkennen, die von eher verwertungsorientierten (in den beiden rechten Quadranten) über mit Regulierungen befasste bis hin zu auf ethische und soziale Probleme hinweisenden Deutungen (in den linken Quadranten) verläuft. Aber die vergleichsweise schwache Streuung der Deutungen weist darauf hin, dass die Deutungen möglicherweise oft von unterschiedlichen Akteuren und zur Untermauerung unterschiedlicher Positionierungen benutzt werden. Das entspricht der Literatur zu Deutungsrahmen bzw. Frames, in der immer wieder betont wird, dass Deutungsrahmen zwar eng mit bestimmten Positionierungen verbunden sein können, aber nicht müssen (vgl. z. B. Snow/Benford 1988; Snow et al. 1986).
An anderer Stelle wurden, vornehmlich auf Basis qualitativer Auswertungen, vier Diskurskoalitionen in der Berichterstattung über Humangenomforschung differenziert. Diese ähnelten den hier vorgestellten Koalitionen im Wesentlichen. Es wurde dort aber nicht nur, wie im vorliegenden Artikel, eine kritische Diskurskoalition unterschieden, sondern zwei: eine „counter-scientific coalition“ und eine „fundamental critique coalition“ (vgl. O'Mahony/Schäfer 2005).
Die Diskriminanzmaße der Variablen unterscheiden sich entsprechend auch nicht so stark wie bei der Humangenomforschung (Akteursvariable auf der x-Achse 0,663 bzw. auf der y-Achse 0,597; Bewertungsvariable 0,665 bzw. 0,643, Deutungsvariable 0,312 bzw. 0,238).
Für den Fall der Stammzellforschung läge es näher als bei der Humangenomforschung, eine vierte Diskurskoalition auszumachen, die in der Mitte des Plots zu finden ist und die man bspw. mit „Ambivalenz und Unsicherheit gegenüber der Forschung“ überschreiben könnte. Ihr zuzurechnen wären ambivalente Aussagen, die politische Exekutive, politisch eingesetzte Ethikräte wie der Nationale Ethikrat oder die Bundestags-Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ sowie Deutungen, die auf die (Einhaltung der) normativen Grundlagen der Wissenschaft sowie auf die gesellschaftliche Partizipation bei der Entscheidung über die Entwicklung der Wissenschaft eingehen. Nahe liegen auch wissenschaftliche Faktenbehauptungen, die bei der Stammzellforschung durchaus nicht immer ohne weiteres klar zu bewerten waren (wie die Frage, wie groß das künftige medizinische Potenzial embryonaler im Vergleich zu adulten Stammzellen einzuschätzen ist).
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* Ich danke Rainer Diaz-Bone, Silke Hans und Anke Offerhaus für hilfreiche Kommentare zu diesem Artikel und Katharina Rasch für sprachliche Korrekturen.
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Schäfer, M. Diskurskoalitionen in den Massenmedien. Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 60, 368–398 (2008). https://doi.org/10.1007/s11577-008-0020-y
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