1 Einleitung

Politik moderner Demokratien findet in Gesellschaften statt, die sich aufgrund sozioökonomischer Prozesse wie der Individualisierung, Tertiärisierung und Alterung grundlegend verändern. Von diesen Veränderungen sind auch die sozialen Verhaltensregeln, d. h. soziale Normen, betroffen, die zum einen das Zusammenleben in der Gesellschaft regulieren und zum anderen auch auf die Beteiligung der Bürger an der Politik einwirken (Coleman 1990; Elster 1989). Soziale Normen sind gesellschaftliche Verhaltensregeln, die einer definierten Gruppe von Individuen in einem gegebenen Kontext eine bestimmte Handlung vorgeben. Unter ihnen findet man die Wahlnorm „Du sollst wählen“, die eine große Bedeutung für die Stabilität moderner Demokratien hat: Wahlen legitimieren das politische System, kontrollieren politische Eliten und aggregieren politische Präferenzen von Bürgern.

Aus politikwissenschaftlicher Sicht kommt der Wahlnorm eine enorme Bedeutung zu, weil die Wahlbeteiligung aus einer engen Rational-choice-Perspektive heraus allein nicht erklärt werden kann. Gemäß des Paradox of Voting gehen Bürger zur Wahl, obwohl diese Handlung Kosten verursacht und keinen direkten materiellen Nutzen bringt, weil die Chance annähernd null beträgt, dass die eigene Wahlentscheidung das Ergebnis beeinflusst. Aus Sicht der Rational-choice-Theorie kann die Wahlbeteiligung nur dann mithilfe eines Kosten-Nutzen-Kalküls erklärt werden, wenn man der Gleichung eine zusätzliche Komponente, den d-term (d für duty), hinzufügt, für den die Wahlnorm eine wichtige Rolle spielt (Aldrich 1993; Blais 2000; Dowding 2005; Riker u. Ordeshook 1968).

Wie kann erklärt werden, in welchem Maße ein Individuum die Wahlnorm perzipiert? Welchen Einfluss haben Charakteristika des Individuums und Eigenschaften des Kontextes? Untersucht wird hier nicht das Verbindungsglied zwischen sozialer Norm und tatsächlichem Handeln, das in anderen Studien bereits näher beleuchtet worden ist (z. B. Blais 2000), sondern es wird einen Kausalschritt vorher angesetzt, indem die Analyse auf die Erklärungsfaktoren der individuell wahrgenommenen Wahlnorm beschränkt wird (vgl. Majeski 1990). Für diese Analyse folge ich Logiken des relativen Modellvergleichs, d. h. es werden verschiedene Modelle gegeneinander getestet, die sich aus Kombinationen von vier theoretischen Perspektiven ableiten lassen. Weiterhin versuche ich, die Komplexität von Kausalpfaden durch die Analyse direkter und indirekter Pfade empirisch zu klären. Dazu mache ich Gebrauch a) von multiplen Regressionsmodellen, um das relativ beste Modell zu identifizieren, und b) von einem Pfadmodell, um die kausalen Pfade dieses Modells besser zu verstehen. Als Daten verwende ich eine internationale Umfrage, den European Social Survey 2002/3, der 21 europäische Staaten umfasst. Die Analyse bezieht den internationalen Vergleich mit ein, um eine weitere Ebene der Varianz zu nutzen, nämlich die der politischen Systeme und politisch-kulturellen Kontexte.

Abschnitt 2 umfasst die theoretische Diskussion. Abschnitt 3 beschreibt die Daten, Methoden und Operationalisierungen. In Abschn. 4 werden die Schätzungen und Interpretation der multiplen Regressionen der Pfadmodelle präsentiert. Abschnitt 5 fasst die Resultate zusammen und diskutiert deren theoretische Implikationen.

2 Theoretische Diskussion

Die Evolution und soziale Einbettung von Normen gehören seit langem zu den grundsätzlichen Erkenntnisinteressen der politischen Soziologie und anderer Disziplinen. An dieser Stelle soll keine Übersicht über die umfangreiche Literatur gegeben werden, in der soziale Normen aus soziologischer, ökonomischer, psychologischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive diskutiert worden sind. Interessierte Leserinnen und Leser seien dafür auf andere Überblicksdarstellungen verwiesen (Hechter u. Opp 2001; Opp 2006). Im Folgenden werden nach einer Definition der Wahlnorm vier Theorieperspektiven dargestellt, die zur Erklärung der subjektiven Wahrnehmung einer Norm herangezogen werden können. Im Anschluss wird diskutiert, wie diese vier Perspektiven miteinander kombiniert und die resultierenden Modelle gegeneinander getestet werden können.

2.1 Definitionen

Innerhalb der Definitionen sozialer Normen gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Varianten. Einige Autoren, wie zum Beispiel Coleman (1990) oder Axelrod (1986), definieren Normen über regelmäßige Handlungen, die unternommen oder unterlassen werden sollen, und die damit verbundenen Sanktionen. Ähnlich umschreibt Popitz (2006) Normen als soziale Verhaltensforderungen, die durch externe Sanktionen gesichert sind (vgl. dazu auch Maurer 2003). Ob Individuen diese Norm nur befolgen oder sie verinnerlicht haben, ist aus dieser Sicht nachrangig. Zentral ist eine zu beobachtende Regelmäßigkeit der Verhaltensweise.

Andere Autoren dagegen (z. B. Majeski 1990) sehen Normen eher als internalisierte Überzeugungen an, die auch zu Handlungen führen, aber deren Entstehung sich im Bewusstsein der Individuen gründet. Aus dieser Perspektive führt die Nichteinhaltung einer Norm zu Gefühlen von Scham oder Schuld. In ökonomischer Diktion kann man auch von psychischen Kosten sprechen, die bei einer Nichteinhaltung entstehen (Eger u. Weise 1990, S. 74).

Hinsichtlich der Wahlnorm stellt sich die Frage, inwieweit diese wirklich internalisiert ist, sodass es auch ohne eine dritte, sanktionierende Person zu inneren Sanktionen kommen kann. Blais (2000, S. 93) beschreibt die Wahlnorm als eine internalisierte persönliche Norm, die auf der Überzeugung beruht, dass Nicht-Wählen in einer Demokratie falsch ist. Eine Nichtbefolgung der Norm „Du sollst wählen“ führe gemäß Blais zu einem Gefühl von Scham und Schuld.

Auf die Wahlnorm sind sicherlich beide Definitionen anwendbar; doch wie im Teil 3.3 gezeigt wird, muss das Ausmaß der Internalisierung der Wahlnorm aufgrund der Natur der empirischen Messung hier vernachlässigt werden. Stattdessen stellt der nächste Abschnitt die Wahlnorm als eine gesellschaftlich konstruierte und sanktionierte Verhaltensweise gemäß der ersten Definitionssicht dar, für die folgende unstrittige Kriterien festgehalten werden können (vgl. Opp 2006):

  • Es gibt eine Handlungsweise (focal action nach Coleman), die bestimmten Individualakteuren (target actors nach Coleman) vorschreibt, wie sie sich in bestimmten Kontexten zu verhalten haben.

  • Diese Handlungsweise kann moralisch formuliert werden: Du sollst… (oughtness).

  • Diese Vorstellung wird von einer Gruppe von Individuen geteilt, die sozial miteinander interagieren (deswegen „soziale“Footnote 1 Normen).

  • Es kann mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu Sanktionen kommen. Das Individuum hat immer die Wahl, mit seinem Handeln der Norm zu entsprechen oder bei Nichteinhaltung Kosten materieller, psychischer und sozialer Art auf sich zu nehmen.Footnote 2

Angewandt auf die Wahlnorm beinhalten diese Definitionskriterien, dass erstens Wahlberechtigte bei jeder Wahl wählen sollen und zweitens bei einer Nichtbefolgung mit Sanktionen zu rechnen haben, die (non-)verbaler oder in Ländern mit Wahlpflicht materieller Natur sind.

Die Wahlbeteiligung stellt in den meisten europäischen Demokratien ein Recht dar, d. h. eine Nicht-Befolgung wird nicht staatlich geahndet. Trotzdem wird in bestehenden Studien argumentiert, die Verhaltensvorschrift Wählen zu gehen stelle eine soziale Norm dar, deren Nichtbefolgung zu informellen Sanktionen führen kann: verbal (z. B. „Du bist nicht zur Wahl gegangen?“) oder intrinsisch durch die Antizipation dessen, was andere über einen sagen könnten (Brennan u. Pettit 2004). Im Gegensatz dazu besteht in einigen europäischen Demokratien eine Wahlpflicht (Volljährige mit kleinen Einschränkungen), die stark (z. B. Belgien, Luxemburg) oder schwach (z. B. Italien) geahndet wird. In diesen Kontexten können die Sanktionen nicht nur verbal, sondern auch staatlich sanktionierter Natur sein (z. B. in Form einer Geldbuße).

2.2 Vier Theorieperspektiven

Zur Erklärung der individuellen Perzeption der Wahlnorm kann man vier theoretische Sichtweisen aus der Literatur ableiten, die unterschiedliche, aber komplementäre kausale Zusammenhänge für die Wahrnehmung der Wahlnorm postulieren.

2.2.1 Soziale Integration (Perspektive 1)

Je stärker ein Individuum in einer demokratischen Gesellschaft integriert ist, d. h. je stärker es im Vergleich zu anderen Individuen in die Regeln, Netzwerke und Werte der Majoritätsgruppe eingegliedert ist, desto eher befürwortet es die soziale Norm der Wahl. Die Stellung eines Individuums gegenüber anderen Individuen und seine Position in der Gesellschaft sind die Hauptmerkmale dieser Perspektive der sozialen Integration. Man kann entsprechend zwischen Mechanismen des sozioökonomischen Status, der sozialen Netzwerke und der Traditionalität der Lebenswelt unterscheiden.

Je höher der sozioökonomische Status einer Person ist, desto angesehener und wirtschaftlich integrierter ist jene. Je stärker jemand sich als Teil der Gesellschaft in der wirtschaftlichen Sphäre sieht, desto eher ist jener bereit, die sozialen Normen der Gesellschaft mitzutragen. Jemand, der sich wirtschaftlich ausgestoßen sieht oder am Rand der Gesellschaft steht, hat wenig Interesse an den Normen der Gesellschaft, in der jener selbst schlechter als viele andere gestellt ist. Diese Erwartung ist nicht unstrittig. Je höher der sozioökonomische Status einer Person ist, desto mehr Ressourcen in Form von Geld, Prestige und Fähigkeiten besitzt jene wahrscheinlich. Somit ist sie auch weniger abhängig von der Stabilität dieser Gesellschaft. Hinzu kommt die mit steigendem Status sinkende Sanktionswahrscheinlichkeit durch andere Individuen. Je höher der Status ist, desto weniger haben Individuen Sanktionen durch andere zu befürchten (Coleman 1990, S. 286–287). Beispielsweise sollte eine einflussreiche Geschäftsfrau keine verbalen Sanktionen bezüglich ihrer Nicht-Wahlbeteiligung fürchten, weil ihre materielle Abhängigkeit von sozialen Netzwerken geringer als bei anderen Menschen sein dürfte.

Je stärker ein Individuum in soziale Netzwerke eingebunden ist, desto höher ist dessen soziale Gratifikation bei Einhaltung einer gesellschaftlichen Norm, wenn sie in den Netzwerken geteilt wird, und desto höher sind die Kosten bei Sanktionen. Wichtig ist also die Beziehung zu anderen Individuen, die sich entsprechend oder entgegen einer sozialen Norm verhalten (Ostrom 2000, S. 140). Je mehr Personen jemand kennt, die dessen Meinung nach Wählen gehen, desto eher sollte jener diese Norm befolgen. Als Idee liegt dem zugrunde, dass ein Individuum Kooperation (Befolgung der Norm) durch Interaktionen mit anderen lernt. Je häufiger Interaktionen innerhalb der Gruppe stattfinden, die die Wahlnorm einhält, umso mehr steigt die Bereitschaft, die Norm zu befolgen (Geys 2006; Grossman u. Helpman 2001). Umgekehrt bedeutet das, dass Individuen mit viel Kontakt zu anderen Netzwerken, in denen die soziale Norm schwach ausgeprägt ist, die Norm weniger unterstützen (Coleman 1990, S. 286–287). Sehr ähnlich argumentieren allgemein auch Sozialpsychologen, die Netzwerken und Normen hohe Bedeutung für individuelles Handeln zuweisen (Ajzen u. Fishbein 1980; Fishbein u. Ajzen 1975). Noch allgemeiner postulieren Wissenschaftler aus der Sozialkapitalforschung, dass in Netzwerken, die sich durch hohes Sozialkapital auszeichnen, die Durchsetzungskraft von Normen größer ist, weil das Niveau von reziprokem Austausch und gemeinsamen Werten höher ist (Portes 1998, S. 5).

Je traditioneller die soziale Lebenswelt ist, desto mehr Sanktionen hat ein Individuum bei Nicht-Befolgung einer Norm zu erwarten. Mit „Lebenswelt“ ist hier die Summe der sozialen Erfahrungen des Individuums in Vergangenheit und Gegenwart gemeint. „Traditionell“ bezeichnet in diesem Zusammenhang das Ausmaß, in dem die Lebenswelt durch Regeln, Vorstellungen und Normen der Majoritätsgesellschaft bestimmt ist. In völlig individualisierten Kontexten mit wechselnden sozialen Interaktionspartnern und heterogenen Wertvorstellungen ist die Nichteinhaltung einer sozialen Norm mit wenig Kosten sozialer oder psychischer Art verbunden, weil die Anzahl sanktionierender Individuen klein ist. Außerdem ist zu erwarten – wenn auch im vorliegenden Beitrag nicht nachzuweisen –, dass in traditionelleren Kontexten die sozialen Netzwerke kleiner sind, sodass die Normsanktionierung besser funktioniert (vgl. auch Olson 1971 [1965], S. 53–65).

2.2.2 Vertrauen in andere Individuen (Perspektive 2)

Einer zweiten theoretischen Sichtweise zufolge leitet sich die Befürwortung sozialer Normen aus der grundsätzlichen Vertrauensbereitschaft gegenüber anderen Individuen ab. Je höher das Vertrauen ist, desto größer ist die Unterstützung der Wahlnorm. Denn stärker vertrauende Individuen erwarten eher, dass ihre Unterstützung der Norm andere Individuen zu einer reziproken Reaktion motiviert. Die eigene Unterstützung der Norm wird als Signal an andere verstanden, diesem Verhalten zu folgen (vgl. auch Eichenberger u. Oberholzer-Gee 1998). In dieser Perspektive geht es um die allgemeine Kooperationsbereitschaft ohne kontextuale Abhängigkeit im Gegensatz zur bedingten Kooperation, die in Perspektive 4 aufgegriffen wird.

Manche Individuen sind aus unklaren Gründen eher zu Kooperation und Vertrauen gegenüber anderen bereit und befolgen deswegen stärker soziale Normen. In einer ökonomischen Analyse teilt beispielsweise Funk (2007, i. E.) die Wähler in zwei Typen auf. Sie geht von der Annahme aus, soziale Normen gäben den Individuen Anreize, sich sichtbar für möglichst viele Mitbürger normenkonform zu verhalten. Individuen, die sich durch hohe Kooperationsbereitschaft auszeichnen (Co-operators), gehen regelmäßig zur Wahl, weil sie einen hohen Nutzen aus ihrer Pflichterfüllung ziehen. Abweichler (Defectors) gehen insbesondere dann zur Wahl, wenn sie anderen Individuen auf diese Weise pro-soziales Verhalten signalisieren können, beispielsweise durch den sichtbaren Gang zum Wahllokal. So wird der sozial erwünschte Charakter der Handlung sichtbar gemacht und auch zur Nachahmung dieses Verhaltens animiert. Auch erwartet man, langfristig selbst von dem pro-sozialen Verhalten der anderen profitieren zu können.Footnote 3 Aufgrund einer ähnlichen Typenunterscheidung kommt eine mathematische Analyse zu dem Ergebnis, eine kleine Anzahl überzeugter Wähler könne über ihre sozialen Netzwerke viele Nicht-Überzeugte zur Wahl bewegen (Amaro de Matos u. Barros 2004).

2.2.3 Systemunterstützung (Perspektive 3)

Laut einer dritten Perspektive hängt die individuelle Anerkennung der Wahlnorm von der allgemeinen Unterstützung des politischen Systems ab. Je intensiver Individuen das durch die Norm getragene politische System (z. B. Parlament, Demokratie, Regierung) unterstützen, desto stärker befürworten sie die Wahlnorm. Das Individuum hat also ein utilitaristisches Interesse an der Einhaltung der Norm, weil es das soziale System befürwortet, dessen Stärkung die Norm dient. Es wäre psychologisch nicht kohärent, das eine zu unterstützen und das andere, das seiner Erhaltung dient, nicht. Diese Systemunterstützung kann als inhaltlicher Gegenpol zur sozialen Integration auch politische Integration des Individuums genannt werden.

Diese Erklärung geht zurück auf die alienationist-Schule der Wahltheorien (Dennis 1991b), die die Entfremdung des Individuums von politischen Systemen für die Analyse der Wahlenthaltung in den Mittelpunkt rückt. Je stärker die einzelne Person politisch integriert ist, d. h. je stärker sie denkt, dass der politische Prozess als solcher und sein Output den eigenen Interessen dienen, desto stärker unterstützt jene auch die Norm, die dieses System mitträgt. Ähnliche Erklärungen gibt es für den Zusammenhang zwischen Steuermoral und Vertrauen bzw. Unterstützung gegenüber der Regierung (Feld u. Tyran 2002; Scholz u. Lubell 1998; Torgler u. Schneider 2007). Das Individuum befürwortet die soziale Norm als Kollektivgut zweiter Ordnung, weil es an der Herstellung des Kollektivguts erster Ordnung, einer demokratisch „vernünftigen Wahl“, interessiert ist. Es nimmt an, dass seine Unterstützung zur Bereitstellung dieses Kollektivgutes erster Ordnung beiträgt (Opp 2004). Bei der Wahlnorm leitet sich die Normunterstützung aus der Befürwortung der Demokratie als Staatsform und aus der Überzeugung ab, Demokratie mit Wahlrecht sei besser als ein politisches System ohne Wahlen (Blais 2000).

2.2.4 Beobachtung (Perspektive 4)

Aus einem letzten Blickwinkel wird die individuelle Unterstützung der Wahlnorm mit der Beobachtung der Handlungen anderer begründet. Je häufiger Individuen in ihrem sozialen Kontext die Befolgung der Wahlnorm, also den Wahlgang, beobachten, desto stärker befürworten sie diese Norm. Die Beobachtung kann direkt sein, aber auch über Medienkonsum erfolgen, weil die Medien über das tatsächliche Ausmaß der Wahlbeteiligung berichten. Je höher die objektive Einhaltung der Norm ist, desto höher sind die sozialen Sanktionen, die eine Person bei der Nichteinhaltung einer sozialen Norm erwarten muss, und desto höher ist die bedingte Kooperationsbereitschaft. Zudem spielt die beobachtete Qualität der sozialen Norm eine Rolle: Bei von außen den Individuen aufgezwungenen Verhaltensvorschriften wie der Wahlpflicht sollte die individuelle Unterstützung der Norm sinken, weil die sanktionierte Verpflichtung die intrinsische Motivation des Individuums senkt.

Ferner übt die gesellschaftliche Befolgung einer sozialen Norm einen Einfluss auf die individuelle Wahrnehmung aus. Jeder wahrgenommene Fall intensiver Befolgung einer Norm sieht wie eine Art Referendum der Gemeinschaft über die Norm aus. Dieses Referendum bestärkt das Individuum darin, dass die Norm weiterhin aktuell und von der Gemeinschaft selbst gewählt ist (Tyran u. Feld 2006). Deswegen können Normen, die von außen in einem gesellschaftlichen System etabliert werden, vor allem dann ohne starke Sanktionen greifen, wenn sie von den Mitgliedern des Systems bewilligt worden sind. Viele Individuen folgen dabei dem Prinzip der bedingten Kooperation, d. h. sie kooperieren (in diesem Fall unterstützen sie den Wahlprozess) umso eher, je mehr Kooperation sie in ihrem Kontext und in ihrer Gruppe wahrnehmen (vgl. Gächter 2006).

Schließlich gibt es empirische Belege für den Einfluss von externen Sanktionen auf die intrinsische Motivation eines Individuums (Frey u. Jegen 2001). Wenn beispielsweise die Wahlbeteiligung vom Recht zur Pflicht gemacht und ihre Verletzung sanktioniert wird, könnte sich die Motivation der Wahlberechtigten ändern, weil sie sich in der eigenen Selbstbestimmung eingeschränkt und der Chance beraubt sehen, das eigene Interesse für den Wahlgang aus freien Stücken zu zeigen (vgl. Frey u. Jegen 2001, S. 594). Die externe Sanktionierung führt zu einem crowding out der intrinsischen Motivation.

Zusammengefasst zeigt diese integrierte Diskussion, dass man vier theoretische Perspektiven unterscheiden kann, die verschiedene, aber kausal komplementäre Mechanismen beinhalten. Die Befürwortung der Wahlnorm wird beeinflusst durch 1) das Ausmaß und die Art und Weise, in der ein Individuum in die Gesellschaft integriert ist, 2) dessen allgemeine Vertrauensbereitschaft gegenüber anderen, 3) dessen Unterstützung des demokratischen politischen Systems und 4) das Niveau und die Qualität, mit der es die Befolgung der Wahlnorm in seinem sozialen Kontext beobachtet.

3 Analysestrategie, Daten und Operationalisierung

3.1 Die Kombination komplementärer Theorieperspektiven

Die vier Perspektiven sind als komplementär anzusehen, da sich ihre Kausalketten nicht gegenseitig ausschließen. Deswegen werden im empirischen Teil alle 15 Kombinationsmöglichkeiten getestet (jede Perspektive einzeln [4], Zweierkombinationen [3 + 2 + 1 = 6], Dreierkombinationen [4], Viererkombination [1], siehe Tab. 2 weiter unten).

Bei diesen Kombinationen lassen sich zudem einige Annahmen über kausale Zusammenhänge formulieren. Auf der einen Seite kann man zwischen den Perspektiven 1–3 unterscheiden, soziale Integration, Vertrauen und Systemunterstützung, die Eigenschaften des Individuums beinhalten, und auf der anderen Seite Perspektive 4, Beobachtung, die kontextuale Eigenschaften berücksichtigt. Weiterhin scheint die soziale Integration in der Kausalkette vor der Ebene des Vertrauens und der Systemunterstützung zu stehen, weil sich die Aspekte der individuellen Integration in der Gesellschaft längerfristig entwickeln und im Kausalprozess weiter von der individuellen Wahlnorm entfernt liegen als das allgemeine Vertrauen gegenüber Individuen und als die Systemunterstützung. Wegen dieser kausalen Sequenz werden im empirischen Teil auf der Suche nach dem besten Kombinationsmodell auch die Beziehungen zwischen sozialer Integration und der nachgelagerten politischen Systemunterstützung untersucht. Konkret wird durch ein Strukturgleichungsmodell getestet, welche Variablen, die die soziale Integration messen, ebenso einen Einfluss auf die Systemunterstützung haben.Footnote 4

3.2 Daten und statistische Methoden

Für die Analyse werden die Daten des European Social Survey 2002/3 (ESS) genutzt. Der Vorteil der international vergleichenden Untersuchung liegt in einer erhöhten Varianz bei der beobachteten sozialen Norm (Perspektive 4), da für jedes Land unterschiedliche Werte vorliegen. Die 21 europäischen Länder, für die Daten vorliegen, sind: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn.

Zuerst werden OLS-Regressionen für alle Kombinationen geschätzt und das relativ beste Modell mithilfe geeigneter Güteindizes und der Interpretation wichtiger Koeffizienten ausgewählt. Im Anschluss wird für das relativ beste Modell ein Strukturgleichungsmodell geschätzt, das die beschriebene Sequenz kausaler Ebenen modelliert (für eine Anwendung von Pfadmodellen mit latenten Variablen auf die Wahlbeteiligung vgl. Rattinger u. Krämer 1995). Die vier Perspektiven werden durch eine unterschiedliche Anzahl von Variablen approximiert, die primär auf die Zwänge einer sekundären Umfrageanalyse zurückgehen. Durch die Verwendung von Güteindizes, die die Komplexität von geschätzten Modellen (korrigiertes R2, AIC) einbeziehen, wird der unterschiedlichen Anzahl von unabhängigen Variablen je Theorieperspektive Rechnung getragen. Mit anderen Worten: Eine Theorieperspektive wie die „soziale Integration“, die durch viele unabhängige Variablen dargestellt wird, hat in der Bewertung mit diesen Güteindizes keinen Vorteil gegenüber Theorieperspektiven, die mit weniger Variablen dargestellt werden.

3.3 Variablen

Die abhängige Variable Wahlnorm wird auf einer 11-stufigen Skala, die auf der Antwort zu dem folgenden Item beruht, dargestellt: „To be a good citizen, how important would you say it is for a person to vote in elections?“ Die Ausprägungen reichen von 0 („not very important“) bis zu 10 („very important“). In der Stichprobe von Befragten, die 18 Jahre und älter waren, gaben nur 1,4 % keine Antwort auf diese Item-Frage. Der länderspezifische Mittelwert reicht von 6,2 in Tschechien bis zu 8,9 in Dänemark. Insgesamt ist die Verteilung linksschief, das heißt sehr viele Befragte geben die Werte 9 und 10 an. Alternative Schätzungen mit ordinal-logistischen Regressionen führen zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie die der OLS-Regressionen, so dass diese Verteilung keine Probleme verursacht. Im Strukturgleichungsmodell werden aufgrund der Schiefverteilung robuste Schätzer verwendet.

Bevor die unabhängigen Variablen näher in Betracht gezogen werden, sollte man sich mit der Frage auseinandersetzen, was dieses Item misst. In den Definitionen im Abschn. 2.1 ist unterschieden worden zwischen internalisierten sozialen Normen und sozialen Normen als beobachtbare gesellschaftliche Verhaltensvorschriften. Man kann nicht annehmen, dass die Antwort auf diese Item-Frage valide und reliabel die Stärke einer tatsächlich internalisierten Wahlnorm darstellt. Diese könnte beispielsweise durch andere Messtechniken wie die Analyse von Tagebüchern, teilnehmende Beobachtungen oder die Durchführung von speziell entworfenen Vignetten-Surveys bzw. -Experimenten besser erfasst werden (vgl. Beck u. Opp 2001; Opp 2006). Vielmehr wird durch die Art der Fragestellung bei diesem Item deutlich, dass soziale Erwünschtheit die Antworten der Befragten einfärben kann, weil sie in der Fragestellung bereits auf die gesellschaftliche Bedeutung des Phänomens hingewiesen werden.

Die Antwort der Befragten hat zwei systematische Ursachen, nämlich 1) die eigene internalisierte Wahlnorm und 2) die wahrgenommene Notwendigkeit, durch die Antwort den Erwartungen der/des Fragestellers/in zu entsprechen. Beispielsweise kann jemand eine 10 bei den Antwortkategorien wählen, weil er oder sie denkt, dass dies der eigenen subjektiven Norm entspricht. Die Antwort könnte auch dann eine 10 lauten, wenn jemand eigentlich eine niedrige subjektive Norm empfindet, aber annimmt, eine 10 entspreche dem, was der Interviewer hören möchte. Dieses kann nur aus einem Verständnis rühren, demzufolge Wählen eine sozial erwünschte Handlung darstellt; der Wahlgang also eine soziale Norm ist.

Wenn jemand sich genötigt sieht, einen höheren Zustimmungswert anzugeben als er oder sie tatsächlich empfindet, hängt das sehr wahrscheinlich von dem sozialen Kontext dieser Person ab. Beispielsweise geben vermehrt Nicht-Wähler an, gewählt zu haben, denen Wählen an sich wichtig ist (Marianne u. Mullainathan 2001, S. 68). Zudem nehmen Individuen mit höherer Bildung im Schnitt besser soziale Erwünschtheit wahr (Karp u. Brockington 2005). Weiterhin weiß man aus Vergleichen von tatsächlicher und angegebener Wahlbeteiligung, dass in Kontexten mit höherer Wahlbeteiligung der Bias größer wird (Karp u. Brockington 2005). Eine ähnliche Varianz des Bias kann auch für diese Normfrage erwartet werden.Footnote 5 Man kann folglich annehmen, dass diese Variable die Perzeption der Wahlnorm durch ein Individuum einfängt. Es kann jedoch nicht entschieden werden, ob diese Perzeption der direkten Wahrnehmung der Salienz im sozialen Kontext oder der eigenen internalisierten Norm entspringt.

Tabelle 1 gibt eine Übersicht über alle Variablen (Kodierungsdetails sind im Anhang in Tab. 4 zu finden). Alle nominalen Variablen sind als Dichotomien zwischen 0 und 1 kodiert worden. Alle anderen unabhängigen Variablen wurden z-transformiert. Auf diese Weise können die Koeffizienten in den Schätzungen einfach verglichen werden, weil ein Anstieg um 1 für kontinuierliche Variablen die durchschnittliche Veränderung in Größe einer Standardabweichung und für kategoriale Variablen einen Anstieg vom Minimum zum Maximum darstellt. Die ersten drei Variablen sind Kontrollgrößen, an denen ich theoretisch nicht erstrangig interessiert bin: das Grundprinzip des politischen Systems (parlamentarisch oder (semi-)präsidentiell), die Länge der demokratischen Epoche (Jahre ununterbrochener Demokratie seit der ersten freien Wahl für alle Volljährigen), die Proportionalität des Wahlsystems (Verzerrung zwischen Sitzen im Vergleich zu Stimmen: je größer, desto ausgeglichener (Rose 2000)), Geschlecht und politische Werte (PostmaterialismusFootnote 6 auf einer 5-stufigen Skala und Links-rechts-Selbsteinschätzung auf einer 11-stufigen Skala). Alle Kontrollvariablen sind der Partizipationsforschung insbesondere zur Wahlbeteiligung entnommen (Blais u. Dobrzynska 1998; IDEA 2002; Norris 2002; Martín u. van Deth 2007).

Tab. 1 Übersicht über unabhängige und abhängige Variablen

Die Dynamik der sozialen Integration wird über drei Gruppen von Variablen eingefangen. Der sozioökonomische Status wird gemessen über Bildung, Haushaltseinkommen und ökonomische Inaktivität. Die Intensität der sozialen Netzwerke wird approximiert über die Frequenz sozialer Treffen und die Selbsteinschätzung, wie sozial aktiv die Person sich gegenüber anderen sieht.Footnote 7 Die Traditionalität der Lebenswelt wird bestimmt aus dem Lebensalter, der Religiosität und der geschätzten Wohnortgröße des bzw. der Befragten. Dabei lautet die Annahme, dass ältere, stärker religiöse Individuen in kleineren Wohnorten eine traditionellere Lebenswelt erfahren. Hinter der Variable Alter verbergen sich zwei unterschiedliche Mechanismen, die aufgrund der Daten nicht voneinander getrennt werden können. Ältere Individuen gehören Kohorten an, die stärker auf Wählen als Pflicht durch Familie und frühe politische Erfahrungen sozialisiert worden sind (vgl. Arzheimer 2005; Becker 2002; Franklin 2004). Zugleich steigt mit zunehmender Wahlerfahrung die Gewöhnung (Habituierung) an den Wahlvorgang, sodass die zugrundeliegende soziale Regel der Wahlnorm zunehmend unterstützt wird (vgl. Franklin 2004; Goerres 2007). Für die Vertrauensperspektive gibt es eine Variable, die das generelle Vertrauen gegenüber anderen Individuen misst. Die dritte Perspektive wird über die Unterstützung für das politische System wiedergegeben. Diese Variable ist ein Faktor einer Hauptkomponentenanalyse, der aus vier Variablen gebildet wurde und 66 % der Varianz darstellt (Vertrauen in das Parlament und gegenüber Politikern, Zufriedenheit mit der Regierung und Demokratie). Da diese neue Variable 13 % fehlende Werte enthält, wurden diese durch den Mittelwert ersetzt und eine weitere Dichotomie gebildet, die fehlende Werte eines Befragten bei dieser Variable anzeigt. Letztendlich wird die vierte Perspektive der Beobachtung mit zwei Variablen dargestellt: nationale Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl und das Ausmaß der Wahlpflicht (schwach, stark; Daten aus IDEA (2002)).

4 Schätzungen und Interpretation der Modelle

Zuerst werden die verschiedenen Kombinationsmodelle in Bezug auf ihre Erklärungsgüte überprüft. Im Anschluss wird das relativ beste Modell in einem Pfadmodell auf indirekte Kausalpfade untersucht und seine Teileffekte ausführlich diskutiert.

Tabelle 2 zeigt die Werte der Güteindizes für 16 Regressionsmodelle (Details zu den Schätzungen sind in Tab. 3 und im Anhang in den Tab. 5 und 6 zu finden). Modell 1 stellt das Ausgangsmodell dar, in dem nur die Kontrollvariablen enthalten sind, die keiner besonderen Perspektive zugeordnet werden. Die Modelle 2–5 stellen alle Perspektiven einzeln, die Modelle 6–11 alle paarweisen Kombinationen, die Modelle 12–15 die Dreier-Kombinationen und Modell 16 das Maximalmodell mit allen vier Perspektiven dar. Doch welches Modell passt am besten zu den Daten? Dafür ist zum einen die Richtung und statistische Signifikanz von Koeffizienten in Bezug auf die Hypothesen zu überprüfen und zum anderen die Passgüte aller Modelle zu vergleichen. Da sich die Modelle im Grad ihrer Komplexität stark unterscheiden, werden Güteindizes verwendet, die komplexere Modelle bestrafen. In Tab. 2 sind deswegen jeweils das korrigierte R2 (je größer, desto besser) und das Akaike Information Criterion ((AIC); je niedriger, desto besser) angegeben. Das AIC hat zudem den Vorteil, dass nicht-geschachtelte Modelle miteinander verglichen werden können, d. h. Modelle, die nicht direkt aufeinander aufbauen.

Tab. 2 Übersicht über Güteindizes der Regressionsmodelle
Tab. 3 OLS-Regressionen der Wahlnorm: die relativ besten Modelle. (Quelle: ESS)

Wenn man die Werte der Güteindizes für die ersten fünf Modelle vergleicht, stellt man fest, dass jedes Modell, das eine Perspektive einzeln darstellt, bereits eine bessere Erklärung der Varianz leistet als das Modell mit den Kontrollvariablen. Also scheint bereits jedes theoretische Modell mit einer der vier Perspektiven empirisch stärker zu greifen als das atheoretische Vergleichsmodell 1, das nur die Kontrollvariablen enthält.

Beim Vergleich der weiteren Modelle aus kombinierten Perspektiven stellt sich gemäß des AIC und des korrigierten R2 das komplexeste Modell 16 als das beste heraus, da es den niedrigsten AIC-Wert und den höchsten R2-Wert hat. Doch zeigt sich bei diesem Modell, dass der Koeffizient des generellen Vertrauens nur klein und insignifikant ist (s. Tab. 3). Alle anderen Perspektiven enthalten in Modell 16 signifikante und substanzielle Koeffizienten. Wenn man die Variable Vertrauen entnimmt, erhält man Modell 14, das dem korrigierten R2 zufolge die zweitbeste Güte nach Modell 16 aufweist. In diesem Modell 14 sind nun alle Perspektiven mit großen Koeffizienten vertreten. Laut dem AIC wäre jedoch das Modell 12 das zweitbeste Modell, doch findet sich hier wieder ein insignifikanter Koeffizient bei der Variable Vertrauen. Da im Modell 14 starke Koeffizienten für die Beobachtungsperspektive aufgeführt sind, die in Modell 12 fehlen, sollte insgesamt Modell 14 dem Modell 12 vorgezogen werden. Modell 14 wird im Folgenden diskutiert. Dennoch kann man bereits festhalten, dass die individuelle Prädisposition, mit anderen zu kooperieren, für die Wahlnorm keinerlei Effekte aufweist, sobald die anderen Perspektiven miteinbezogen sind. Die Variablen der zweiten Perspektive erweisen sich also im empirischen Test in der Kombination mit anderen Perspektiven als nicht mehr notwendig und sollten auf der Suche nach einem möglichst sparsamen Modell fallengelassen werden.

Modell 14 enthält Variablen der Perspektiven soziale Integration, Systemunterstützung und Beobachtung. Da man wie oben dargelegt aber annehmen sollte, dass die individuelle Unterstützung des politischen Systems zum Teil zumindest durch Variablen der sozialen Integration erklärt wird, kann dieser Zusammenhang durch zusätzliche Kausalpfade in einem Pfadmodell modelliert werden.

Abbildung 1 zeigt die wichtigsten Elemente des Pfadmodells (weitere Details im Anhang, Tab. 7). Dieses beruht auf einem Strukturgleichungsmodell mit beobachteten Variablen. Neben den Pfadkoeffizienten sind auch Kovarianzen zwischen bestimmten unabhängigen Variablen geschätzt worden, d. h. Restkorrelationen zwischen einigen unabhängigen Variablen wurden berücksichtigt. Zum einen korrelieren alle Variablen miteinander, die Individualeigenschaften wie z. B. Bildung und Postmaterialismus abbilden. Selbiges gilt zum anderen für alle Variablen, die Ländereigenschaften darstellen, wie z. B. die letzte nationale Wahlbeteiligung und die Proportionalität des Wahlsystems.

Abb. 1
figure 1

Pfadmodell der Wahlnorm in Europa mit drei integrierten Perspektiven

Die drei globalen Güteindizes AGFI, CFI und RMSEA zeigen eine akzeptable Passgüte des Modells zur Korrelationsstruktur der Daten an (Bollen 1989, Kap. 7; Skrondal u. Rabe-Hesketh 2004, S. 270–272). Beinahe alle Pfadkoeffizienten sind auf dem 5 %-Niveau signifikant. Wichtiger ist jedoch die substanzielle Größe der Koeffizienten. Da alle kontinuierlichen unabhängigen Variablen so kodiert sind, dass sie eine Standardabweichung von 1 haben, können diese untereinander und mit den kategorialen Variablen, die zwischen 0 und 1 variieren, verglichen werden. Insgesamt zeigt dieses Modell, dass alle drei Perspektiven substanzielle Effekte zumindest durch einige ihrer Variablen einfangen und die komplexere Modellierung der Kausalzusammenhänge über direkte und indirekte Kausalpfade empirisch gerechtfertigt ist.

Aus der Perspektive 1 „soziale Integration“ zeigen vier von acht Variablen substanzielle direkte und über die Unterstützung des politischen Systems indirekte Effekte auf die Wahlnorm: Aus dem Bereich sozioökonomischer Status hat Bildung einen starken positiven Einfluss (0,26) und ökonomische Inaktivität einen zweifach negativen Effekt (direkt −0,37 und indirekt −0,20 * 0,48 = −0,096Footnote 8). Die Variablenkoeffizienten aus dem Bereich soziale Netzwerke zeigen zwar positive direkte und indirekte, aber substanziell kleine Effekte. Aus dem Bereich Traditionalität der Lebenswelt weisen Alter einen starken direkten Einfluss (0,46) sowie Religiosität einen positiven direkten (0,23) und einen indirekten Effekt (0,13 * 0,48 = 0,0624) auf. Zusammen implizieren diese starken Effekte allein beispielsweise, dass ein Mensch, der mehr formale Bildung erfahren hat (äquivalent zu einer Standardabweichung), ökonomisch aktiv, älter (äquivalent zu einer Standardabweichung) und religiöser (äquivalent zu einer Standardabweichung) ist, eine individuell wahrgenommene Wahlnorm aufweist, die auf einer Skala von 0 bis 10 etwa 1,5 Punkte höher ist als bei einem ansonsten vergleichbaren Individuum. Anders ausgedrückt: Der sozioökonomische Status eines Menschen, die Intensität seiner sozialen Beziehungen und die Traditionalität seiner Lebenswelt – allesamt soziale Faktoren, die ihren Ursprung im „Unpolitischen“ haben – beeinflussen die individuell wahrgenommene subjektive Wahlnorm.

Aus der Perspektive 3 „Systemunterstützung“ zeigt sich zunächst, dass der Effekt der Variable Unterstützung für das politische System in der komplexeren Modellierung mit 0,48 substanziell ist. Weiterhin deuten die vielen signifikanten Pfadkoeffizienten von Variablen der sozialen Integration (und auch von einigen Makrovariablen, die im nächsten Absatz beschrieben werden) an, dass die Unterstützung des politischen Systems von diesen sozialen Eigenschaften der Bürgerinnen und Bürger beeinflusst wird. Doch muss die Effektgröße von dieser Variable als verzerrt angesehen werden. Dies wird am starken Effekt, der mit der Kontrollvariable assoziiert ist, deutlich. Jene misst, ob ein Befragter einen fehlenden Wert bei der Variable Unterstützung des politischen Systems hat. Dieser deutet an, dass Befragte, die bei der Variable Unterstützung für das politische System keinen Wert haben, einen deutlich geringeren Wert bei der Wahlnorm angaben als andere Befragte. Die Einsetzung des Mittelwerts für fehlende Werte in der Variable Unterstützung des politischen Systems verzerrt folglich den geschätzten Koeffizienten für diese Variable, ohne dass die Richtung der Verzerrung beurteilt werden kann.

Aus der Perspektive 4 „Beobachtung“ haben beide Variablen starke Effekte auf die Wahlnorm. Die Variable der letzten nationalen Wahlbeteiligung zeigt einen positiven Pfadkoeffizienten von 0,59. Länder, in denen die Verletzung der Wahlpflicht stark geahndet wird, zeigen eine individuelle Wahlnorm, die im Schnitt 1,65 Punkte geringer ist als in Ländern ohne Wahlpflicht. In Ländern, in denen die Wahlpflicht häufiger verletzt wird, reduziert sich die Wahlnorm immerhin noch um 0,37 Punkte im Vergleich zu Ländern ohne irgendeine Wahlpflicht. In diesem Pfadmodell wurden als Kontrolle weitere Pfade der Variablen aus Perspektive 4 auf die Unterstützung des politischen Systems geschätzt. An dieser Stelle zeigt sich ein substanzieller, positiver Koeffizient auf dem Pfad von der Variable starke Wahlpflicht auf die Variable Unterstützung des politischen Systems (0,38). Dieser Effekt beinhaltet, dass die Unterstützung für das politische System in Ländern mit stark geahndeter Verletzung der Wahlpflicht um 0,38 Standardabweichungen höher ist als in Ländern ohne Wahlpflicht. Somit wird der stark negative direkte Effekt von starker Wahlpflicht gedämpft um den indirekten Effekt in Höhe von 0,38 * 0,48 = 0,1824. Insgesamt beinhalten diese Effekte der Perspektive 4, dass die Intensität der empfundenen Wahlnorm durch die Art und Intensität der Befolgung dieser Norm in ihrem Länderkontext bestimmt wird. Individuen in Ländern mit geringer Wahlbeteiligung (äquivalent zu einer Standardabweichung) und starker Wahlpflicht geben im Schnitt eine um 2,2 Punkte geringere individuelle Wahlnorm an. Je schwächer die Einhaltung der Norm ist und durch Beobachtung wahrgenommen werden kann und je stärker die soziale Regel durch Gesetze oktroyiert wird, desto geringer ist die Unterstützung dieser Norm. Somit ist auch zu vermuten, dass weitere Indikatoren auf regionaler Ebene solche Kontexteffekte präzisieren würden. Es ist beispielsweise zu erwarten, dass Individuen in einem Wahlkreis mit hoher Wahlbeteiligung in einem Land mit ansonsten niedriger Wahlbeteiligung trotzdem die Wahlnorm stark befürworten (Campbell 2006).

Die meisten Kontrollvariablen fangen systematisch von null verschiedene, aber aufgrund ihrer geringen Größe vernachlässigbare Effekte ein. Dies bedeutet, dass die drei Theorieperspektiven insgesamt einen guten Beitrag leisten, um die Dynamiken zu verstehen. Nur zwei Kontrollvariablen verdienen eine nähere Inspektion. Menschen in Ländern mit weniger verzerrenden Wahlsystemen (äquivalent zu einer Standardabweichung) und in parlamentarischen Systemen haben im Schnitt eine um 0,20 + 1,12 = 1,32 geringer wahrgenommene Wahlnorm als Individuen in (semi-)präsidentiellen Systemen mit stärker verzerrenden Wahlsystemen. Beide Effekte sind aufgrund ihrer Richtungen erstaunlich, weil sie auf den ersten Blick den Ergebnissen aus der Forschung zur Wahlbeteiligung widersprechen (vgl. exemplarisch Jackman 1987; Jackman u. Miller 1995; Blais u. Dobrzynska 1998). In Systemen, in denen eine höhere Gefahr besteht, dass abgegebene Stimmen sich nicht auf das Endergebnis auswirken (z. B. in First-the-past-Systemen), wird die Wahlnorm stärker befürwortet. Vielleicht greift hier eine Logik von Perzeption, derzufolge Wähler in Wahlsystemen mit stärker verzerrenden Wahlsystemen eine soziale Norm der Wahlbeteiligung eher befürworten, weil durch die Wahl deutlichere Mehrheiten entstehen und die Exekutive klarer bestimmt werden kann. Dieses Argument könnte auch den negativen Effekt erklären, der mit dem parlamentarischem System assoziiert und deutlich größer als der erste Effekt des Wahlsystems ist: Wählen in parlamentarischen Systemen wird nicht als sehr einflussreich angesehen, da die Regierungsbildung durch mögliche Koalitionen und Austausch von Personen weniger vorhersehbar ist als die Wahl eines Präsidenten. Theoretisch kann man argumentieren, dass der Wert des Kollektivgutes hohe Wahlbeteiligung in parlamentarischen Systemen und damit die sie unterstützende soziale Regel der Wahlnorm als niedriger empfunden wird als in Systemen, in denen die Exekutive in der Perzeption der Wähler durch die eigene Stimme eher bestimmt werden kann.Footnote 9 Weiterhin könnte der positive Effekt, der gemeinhin von proportionalen Wahlsystemen auf Wahlbeteiligung belegt ist, bereits in der Variable Wahlbeteiligung bei der letzten nationalen Wahl eingefangen sein. Festzuhalten bleibt, dass diese Effekte in weiterer Forschung nicht nur als Kontrollvariablen berücksichtigt, sondern auch theoretisch integriert und in der Empirie wieder getestet werden müssen. Vermutlich kann eine genauere Messung der institutionellen Begebenheiten, die mit Proportionalität und Parlamentarismus zusammenhängen und die beispielsweise von Blais und Dobrzynska (1998) vorgeschlagen worden sind, eine weitere Klärung bringen.

Insgesamt lässt sich durch die Pfadmodellierung ein viel deutlicheres Bild der Zusammenhänge bei der individuellen Unterstützung der Wahlnorm zeichnen: Die soziale Integration, die Systemunterstützung und die Beobachtung der Einhaltung und Qualität der Wahl im Kontext des Individuums sind von Bedeutung für die Erklärung der individuellen Unterstützung der Wahlnorm. Dabei spielen das Ausmaß und die Art der sozialen Integration auch für die politische Systemunterstützung eine wichtige Rolle. Wie das Individuum in die Gesellschaft eingebettet ist, wie es zum politischen System steht und wie es die Einhaltung und Qualität der Wahlnorm wahrnimmt, bestimmt seine individuelle Unterstützung der Wahlnorm. Verbesserungsmöglichkeiten des Modells deuten sich vor allem mit Blick auf die zusätzliche Berücksichtigung institutioneller Regeln an.

5 Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht Kausalerklärungen der individuellen Wahlnorm in Europa. Aus der Literatur lassen sich vier theoretische Perspektiven ableiten, die die Varianz der Unterstützung sozialer Normen erklären können: die Stärke und Qualität sozialer Integration eines Individuums, das allgemeine Ausmaß seines Vertrauens in andere Individuen und die damit einhergehende Kooperationswilligkeit sowie die Unterstützung des politischen Systems, aus dem die Wahlnorm erwächst, und die wahrgenommene Stärke der Einhaltung und Qualität der vorgeschriebenen Handlungsweise. Das kombinierte Modell aus sozialer Integration, Systemunterstützung und Beobachtung der Einhaltung und Qualität der Wahlnorm zeigt in der empirischen Analyse die stärkste Performanz. Dabei bestehen zusätzliche Kausalpfade von sozialer Integration über die Systemunterstützung. Die Einbettung des Individuums in die Gesellschaft, dessen Beziehung zum politischen System und die Perzeption der Einhaltung und Qualität der Wahlnorm bestimmen die individuelle Unterstützung der Wahlnorm.

Die Ergebnisse sind relevant für die theoretische Literatur zur Wahlbeteiligung und zu sozialen Normen. Die empirischen Ergebnisse deuten auf die fruchtbare Verbindung verschiedener Theorieperspektiven und deren empirischer Modellierung mithilfe indirekter Kausalpfade hin. Die Motivation eines Individuums bei der Wahlnorm entspringt einer vielschichtigen Gemengelage von Erfahrungen in der Gesellschaft selbst, der Beziehung zwischen Individuum und staatlichem System sowie dem demokratischen Kontext, in dem sich das Individuum befindet. Eine Mischung aus intrinsischer Motivation, vom Kontext abhängiger Kooperationswilligkeit und von aus der sozialen Lage Gelerntem determiniert die individuelle Unterstützung der Wahlnorm.

Weitere Analysen sollten die komplexe Kausalstruktur aus direkten und indirekten Effekten modellieren. In der Analyse von Wahlbeteiligung werden bisher häufig die subjektive Normempfindung und sozio-strukturelle Variablen additiv, beispielsweise in Regressionen, zusammengesetzt. Doch unterschätzen diese Analysen mannigfaltige Einflüsse wie den sozioökonomischen Status. Nur mit Analysetechniken, die komplexere Kausalpfade erlauben, können diese direkten und indirekten Abhängigkeiten modelliert werden. Zudem ist die vorliegende Analyse der Wahlnorm in einem theoretischen Rahmen gehalten, der diese als Beispiel einer politisch relevanten sozialen Norm definiert. Die vorgefundenen Dynamiken sollten deswegen auch auf ihre Existenz bei anderen sozialen Normen wie beispielsweise der Steuerehrlichkeit analog überprüft werden. Schließlich können durch komparative Analysen größerer Datensätze (wie den neuen Wellen des Comparative Study of Electoral Systems-Datensatzes) mehr Varianz in den institutionellen Rahmenbedingungen erreicht und diese in verbesserte Modelle integriert werden.