Berlin, 22. März 2002. Bundesratsgebäude. Es steht die Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz an. Das Land Rheinland-Pfalz hat eine Abstimmung durch Aufruf der Länder beantragt; die Stimmführer der Länder müssen also ihr Votum für oder gegen das von der rot-grünen Bundesregierung eingebrachte Gesetz mit „Ja“ oder „Nein“ zu Protokoll geben. Bundesratspräsident Klaus Wowereit lässt die Länder in der Reihenfolge des Alphabets aufrufen. Brandenburg ist an der Reihe. Sozialminister Alwin Ziel ruft „Ja“, Innenminister Jörg Schönbohm setzt mit einem schnellen „Nein“ hinterher. Unruhe entsteht. Wowereit weist darauf hin, dass die Stimmen eines Landes einheitlich abzugeben seien und nimmt dann ein „Ja“ von Regierungschef Manfred Stolpe zu Protokoll. Hessens Ministerpräsident Roland Koch protestiert lautstark, und wenige Minuten später muss die Sitzung unterbrochen werden.
Zusammenfassung
In diesem Beitrag untersuchen wir das Abstimmungsverhalten der Länder bei namentlichen Abstimmungen im Bundesrat im Zeitraum von der deutschen Wiedervereinigung 1990 bis zum Ende der Regierung Gerhard Schröders 2005. Wir gehen der Frage nach, ob und wenn ja, wann und in welchem Ausmaß der Bundesrat parteipolitisiert ist. Analytisch geht es um die Frage, wie ein durch originär sachpolitische Interessen motiviertes Verhalten von einem solchen unterschieden werden kann, das sich ausschließlich am strategischen Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen orientiert. Wir entwickeln dazu eine Analysemethode, mit welcher der Zusammenhang zwischen sachpolitischen Länder- respektive Parteiinteressen und parteipolitischer Motivation, also etwa dem Druck, der durch die Parteilager ausgeübt wird, aufgelöst werden kann.
Abstract
The article analyzes the roll call voting behavior of German Länder governments in the Bundesrat from 1990 to 2005. We examine if, when, and to what extent the German Bundesrat is dominated by federal party politics rather than by an appropriate conflict of policy interest between states and state governments. We develop and apply a method to separate the effect of policy preferences and of parties’ politics on the voting behavior of Länder governments.
Notes
Die uneinheitliche Stimmabgabe der Minister Ziel (SPD) und Schönbohm (CDU) war von letzterem in der vorangegangenen Debatte ebenso angekündigt worden, wie die Erregung der Ministerpräsidenten Müller und Koch (beide CDU) inszeniert war (Knaup et al. 2002, S. 22).
Nota bene: Die Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im März 2002 stellt die Ausnahme dar.
Quantitativ exakt beziffern können wir die Differenz zwischen ein- und mehrdimensionalen Modellen nicht, da bereits die Schätzung eines zweidimensionalen Modells mit Parteidruck aufgrund der hohen Parameterzahl nicht möglich ist.
Natürlich ist vorstellbar, dass auch gemischte Landesregierungen dem Druck der Bundesparteien ausgesetzt sind; Enthaltungen könnten ein Indiz dafür sein. Wir argumentieren hier – und können auch nur nachweisen – dass R- und O-Länderregierungen einem vergleichsweise höheren Parteidruck ausgesetzt sind. Unsere Analyse unterschätzt also höchstens den Einfluss der Bundespolitik.
Nach Auskunft des Leiters des Arbeitsbereichs „Parlamentsdienst, Parlamentsrecht“, Ministerialrat Dr. Gabriel Krieger (persönliches Gespräch, 25. April 2008), gibt es im Durchschnitt pro Plenarsitzung 30 bis 100 Tagesordnungspunkte, die ihrerseits oft in mehrere Unterpunkte unterteilt sind. Obwohl es für unstrittige Vorlagen Sammelabstimmungen gibt, ist es nicht untypisch, dass in einer Plenarsitzung 100 und mehr Abstimmungen getätigt werden müssen. Statistiken werden aber nicht geführt.
Über Vorlagen, die eine mögliche Grundgesetzänderung oder die Wahl des Bundesratspräsidenten betreffen, wird nach ständiger Praxis ebenfalls und ohne formalen Antrag namentlich abgestimmt.
Zur Abwägung und zum Umgang mit derartigen Verzerrungen s. Thiem (2007).
Für eine ähnliche Argumentation bezüglich unterschiedlicher Motivationen namentlicher Abstimmungen im Europäischen Parlament s. Thiem (2009).
In Übereinstimmung mit der internationalen Literatur (z. B. Clinton et al. 2004; Poole 2005) zur Analyse von Roll-call-Votes analysieren wir die Vollerhebungsdaten dieser Abstimmungen, als wären sie von einer hypothetischen Superpopulation von namentlichen Abstimmungen gezogen worden (Broscheid u. Gschwend 2005).
Die Stimmenenthaltung wird de facto als Ablehnung gewertet, sodass wir zwischen Ablehnung und Enthaltung nicht unterscheiden müssen.
Dies ist eine übliche Annahme bei räumlichen Modellen (Ordeshook 1986, S. 25). Die Unterstellung alternativer Distanzfunktionen hat Implikationen für die Existenz von Gleichgewichtslösungen in mehrdimensionalen Politikräumen (Humphreys u. Laver 2009) und die Risikoeinstellung (z. B. Shikano u. Behnke 2009). Beides ist im vorliegenden Modell nicht relevant.
WinBUGS ist frei herunterzuladen unter http://www.mrc-bsu.cam.ac.uk/bugs/winbugs/contents.shtml, R unter http://www.r-project.org. Replikationsdaten und Replikationssyntax für sämtliche Analysen werden auf der Homepage der Autoren sowie auf Anfrage zur Verfügung gestellt.
Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass die Prognoseleistung allein keinen Rechtfertigungsgrund für ein Modell liefert. So lässt sich im vorliegenden Fall das Abstimmungsverhalten eines Landes bereits gut mit der Zugehörigkeit zum Regierungs- bzw. Oppositionslager „erklären“, und das einfache Modell ohne Parteidruck hat ebenfalls eine hohe Prognosekraft von 88 %. Ein Argument für das Modell mit Parteidruck ergibt sich erst aus dem Umstand, dass wir damit partei- und sachpolitische Determinanten des Abstimmungsverhaltens separieren können und die erhaltenen Ergebnisse plausibel sind.
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Bräuninger, T., Gschwend, T. & Shikano, S. Sachpolitik oder Parteipolitik?. Polit Vierteljahresschr 51, 223–249 (2010). https://doi.org/10.1007/s11615-010-0011-2
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