Zusammenfassung
Eine internationale Gegenüberstellung von Arbeitslosenquoten suggeriert eine schlechte Funktionsfähigkeit des deutschen Arbeitsmarktes. Der Beitrag versucht durch einen Vergleich Deutschlands, der Niederlande, Frankreichs, Dänemarks, Großbritanniens sowie der USA zu zeigen, dass sich bei einer zusätzlichen Berücksichtigung alternativer Nicht-Erwerbstätigkeitsformen wie der Erwerbsunfähigkeit, dem Ruhestand oder aber der Nicht-Teilnahme am Arbeitsmarkt jedoch ein differenzierteres Bild ergibt. Zu diesem Zweck werden die Daten des “European Social Surveys” (ESS) und der Befragung „Citizenship, Involvement and Democracy“ (CID) aus den Jahren 2004 bzw. 2005 analysiert. Während in Deutschland der Status der Arbeitslosigkeit eine herausragende Rolle spielt, werden hinsichtlich demographischer Faktoren und des Gesundheitszustandes vergleichbare Personen in den übrigen Ländern in erheblich größerem Ausmaß als erwerbsunfähig eingestuft. Insgesamt unterstreichen die gezeigten Ergebnisse, dass sich eine Einschätzung und ein internationaler Vergleich der Arbeitsmarktperformance im Allgemeinen und der Wirksamkeit von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen im Besonderen nicht allein auf Erwerbs- und Arbeitslosenquoten beschränken sollten. Die Berücksichtigung alternativer Nicht-Erwerbstätigkeitsformen kann unser Wissen über die zum Teil deutlich unterschiedliche Funktionsweise von Arbeitsmärkten bereichern.
Abstract
An international comparison of unemployment rates suggests a poor performance of the German labour market. Based on comparative analyses for Germany, the Netherlands, France, Denmark, the UK and the United States the paper tries to show that a more sophisticated picture can be drawn by taking additional forms of non-employment (e.g. disability, retirement or out of labour force) into account. For this purpose data from the “European Social Survey” (ESS) and the survey “Citizenship, Involvement and Democracy” collected in 2004 and 2005 is analysed. While “unemployment” plays a dominant role in Germany, people with comparable demographic characteristics and similar health status are increasingly classified as “permanently disabled” in the other countries. The results stress that an international comparison of labour market performance and especially a comparison of the effectiveness of labour market and social policy reforms should not only rely on employment and unemployment rates. Taking alternative forms of non-employment into account can increase our knowledge and understanding of functional differences of labour markets in Europe and the United States.
Notes
Eine detaillierte Darstellung alleine der unterschiedlichen rechtlichen Ausgestaltung der Finanzierung oder des Zugangs zu unterschiedlichen Sozialleistungen jenseits von Arbeitslosigkeit würde den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes bei weitem sprengen. Einen zusammenfassenden Überblick über unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen, Leistungshöhen und Leistungsdauern der wichtigsten Sozialleistungen in Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, und Dänemark findet sich in Konle-Seidl und Lang: 51 ff. (2006).
Detaillierte Informationen finden sich auf der Homepage: http://www.europeansocialsurvey.com/
Detaillierte Informationen finden sich auf der Homepage: http://www.uscidsurvey.org/
Die Schätzung multinomialer Logistischer Regression (MLR) basiert auf der Annahme der ‚Independence of Irrelevant Alternatives’ (IIA) (vgl. z. B. Wooldridge 2002: 500ff.). In der Forschungspraxis wird es in der Regel schwierig sein, die vollkommene Unabhängigkeit der Entscheidungsalternativen anzunehmen. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass in unserem Modell die unterschiedlichen Formen der Nicht-Erwerbstätigkeit für die handelnden Individuen in den einzelnen Ländern hinreichend unterschiedlich sind, so dass die Schätzung einer multinomialen logistischen Regression gerechtfertigt erscheint (zur Relevanz und Problematik der Überprüfung der IIA-Annahme vgl. Fry/Harris 1998 und Cheng/Long 2007).
Lediglich in den Fällen, in denen die Befragungspersonen “Hausarbeit” als Haupttätigkeit in den letzten sieben Tagen angegeben hatten, wurde überprüft, ob zusätzlich zu dieser Angabe auch von einer Erwerbstätigkeit berichtet worden ist. In solchen Fällen wurden die Befragungspersonen als “erwerbstätig” gewertet.
Zwar kann vermutet werden, dass die subjektive Zuordnung zu einem Nicht-Erwerbsstatus insofern durchaus kulturell bedingt sein könnte, da bei gleichzeitig eingenommenen Alternativrollen möglicherweise soziale Erwünschtheit das Antwortverhalten beeinflusst. Gleichzeitig dürfte jedoch der internationale Vergleich der subjektiven Einordnung des eigenen Haupt-Aktivitätsstatus weniger stark durch kulturspezifische Antwortmuster determiniert werden, als dies zum Beispiel für das subjektive Wohlbefinden (vgl. Jürges 2007), das Ausmaß der Erwerbsunfähigkeit (Kapteyn et al. 2007) oder auch die gefühlte Beschäftigungsunsicherheit (vgl. Erlinghagen 2008) der Fall ist.
Der internationale Vergleich von Bildungsabschlüssen ist problematisch. Im ESS ist aus diesem Grund ein vereinheitlicher Bildungsindikator implementiert, der sich an der ISCED-97-Klassifikation orientiert (OECD 1999). In unserem Fall liegt ein “geringeres Bildungsniveau” vor, wenn die Befragten in die ISCED-Kategorien 0 bis 2 fallen. In allen übrigen Fällen gehen wir von einem höheren Bildungsniveau aus. Die CID-Daten erlauben keine einfache ISCED-Zuordnung, weshalb wir für die USA von einem geringeren Bildungsniveau ausgehen, wenn als höchster Bildungsabschluss maximal „some college, no four-year-degree“ angegeben wird.
Eine RRR von “1“ bedeutet identische Risikorelationen, Werte größer „1“ bedeuten vergrößerte und Werte kleiner ‚1’ verringerte Risikorelationen. Zur Vereinfachung der graphischen Darstellung sind die RRR zwischen 0 und 1 als negative Kehrwerte dargestellt ((1/RRR)*-1). Die detaillierten Schätzergebnisse finden sich in Tabelle A1 bis A3 im Anhang.
Die Kontrolle sozialstruktureller Determinanten scheinen die in der Deskription deutlich werdenden Unterschiede sogar noch zu vergrößern. Berechnet man bspw. auf Basis der Werte aus Abbildung 4 die RRR der Erwerbsunfähigkeit gegenüber Arbeitslosigkeit im Vergleich von Deutschland und Großbritannien, so ergibt sich: RRR(unkontrolliert) = (8,2/6,9) / (2,7/12,5) = 5,5.
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*Die Autoren bedanken sich bei Matthias Knuth, Karsten Hank, einem anonymen Gutachter sowie den Herausgebern für wertvolle Kritik und Anmerkungen.
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Erlinghagen, M., Zink, L. Arbeitslos oder erwerbsunfähig?. Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 60, 579–608 (2008). https://doi.org/10.1007/s11577-008-0028-3
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