Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter December 1, 2017

„Wir erleben eine historische Transformation Frankreichs“

Ein Gespräch mit Charles Wyplosz über die Reformen von Präsident Emmanuel Macron, das notwendige Großreinemachen in der Europäischen Union und das Drama Griechenlands

  • Charles Wyplosz EMAIL logo

PWP: Herr Professor Wyplosz, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat mit seinen wirtschaftspolitischen Reformen ein beeindruckendes Tempo vorgelegt. Wird ihm der Durchbruch gelingen?

Wyplosz: Auf jeden Fall gehen die Reformen in die richtige Richtung. Im Wahlkampf hatte Macron schon sehr detailliert angekündigt, was er zu tun beabsichtigte. Das ist für jeden Wahlkämpfer sehr riskant; kein Präsidentschaftskandidat hat je so viele politisch schwierige Reformen angekündigt. Und seitdem er im Amt ist, tut er, was er angekündigt hat, und er macht das sehr geschickt. Die Reform des Arbeitsrechts zum Beispiel in nur drei Monaten über die Bühne zu bringen, das war rasant. Dass er dies auf dem Verordnungswege tun werde, hatte er ebenfalls schon im Wahlkampf angekündigt, das konnte niemanden überraschen. Er hatte dafür die vollständige Legitimität. Außerdem hatte die Regierung den Gewerkschaften im vergangenen September auch nicht einfach ein Reformpaket vorgesetzt, sondern sie hatte es gemeinsam mit den Tarifparteien ausgearbeitet. Macron hatte so zwei wichtige Gewerkschaften auf seine Seite bringen können. Natürlich hat er dafür einen Preis zahlen und einen Kompromiss eingehen müssen. Deshalb war diese Reform nicht ganz so umfassend, wie es wünschenswert gewesen wäre, aber es ist gelungen, alles Essentielle durchzubringen. Kurz: Macron weiß ziemlich genau, was er will; er hat dafür ein klares Mandat; und er besitzt offenbar ein Talent, die richtige Methode zu finden. Ich weiß nicht, warum das nicht auch so weitergehen sollte.

PWP: Inwiefern ist die Reform des Arbeitsrechts vom September aus Ihrer Sicht unvollständig? Was war dieser Preis, den Macron zahlen musste?

Wyplosz: Er war gezwungen, eine weitere Stärkung der Branchentarifverträge hinzunehmen. Das war nicht gut. Wissenschaftlich ist längst erwiesen, dass es für die Beschäftigung am besten ist, wenn direkt auf Unternehmensebene über Löhne und Arbeitsbedingungen verhandelt wird. Dort sind alle Beteiligten selbst betroffen und bemühen sich um effiziente Lösungen, und wenn sie erfolgreich sind und dadurch einen Wettbewerbsvorteil erringen, dauert es nicht lange, bis andere Unternehmen ihre Lösung nachmachen. Es ist wichtig, dass es auf Unternehmensebene eine solche Möglichkeit zum Experimentieren gibt. Wenn auf Branchenebene verhandelt wird, haben Sie ein Monopol; da geht es dann nicht mehr darum, Effizienz herzustellen. Das war der Preis, aber sonst wäre es Macron damals sicher nicht gelungen, insbesondere die Gewerkschaft Force Ouvrière zu gewinnen. Und obschon er den Unternehmen Kündigungen erleichtern wollte, hat er der Gewerkschaft CFDT eine Erhöhung der Abfindungen im Kündigungsfall zugestehen müssen.

PWP: Sein Hauptanliegen war es ja, die Abfindungen kalkulierbar zu machen. Das sind sie auch mit der Erhöhung. Bisher gab es viel Unsicherheit durch sehr unterschiedliche Gerichtsentscheidungen.

Wyplosz: Ja, die Abfindungen sind zwar angehoben und auf eine bestimmte Dauer gestellt worden, aber immerhin sind sie nach oben gedeckelt. Vorher musste ein Unternehmen mit etwa drei bis vier Jahren Gerichtsverfahren rechnen, ohne ahnen zu können, was am Ende entschieden würde. Besonders für die kleinen und mittleren Unternehmen war diese Unberechenbarkeit eine schwere Last. Die Verfahren dauerten lange und konnten für sie katastrophal ausgehen.

PWP: Dann gibt es da doch trotz der Konzessionen einen realen Fortschritt.

Wyplosz: Auf jeden Fall. Und die Konzessionen, die Macron machen musste, sind verständlich, wenn man keine Massendemonstrationen und Streiks haben will, die alles weitere blockieren. So ist nun einmal Politik. Wie gut die Sache eingefädelt worden ist, erkennt man unweigerlich, wenn man an den ersten Anlauf zurückdenkt, an jene sehr viel bescheidenere Reform, die Macron noch unter Präsident François Hollande angeschoben hatte, auch wenn sie wegen interner Streitigkeiten den Namen der damaligen Arbeitsministerin Myriam El-Khomri trug. Frankreich war damals acht, neun Monate komplett lahmgelegt. Diesmal ist es Macron gelungen, inhaltlich sehr, sehr viel weiter zu gehen, ohne dass die Gewerkschaften das Land schachmatt setzten. Das ist schon ein Kunststück.

PWP: Mir scheint, dass Frankreich ein ganz besonders großes Insider-Outsider-Problem auf dem Arbeitsmarkt hat. Wie kommt es, dass die Gewerkschaften eine solche Macht haben? Frankreich ist in der Europäischen Union das Land mit dem geringsten Organisationgrad, es sind gerade 8 Prozent.

Wyplosz: Das ist in der Tat das große Paradoxon des französischen Gewerkschaftswesens. Es erklärt sich vor allem durch die Allgemeinverbindlichkeit. Nach dem bisherigen System wurden sämtliche Tarifverträge, welche die Sozialpartner ausgehandelt hatten, automatisch allgemeinverbindlich, per Gesetz. Ob Sie nun Mitglied in einer Gewerkschaft waren oder nicht, dieser Tarifvertrag galt immer auch für Sie. Die Unternehmen konnten nicht ausbrechen. Das war katastrophal. Und es bedeutete, dass die Leute keinerlei Anreiz hatten, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden. Von deren Schutz profitierten sie sowieso, sie hätten nur zusätzlich die Mitgliedsbeiträge zahlen müssen, und sie gingen am Wochenende sowieso lieber angeln, als Gewerkschaftsmeetings zu besuchen. Aber eine wichtige Weichenstellung ist auch hier gelungen: In sehr kleinen Unternehmen dürfen nun die Chefs mit ihren Angestellten Übereinkünfte treffen, ohne dass sie einen externen Gewerkschaftsvertreter ins Haus holen müssen, der das Ganze überwacht und am Ende unterschreibt. Lange war das Pflicht, selbst wenn es nur um Urlaubsbestimmungen ging.

PWP: Spielt nicht auch eine Rolle, dass die Gewerkschaften lange gemeinsam mit den Arbeitgebern die Arbeitslosenversicherung verwaltet haben? Dieses korporatistische Modell dürfte ihnen Macht und Ansehen in der Bevölkerung verschafft haben. Aber dem hat Macron mit der Verstaatlichung der Arbeitslosenversicherung einen Riegel vorgeschoben, die Teil seiner Reform der Sozialversicherung ist.

Wyplosz: In der Tat, auch in dieser Konstruktion war eine Menge gewerkschaftliche Macht verankert; es war Korporatismus in Reinkultur. Das geht auf Charles de Gaulle zurück, der ein großer Korporatist und Colbertist war, auf seine Allianz mit den Kommunisten 1945. Die Arbeitslosenversicherung war eine Maschine, die den Gewerkschaften Jobs, Macht und Ressourcen verlieh. Da steckte ordentlich Geld dahinter. Bis Macron Präsidentschaftskandidat wurde, galt das als eine heilige Kuh. Was er hier vollbringt, ist wirklich bemerkenswert. Wir erleben eine historische Transformation Frankreichs.

PWP: Warum haben die Gewerkschaften sich das gefallen lassen?

Wyplosz: Eine Erklärung ist, dass Macron nun einmal eine demokratische Legitimation besitzt, und dagegen können sich auch die Gewerkschaften nicht stellen. Das ist auch der Grund, warum er sich mit allem so beeilt: Es soll gar nicht erst aus dem Blick geraten, dass er genau für diese Dinge das Mandat der Wähler hat. Seine Popularität nimmt naturgemäß deutlich ab, und je länger es dauert, desto eher werden die Leute die Legitimität seiner Vorhaben in Zweifel ziehen. Eine weitere, damit verknüpfte Erklärung ist, dass die Gewerkschaften – außer den Hardlinern von der CGT – erkannt haben, dass sie nur in Verhandlungen noch etwas erreichen können. Nun wird man sehen müssen, was sich aus alledem ergibt. Es gibt ja auf der einen Seite das, was man sich wünschen kann, und was sich wahrscheinlich auch Macron persönlich wünscht, und auf der anderen Seite das, was dann 2018 nach allen Verhandlungen aus dem Hut gezaubert wird. Es ist denkbar, dass das zwar eine wirkliche Reform sein wird, dass sie aber nur einen begrenzten Umfang haben kann, weil es eine zu mächtige Gegnerschaft zu verhindern gilt, wie sie dann zustande käme, wenn die reformorientierten und die revolutionären Gewerkschaften gemeinsame Sache machten.

PWP: Ohne politische Rücksichten geht es nicht. Und das ist doch schon eine ziemlich gute Bilanz.

Wyplosz: Allerdings. Einem großen Staatsmann gelingt eine Reform; manchmal gelingen ihm auch zwei, ganz selten drei innerhalb seiner Amtszeit; niemals sind es mehr. Macron hat mit dem Arbeitsrecht und der Sozialversicherung zwei große Reformen am Wickel. Außerdem hat er ja auch noch steuerlich einiges vor, und er hat sich verpflichtet, den Staatsanteil zu senken. Da ist sein Ehrgeiz freilich nur moderat. Wie auch immer, damit erlebt Frankreich schon vier ökonomische Reformen von historischem Ausmaß. Auf anderen Feldern ist der Präsident auch nicht untätig, im Bildungswesen geht es rasant voran, im Gesundheitswesen ebenfalls.

PWP: Auch in der Politik selbst hat er aufgeräumt, mit dem Gesetz zur „Moralisierung des politischen Lebens“, das unter anderem die Ämterhäufung auf den verschiedenen Gebietskörperschaftsebenen unterbindet, die schon lange ein Ärgernis war.

Wyplosz: Ja, und das ist recht und schön, aber man darf nicht naiv sein, die Politiker werden rasch wieder ihre Wege finden, wie sich das umgehen lässt. Aber die anderen genannten Reformen – selbst wenn nichts weiter kommt, ist das schon hinreichend dafür, dass Macron in zwei Jahren als Landesvater in die Geschichtsbücher eingehen wird, der Frankreich von Grund auf verändert hat. Das ist absolut außergewöhnlich. Ich glaube, das ist genau sein Plan. Er will am Anfang alles durchziehen, was politisch schwierig ist, und es macht ihm gar nichts aus, dass seine Popularität deshalb sinkt. Das ist voll einkalkuliert. Zwei Jahre lang wird er der willensstarke Reformer sein, und dann kann er drei Jahre lang kleine Geschenke verteilen, sodass er am Ende seines ersten Mandats, nach fünf Jahren, auch wieder populär ist. So lautet, glaube ich, seine Wette. Und das ist ziemlich intelligent.

PWP: Was fehlt nach Ihrer Meinung noch in seinem Reformprogramm?

Wyplosz: Was die Rückführung des Staatsanteils angeht, ist Macron nach meinem Empfinden noch viel zu zurückhaltend, aber es ist in Frankreich überhaupt das erste Mal seit 1945, dass ein Präsident sich dergleichen überhaupt zum Ziel macht. Insofern wird auch diese Reform historisch sein.

PWP: Der französische Präsident hat auch schon viel davon gesprochen, der Europäischen Union frischen Wind geben zu wollen, und kurz nach der Bundestagswahl in Deutschland hat er hierzu auch eine Grundsatzrede gehalten. Wie bewerten Sie seine Vision für Europa?

Wyplosz: Er hat keine. Das gehört zu den Sorgen, die man sich machen muss. Macron steht zu Europa und hat das schon im Wahlkampf sehr deutlich gemacht. Das ist sehr wichtig und das hat es seit langem nicht gegeben. Aber sonst? Sein Blick auf Europa ist sehr französisch, colbertistisch, zentralistisch. Nach dieser Vision steht Frankreich am Steuerrad des Zentrums. Diese Position hat sich schon immer so in die Praxis umgesetzt, dass man erstens ein paar neue Ämter und Posten durchgesetzt hat, einen Präsidenten, einen Minister für irgendetwas, Hauptsache zentral angesiedelt; und oft sind die regelversessenen Deutschen da sogar mitgegangen, weil die Zentrale eben für Regeln sorgt. Das hat seit fünfzig Jahren nicht funktioniert und wird auch nie funktionieren. Mehrfach haben die anderen EU-Partner hierfür die Türe zugemacht, aber die Franzosen kommen mit dieser Geschichte immer wieder zum Fenster herein. Zweitens hat man dafür zu sorgen versucht, dass die Rahmenbedingungen überall in der EU so schlecht sind wie in Frankreich mit seiner verkorksten Wirtschaft, seinen funktionsunfähigen Arbeitsmärkten und seiner erdrosselnden Besteuerung. Deshalb immer wieder die Leier von Steuerharmonisierung, Sozialdumping und koordiniertem Arbeitslosengeld. Auch so kann man seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern: Man bringt die anderen dazu, dass sich alle ins eigene Knie schießen. Dann haben wir wenigstens alle ein Loch im Knie und sind darin Brüder.

PWP: Kann man das von Macron so sagen? Er versucht doch, die Wirtschaft Frankreichs wirklich fit zu machen.

Wyplosz: Richtig, zuhause kämpft er sehr dafür, aber es ist ihm noch kein bisschen gelungen, dieses konstruktive Denken auch auf Europa zu übertragen. Bisher hält er sich an die Tradition des französischen Außenministeriums, das für die Europapolitik entscheidend ist. Was er bisher vorgeschlagen hat, geht in eine falsche Richtung oder wird bestenfalls nutzlos sein. Vor allem seine protektionistischen Töne sind beunruhigend, zumal sie zur Unzeit kommen: Die in dieser Hinsicht immer verlässlichen Briten können wegen des Brexit nicht mehr gegenhalten. Der Brexit ist ein massives Scheitern Europas. Er zeigt uns, dass wir in Europa hinreichend viel falsch gemacht haben, um ein Land zu vertreiben, das zwar niemals enthusiastisch mit von der Partie war, aber über ein relativ gesundes Verständnis dessen verfügte, wie ökonomische Integration aussehen kann. Ohne die Briten werden auch die Deutschen leichter der protektionistischen Versuchung erliegen, und die kleinen freihändlerischen Nordstaaten bringen nicht genug Gewicht auf die Waage und werden wie üblich in einem Kuhhandel ruhig gestellt. So fordert Macron die Kontrolle ausländischer Investitionen in strategischen Bereichen der EU, und man muss sich klar machen, dass Frankreich vor zwei Jahren die Joghurtproduktion von Danone zum strategischen Bereich der heimischen Wirtschaft erklärt hat. Oder nehmen Sie seine Verbalattacke auf Polen und den Ruf nach harmonisierten Mindestlöhnen, auch das ist verheerend. Für mich heißt all das, Macron hat noch nicht richtig nachgedacht, oder er spricht mit den falschen Leuten. Das ist höchst bedauerlich, denn er gilt überall in Europa als Hoffnungsträger und könnte diesen Rückenwind für eine historische Gelegenheit nutzen.

PWP: Was würden Sie ihm denn raten? Was wäre Ihre Vision für Europa?

Wyplosz: Man muss sehen, dass die Euroskepsis überall zunimmt und den Nationalismus fördert, dieses unselige Vermächtnis des 19. Jahrhunderts. Ich hatte immer gehofft, dass mein großes Ideal, die europäische Einigung, dieses zerstörerische Denken auflösen könnte. Aber von wegen – der Nationalismus wuchert wieder überall. Vor diesem Hintergrund ist jetzt ganz gewiss nicht der richtige Zeitpunkt für eine neue Stufe der Vertiefung der europäischen Integration durch weiteren Kompetenz- und Souveränitätstransfer von den Nationalstaaten auf die EU. Das erschiene mir selbstmörderisch; es würde die Skepsis und den Zorn gegenüber Europa nur noch mehr befeuern. Das wird genährt von einer gigantischen Anzahl an Funktionsmängeln, die sich dadurch erklären, dass die europäischen Institutionen und Regeln nicht aus einem Guss sind, sondern schrittweise gewachsen. Es ist ganz normal, dass da nicht alles konsistent ist. Seit 1958 hat man immer wieder eine neue Schippe Europa draufgetan und das Ganze dann „Acquis communautaire“ genannt, also „Errungenschaft“, womit gemeint ist, dass es gar nicht in Frage kommt, davon jemals Abstriche zu machen. Darunter sind viele kleine Regulierungen, die den Bürgern das Leben schwer machen und die Europa insgesamt als Nervensäge erscheinen lassen, zum Beispiel wenn Brüssel vorschreibt, wieviel Liter Wasser in einen Spülkasten gehören. Das ist einfach irre. Ich verstehe zwar die Absicht dieser Vorschrift; es geht bloß darum, in einer kleinen gemeinsamen Anstrengung insgesamt deutlich weniger Wasser zu vergeuden. Aber das ist eine bürokratische Logik, weit weg von den Menschen, so wie die ganze europäische Konstruktion einer bürokratischen Logik entspringt. Wenn wir in einer idealen Welt lebten, wäre es mir am liebsten, man würfe den ganzen Acquis aus dem Fenster und entwickelte etwas Konsistentes, Sinnvolles und Funktionsfähiges neu. Das geht natürlich nicht. Aber es bedarf dringend eines Großreinemachens. Das ist es, worauf sich Anstrengungen richten müssen.

PWP: Und wie soll das gehen?

Wyplosz: Die Aufgabenverteilung muss neu zugeschnitten werden. Einige Aufgaben gehören neu auf die supranationale Ebene. Hier steht zum Beispiel die Vollendung der Bankenunion an, mit der vollen Verlagerung der Zuständigkeit für die Regulierung, Aufsicht und Abwicklung von Banken auf die EU, auch gegen die Bedenken der Deutschen. Ich glaube, alle Ökonomen sind sich heute einig, dass dies geboten ist. Zusammen mit einigen Kollegen habe ich das auch schon in einem 1998 veröffentlichten Bericht geschrieben[1]. Als wir allerdings unsere Ideen für den Bericht am European Monetary Institute vorstellten, der Vorläufereinrichtung der EZB, hat uns Tommaso Padoa Schioppa, der für Banken und Finanzmärkte zuständig war, mehr oder weniger verbieten wollen, darüber zu sprechen. Es handele sich um ein explosives politisches Thema; wenn das auf den Tisch gelange, könne es passieren, dass die Währungsunion nicht zustande komme. Wir haben die Passage in unserem Bericht dann um die Einschätzung verlängert, dass wir ohne solche Vorkehrungen mutwillig in eine Bankenkrise steuern, und dass aber spätestens dann das Notwendige geschehen werde. Exakt so ist es gekommen. Was die Aufgabenteilung in der EU angeht – es gibt auch noch die Möglichkeit der „Sunset clauses“ für die Vorschriften des Acquis communautaire, also die Maßgabe, dass man sie jeweils nach zehn, zwanzig Jahren neuerlich unter die Lupe nimmt und gegebenenfalls abschafft. Wenn man sich darauf einigen könnte, wäre das schon ein großer Fortschritt. Andere Kompetenzen müssen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden.

PWP: Welche?

Wyplosz: Nicht nur die Regelungskompetenz für so absurde Kleinigkeiten wie die Wassermengen in den Spülkästen, sondern auch zum Beispiel das ganze große Paket der Agrarpolitik, die genauso missraten ist wie die Strukturpolitik. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, diese Zuständigkeit weiter auf europäischer Ebene anzusiedeln, wo wir uns endlos darüber streiten, obwohl die Landwirtschaft gerade einmal ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Ich bitte Sie! Außer den Franzosen und den Polen will auch niemand die unsinnige europäische Agrarpolitik. Warum sagt man dann den Franzosen nicht, wenn sie ihr Geld wirklich unbedingt dafür ausgeben wollen, ihre Bauern zu subventionieren, dann sollen sie das gern tun, aber aus dem eigenen Portemonnaie? Das würde so manche Inbrunst zügeln. Und von überragender Bedeutung ist natürlich das Thema Budgetdisziplin. Es geht doch nicht an, dass Brüsseler Bürokraten den Regierungen in den europäischen Hauptstädten sagen, wie sie mit ihrem Budget umzugehen haben. Darüber zu bestimmen, ist allein das Recht der nationalen Parlamente. In allen Ländern Europas hat es Revolutionen geben, mit denen die Bürger dieses Recht erkämpft haben.

PWP: Dass es supranationale Vorschriften zur Budgetdisziplin gibt, hat aber doch etwas mit der Gemeinschaftswährung zu tun, dem Euro. Ohne Konvergenz auch in der Haushaltspolitik ist dieses Projekt nicht tragfähig, das haben wir doch erlebt. Sehen Sie da keine Spannungen?

Wyplosz: Doch, aber das ist nicht der Punkt. Natürlich braucht es Budgetdisziplin in jedem Land, und die EU muss sich die Mittel geben, das auch durchzusetzen, und sei es durch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Aber jedes Parlament sollte dafür die Instrumente nutzen können, die ihm angemessen erscheinen. Ein Vorbild bieten da die Vereinigten Staaten, wo 49 Bundesstaaten ihr eigenes Gesetz zum Budgetgleichgewicht haben und der Supreme Court für die Durchsetzung sorgt. Diese Gesetze stammen aus dem 19. Jahrhundert, als man sich noch zu Pferde fortbewegte und nicht allzu viel von Ökonomie verstand. Wir könnten das heute also sogar besser.

PWP: Und wie bekommen wir Sanktionen hin, die tatsächlich greifen?

Wyplosz: Wer keine Budgetdisziplin hinbekommt, wird es bedauern, zumal er in einem solchen System nicht damit rechnen kann, dass ihm jemand hilft. Das ist die entscheidende Sanktion. Die Amerikaner haben dieses No-Bailout-Prinzip schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt, und es funktioniert insgesamt sehr gut. In der EU, wo das No-Bailout-Prinzip ja auch in den Verträgen steht, haben wir einen dramatischen Fehler gemacht, als wir angefangen haben, Griechenland aus der Patsche zu helfen. Die Griechen hätten selber mit ihrer Verschuldungskrise klarkommen müssen, wie auch immer. Mit der Hilfe haben wir fatale Anreize gesetzt. Das ist die Essenz des ökonomischen Denkens: Wer fatale Anreize setzt, erntet fatales Verhalten. Das No-Bailout-Prinzip ist der Schlussstein der Währungsunion; es hält die Konstruktion zusammen.

PWP: Man hätte Griechenland also fallen lassen sollen, und zwar gleich und ohne zu zögern?

Wyplosz: Absolut. Man hatte Angst vor den Kreditausfällen; die deutschen und die französischen Banken hätten viel Geld verloren. Sie hätten es den Griechen eben gar nicht erst ausleihen dürfen, so ist das nun einmal auf dem Finanzmarkt. Wer schlecht anlegt, verliert seinen Einsatz. Man muss die Konsequenzen tragen. Mit der europäischen Rettungspolitik haben wir vor allem die deutschen und die französischen Banken gerettet, zu Lasten des griechischen Steuerzahlers. Das war ein Fehler von historischem Ausmaß. Und für die griechischen Bürger war es ein Drama. Was wir unter dem Druck des deutschen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble mit den Griechen gemacht haben, all die erzwungenen Maßnahmen, die den Bailout Griechenlands begleiteten, das war eine Katastrophe. Es wäre wünschenswert, in Zukunft keinen Juristen zum Finanzminister zu machen, sondern jemanden, der etwas von Ökonomie versteht und zu einer verantwortungsvollen Analyse in der Lage ist.

PWP: Sie sind hart.

Wyplosz: Oh nein. Die damaligen Fehlentscheidungen haben Millionen an Menschen in Elend und Verzweiflung gestürzt – und die politisch Verantwortlichen müssen dafür nicht haften. Wenn Sie einen Apfel stehlen, werden Sie bestraft, nicht aber die Politiker, die das Leben von Menschen zerstören, sei es physisch oder materiell. Wir haben doch einen Rettungsring an Bord, und wenn ein Unfall geschieht, dann ist es eine menschliche Pflicht, dass man dem Opfer den Rettungsring zuwirft und es vor dem Ertrinken bewahrt. Wir können das, und nur mit diesem Ziel ergeben die Fortschritte in der modernen Ökonomie überhaupt Sinn. Wir wären sehr wohl in der Lage gewesen, Griechenland wieder in die Spur zu bringen, ohne den Menschen dort eine solche Katastrophe zuzumuten.

PWP: Sie hätten keine Angst vor Ansteckungseffekten gehabt?

Wyplosz: Nein. Griechenland ist klein. Es hätte eine Umschuldung oder einen Schuldenerlass geben müssen; das ist keine Hexerei. Vielleicht wäre die Deutsche Bank eingegangen, vielleicht auch die Société Générale. Ich hätte nicht um sie geweint. Ich beweine die griechischen Bürger.

PWP: Moment – kann man das so trennen? Macht Ihnen das Systemrisiko gar keine Sorgen?

Wyplosz: Doch, natürlich, die Deutsche Bank ist unzweifelhaft von systemischer Bedeutung. Aber man hätte darüber nachdenken müssen, wie man damit umgeht, statt das Problem sofort auf die armen Griechen abzuwälzen. Das war völlig inakzeptabel. Wir wissen doch heutzutage, wie man systemische Banken auffängt oder abwickelt; wir hätten das schon auch für eine marode Deutsche Bank hinbekommen. Möglicherweise hätten die deutschen und französischen Steuerzahler das zu spüren bekommen, aber vielleicht wäre es auch ohne große Last gegangen. Die Schweizer haben das im Jahr 2009 nach der Finanzkrise im Fall der UBS auch hinbekommen, ohne dass der Steuerzahler belastet wurde. Stattdessen ist es im Umgang mit Griechenland zu einem Szenario gekommen, wo die Großen die Kleinen zerquetschen. Das wirft ein schlechtes Licht auf Europa. Und das zu Recht.

PWP: Was den Bailout selbst angeht – es war freiwillige Hilfe, und die ist ja nicht verboten[2]. Oder ist das zu spitzfindig?

Wyplosz: Der Punkt ist vor allem: In den Verträgen ist der No-Bailout – vielleicht nicht für Juristen, aber gewiss doch für die Politik – schlicht nicht eindeutig genug formuliert. No-Bailout, Stabilitätspakt und Solidaritätsklausel ziehen in unterschiedliche Richtungen. Wenn wir nicht länger zusehen wollen, wie das No-Bailout-Prinzip und die Vorschriften des Stabilitätspakts umgangen werden, was dem Geist der Verträge vollkommen zuwiderläuft, dann müssen wir für Eindeutigkeit sorgen. Und dafür brauchen wir klare Vorstellungen. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, dass es, solange es noch Nationalstaaten in Europa gibt, wie gesagt ausschließlich die nationalen Parlamente sind, die über die legitime Budgethoheit verfügen.

PWP: Wie bekommen wir für eine solche tiefgreifende Renovierung der Verträge die notwendige Zustimmung der Mitgliedstaaten hin?

Wyplosz: Ich weiß das nicht, ich bin kein Politiker. Es scheint mir aber durchaus machbar. Wenn Macron etwas von dieser Art vorschlagen würde, käme es in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten zwar erst einmal zu erheblichen Vibrationen. Wahrscheinlich gäbe es keine einhellige Zustimmung, vor allem nicht aus dem Süden. Aber den Deutschen müsste die Idee grundsätzlich gefallen, denn das Prinzip der Eigenverantwortung spielt in der deutschen Politik eine große Rolle – auch wenn der mittlerweile hoch zentralisierte deutsche Föderalismus die Folie auch für den europäischen Bailout abgegeben hat; ich erinnere nur an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992, das den Bund für das überschuldete Saarland in die Pflicht nahm. Die nördlichen EU-Mitgliedstaaten würden einem solchen Vorstoß, wenn Macron ihn unternähme, ebenfalls viel abgewinnen können.

PWP: Haben Sie Sympathie für die Hoffnungen vieler Schweizer, die sich als glückliche Trittbrettfahrer sehen, wenn die Brexit-Verhandlungen für mehr institutionelle Flexibilität der EU sorgen? Sodass es vielfältigere Formen der Zusammenarbeit gibt, verschiedene Integrationsniveaus je nach Politikfeld?

Wyplosz: Ja und nein. Nein, weil ich ziemlich sicher bin, dass die Brexit-Verhandlungen auf ein Ergebnis hinauslaufen werden, das deutlich ungünstiger ist als das, was die Schweizer mit ihren bilateralen Verträgen haben. Ja, weil ich hoffe, dass es jetzt zu dem genannten Großreinemachen kommt. Und ja auch deshalb, weil es dann vielleicht tatsächlich in manchen Bereichen auch zu flexibleren Formen der Zusammenarbeit kommen wird, also zu einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Das hat es ja auch schon in der Vergangenheit gegeben: Die Schweiz ist nicht in der EU, aber Mitglied im Schengen-Raum; und die Währungsunion umfasst nicht die ganze EU.

PWP: Wie sehen Sie die Politik der Europäischen Zentralbank in dieser Gemengelage?

Wyplosz: Mario Draghi macht genau das Richtige, und das war nicht leicht, dafür hat er sein Haus erst einmal umbauen müssen. Wir haben drei Jahre verloren.

PWP: Und seine Ankündigung im Sommer 2012, alles zu unternehmen, um den Euro zu retten – der berühmte Satz mit den Worten „whatever it takes“?

Wyplosz: Auch das war völlig richtig. Es gehört doch zum Einmaleins der Ökonomie, dass genau das eine Zentralbank ausmacht: Sie kann jederzeit in unbeschränkter Menge Geld schöpfen. Wenn die Finanzmärkte ins Schwanken geraten, kann sie zur Notenpresse greifen, anders als die Regierung. Und es genügt, dass sie das ankündigt, damit sich die Märkte beruhigen. Schon ist das Problem aus der Welt. Wir wissen auch nicht erst seit gestern, dass das so funktioniert. Und diese Ankündigung, dieses „whatever it takes“, die hätte es gleich am ersten Tag der Krise geben müssen.

PWP: Die Vorstellung, dass die Märkte mit Geld geflutet werden, bereitet gerade vielen Deutschen Sorge. Wird es möglich sein, all diese Liquidität zur rechten Zeit wieder einzusammeln, oder steuern wir damit doch am Ende in eine große Inflation?

Wyplosz: Dieses vulgärökonomische Denken, in Deutschland in der Tat weit verbreitet, gerade auch unter älteren Wissenschaftlern, ist wirklich etwas mühsam. Dass es einen Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisniveau gibt, stimmt natürlich, aber nur unter normalen Bedingungen. Allein, wir befinden uns eben nicht in normalen Bedingungen. In einer Krisensituation können Sie am Fließband Geld drucken, ohne Inflation zu verursachen, und wenn die Preise tatsächlich anziehen, nehmen Sie die Liquidität wieder aus dem Markt. Technisch ist das überhaupt kein Problem.

PWP: Klar – aber politisch?

Wyplosz: Es kann schon sein, dass die politische Lage dann diffizil ist. Zum Beispiel könnte man befürchten, dass eine Verringerung der Liquidität eine Krise in Italien verursacht. Politisch würde man dann abwägen wollen, ob man nicht ein wenig mehr Inflation dafür hinnimmt, dass man das verhindert. Aber so wie ich die Verantwortlichen in der EZB kenne, habe ich keinen Zweifel, dass sie in einer solchen Situation alles tun werden, „whatever it takes“, um die Preise zu dämpfen. Das ist ihr Mandat, und daran halten sie sich, auch Mario Draghi, selbst wenn er zusehen muss, wie Italien auf die Nase fällt. Davon bin ich absolut überzeugt. Eine Garantie dafür kann ich natürlich nicht bieten. Man muss schon ein bisschen Vertrauen haben. Dass die Deutschen in ihrer Regelversessenheit gerne eine Garantie hätten, wundert mich allerdings nicht. Wenn es eine präzise Regel gibt, dann folgen sie ihr, es sei denn, es passt ihnen gerade nicht in den Kram. Aber für außergewöhnliche Situationen kann es nun einmal keine Regeln geben, da ist kluges diskretionäres Handeln gefragt. Es ist verfehlt, die EZB immer nur misstrauisch durch die Brille zu betrachten, wie man ihr ein möglichst enges Korsett anlegen kann. Ich sehe die EZB als eine Institution voller intelligenter Menschen, die wissen, was sie tun, und die auch ganz ohne Zweifel das Notwendige unternehmen werden.

PWP: Was macht Sie da so sicher außer Ihrer Menschenfreundlichkeit und der Tatsache, dass Sie die Leute kennen? Meinen Sie, dass die Institution ihr eigenes Ethos entwickelt?

Wyplosz: Nein, es ist einfach ihr Mandat, mit der geldpolitischen Strategie, die festgeschrieben ist.

PWP: Aber genau das ist eine Regel.

Wyplosz: Ja, aber eben eine sehr bewegliche, nichts Rigides. Man muss sie interpretieren und klug mit ihr umgehen, und das setzt menschliche Urteilskraft voraus. Ohne die geht es nicht.

Mit Charles Wyplosz sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Charles Wyplosz wurde von Christian Bonzon fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Europäer, Makroökonom, Winzer

Charles Wyplosz

„Ich bin ein überzeugter Europäer“ – auch in Zeiten der Griechenland-Rettung, des Debakels um das Dubliner Übereinkommen, der Rechtsstaats-Demontage in Polen und Ungarn sowie des ungelösten Brexit sagen das noch immer viele Menschen. Man streitet allenfalls darüber, welches Europa man denn gern hätte. Wenn der Genfer Makroökonom Charles Wyplosz diesen Bekennersatz mit Verve spricht, als in der Schweiz lebender Franzose mit polnischen Wurzeln, dann steckt darin eine weit ausgreifende, aus den nationalistischen Verheerungen des 20. Jahrhunderts gespeiste Zukunftsvision: „Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa schaffen und die Nationalstaaten verschwinden lassen könnten, wäre ich sehr dafür.“

Doch Wyplosz ist realistisch und besonnen genug, um anzuerkennen, dass es das gesamte europäische Einigungsprojekt torpedieren und im Kampf gegen den Nationalismus geradezu kontraproduktiv sein müsste, ausgerechnet jetzt rasant vorzupreschen. Die Institutionen seien reparaturbedürftig; die Nähe Brüssels zur Bevölkerung bleibe unzureichend; überhaupt fehle es an einer europäischen Öffentlichkeit. Europa ist sein Thema: Seinem mit Michael Burda verfassten makroökonomischen Lehrbuch[3] hat er einen dezidiert europäischen Twist gegeben, und gemeinsam mit Richard Baldwin hat Wyplosz ein Standardwerk zur Ökonomik der europäischen Integration[4] geschrieben. „Das gab es noch nicht; das fehlte“, sagt er.

Geboren 1947 in Vichy, war Wyplosz eine Karriere in den Wirtschaftswissenschaften nicht vorgezeichnet. Ökonomische Fragen wurden weder in der Familie noch in der Schule groß erörtert. Der Vater war Ingenieur, und der Sohn, ein guter Schüler, tat es ihm nach, indem er zunächst an der École Centrale des Arts et Manufactures, einer der „Grandes écoles“ in Paris, ein Ingenieursstudium absolvierte. Befriedigend fand er das nicht: „Ich stellte fest, das mich das absolut nicht interessierte. Ich wollte etwas machen, was gesellschaftlich nützlich wäre.“ Ausgerechnet die Studentenunruhen brachten ihn auf den passenden Weg. Als Mitglied eines studentischen Komitees, das die

Lehrpläne umbauen wollte („wir machten Revolution“), setzte er ein neues Curriculum für Urbanistik durch, zu dem ein Ökonomik-Kurs gehörte. „So bin ich in den Zaubertrank gefallen – und nie wieder herausgeklettert.“

Die Ökonomik als Sozialwissenschaft, mit mathematischen Instrumenten zu betreiben, habe ihn sofort in den Bann gezogen, erzählt Wyplosz. „Um ein guter Ökonom zu werden, braucht es vor allem Logik. Man muss akzeptieren, sich von ihr leiten zu lassen und weniger von Gefühlen“, erklärt er. Von da an war auch sein Weg in die monetäre Makroökonomik gespurt: Das Geld, der Zins, die Arbeitslosigkeit – all das fand Wyplosz schlichtweg faszinierend. Geldpolitik, Fiskalpolitik, monetäre Kooperation, Finanzkrisen wurden die wissenschaftlichen Themen seines Lebens, konkretisiert unter anderem an den Entwicklungen in Europa, insbesondere in der Währungsunion. Die ökonomische Logik im Dienst der Gesellschaft hat ihn dabei zu einem Fürsprecher des schlanken Staats gemacht.

Dem Ingenieursabschluss ließ Wyplosz zunächst noch ein Statistikstudium folgen, während dessen er sich ökonomisch weitgehend selbständig weiterbildete. „Über monetäre Fragen habe ich viel gelesen, alles, was ich nur auftreiben konnte, ohne genau zu wissen, was ich da aussuchte und auch ohne viel zu verstehen“. Das Doktorandenstudium an der Harvard University 1975-78 sorgte für ein solides Fundament; dort wurde der etwas jüngere Olivier Blanchard sein Sparringspartner. Am benachbarten Massachusetts Institute for Technology (MIT) fand Wyplosz in dem aus Deutschland stammenden Makroökonomen Rudi Dornbusch einen gestrengen Betreuer, wobei offiziell Henrik Houthakker als Doktorvater auftrat. In seiner Dissertation entwickelte er „Three Theories of the Trade Balance and their Synthesis“.

„Dornbusch war beeindruckend in jedem Sinne. Wenn man in der Forschung am Anfang steht, ist es wichtig, dass man auf so jemanden trifft, der keine Kompromisse macht. Davon bin ich bis heute überzeugt“, sagt Wyplosz. Dornbusch hatte auch insofern prägenden Einfluss auf ihn, als er praktisch vorlebte, dass man nicht im Elfenbeinturm verharren muss, sondern eine Karriere als klassischer Forscher und Politikberater gleichzeitig haben kann. Auch Blanchard, ebenfalls ein Dornbusch-Schüler, hat das so gehalten – als MIT-Professor und Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF). Und wie Dornbusch und Blanchard ist Wyplosz darum bemüht, nicht nur Politiker zu beraten, sondern auch in die breite Öffentlichkeit hinein zu wirken. Bis heute ist er ein flott formulierender Kolumnist für verschiedene Medien. Die europäische Debattenplattform „Telos-EU“[5] in englischer und französischer Sprache, für die er regelmäßig schreibt, hat er im Jahr 2005 mitbegründet.

Zurück in Frankreich, zog es Wyplosz ans Institut Européen d‘Administration des Affaires (INSEAD) in Fontainebleau. Dort wurde er 1988 zum Professor für Volkswirtschaftslehre ernannt. Im Jahr 1995 wechselte er an das Institut de Hautes Études Internationales et du Développement der Universität Genf, wo er 1998 die Leitung des Centre International d'Études Monétaires et Bancaires übernahm. Daneben ist er langjähriges Mitglied und seit 2016 auch Policy Director des Center for Economic Policy Research (CEPR). Im Laufe seiner Karriere war Wyplosz Mitglied zahlreicher Beratungsgremien, unter anderem der Commission Économique de la Nation, die im Pariser Finanzministerium angesiedelt ist, des Conseil d’Analyse Économique, der dem französischen Premierminister zuarbeitet, des Committee for Economic and Monetary Affairs des Europäischen Parlaments, des Beraterstabs des Präsidenten der Europäischen Kommission, mehrerer Komitees des französischen Staatspräsidenten und des IWF. Von 2011 bis 2015 war er Mitglied im Advisory Scientific Committee des European Systemic Risk Board (ESRB).

Aber das ist nur die eine Seite von Charles Wyplosz. Die andere: Seit 2006 ist er auch Winzer. Gemeinsam mit seiner Frau Claire-Lise, einer Psychologin, und einem befreundeten Ehepaar hat er im Norden der Provence, wo sie schon seit langem ihre Ferien verbringen, das Weingut „Domaine Gris des Bauries“ aufgebaut. Wyplosz reagiert etwas empfindlich, wenn man von einer Liebhaberei spricht – es ist ein zweiter, ernsthafter, zeitaufwendiger und physisch zudem anstrengender Beruf. Wyplosz liebt die Arbeit mit ihrer sinnlichen Komponente: „Ein Bottich, in dem es gärt, ist warm; die Schalen schwimmen obenauf; man hält die Nase daran und die Hände hinein; am Abend, wenn man nach Hause kommt, ist man rot von Kopf bis Fuß, kein Kleidungsstück entgeht der Farbe. Man hat diesen körperlichen Kontakt mit einer Materie, die warm ist, die sich verändert, aus der etwas wird“.

Trotzdem sieht er auch eine Verbindung zu seinem ersten Beruf. „In der Ökonomik stellt man sich eine komplizierte Frage, die man so vereinfacht, dass man sie beantworten und Schlüsse ziehen kann. Im Weinkeller ist es ähnlich. Da gibt es viel zu berücksichtigen, man kann an Tausenden von Stellen Einfluss nehmen. Man probiert herum und beobachtet, was passiert; man versucht, das zu analysieren; man hat eine Idee von dem, was am Ende herauskommen soll; man passt sich an und bemüht sich, das Richtige tun – das ist dieselbe Art, nachzudenken, derselbe intellektuelle Ansatz.“ Sein einziges Bedauern ist, dass sein Dasein als Winzer erst so spät in seinem Leben begonnen hat. Wie in der akademischen Welt brauche man viele Jahre, um eine Reputation aufzubauen, und erst dann verdiene man womöglich auch Geld. Auf seinem Weingut stelle sich der Erfolg nunmehr schon nach gut zehn Jahren ein. Aber Wyplosz ist 70 Jahre alt, und es gibt in den beteiligten Familien niemanden, der einmal übernehmen kann oder will. „Sie haben Recht, denn es ist eine ziemliche Plackerei und Sklaverei. Aber für uns heißt das, wir haben den mühsamen Teil erlebt und den Anfang des angenehmen Teils, aber das war’s“, sagt er mit Wehmut. (orn.)

Published Online: 2017-12-1
Published in Print: 2017-11-30

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 25.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2017-0056/html
Scroll to top button