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Licensed Unlicensed Requires Authentication Published by De Gruyter Oldenbourg October 14, 2016

„Revanche pour Sedan“ – Frankreich und der Schlieffenplan. Militärische und bündnispolitische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs

„Revanche pour Sedan“ – France and the Schlieffenplan. Military and Political Preparations for World War One
  • Rainer F. Schmidt EMAIL logo
From the journal Historische Zeitschrift

Zusammenfassung

In der mehr als einhundertjährigen Debatte über die Gründe und die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb ein wesentlicher Faktor bislang unberücksichtigt: die französische Detailkenntnis des Schlieffenplans. Der Beitrag entwickelt die These, dass dieses Wissen um das seit 1913 alternativlose militärische Vorgehen des Deutschen Reiches sowie die sich hieraus ergebenden Handlungszwänge für Berlin zum Kompassbuch der Außen- und Militärpolitik Frankreichs vor dem Kriegsbeginn wurde. Als Ministerpräsident und als Staatspräsident verfolgte Poincaré eine Kriegsvorbereitungs- und Erpressungspolitik gegenüber Berlin. Sie sollte nicht nur die Sicherheit Frankreichs vor Deutschland verbürgen. Ihr Ziel und ihre Perspektive waren vielmehr die einer Revanche für 1870/71, um, analog zu Bismarcks Vorgehen in der „Hohenzollernkrise“, die Berliner Reichsleitung in eine Situation zu manövrieren, in der sich diese zur Flucht nach vorne in die Kriegsauslösung entschloss. Deshalb wurde die Entente Cordiale mit England zu einem de facto-Militärbündnis ausgebaut; deshalb agierte Poincaré als Geburtshelfer der Unterhandlungen für eine Marinekonvention zwischen London und Petersburg; und deshalb gab er der Pariser Balkanpolitik eine neue Ausrichtung, indem er die seit 1893/94 bestehende Beistandsautomatik gegenüber Rußland grundlegend modifizierte. Jetzt wurden die russischen Expansionsziele auf dem Balkan als handlungsleitendes Motiv der Pariser Politik adoptiert; jetzt wurde Petersburg angespornt, gegen Wien offensiv aufzutreten; jetzt bekamen die russischen Entscheidungsträger, anders als noch in der „bosnischen Annexionskrise“, die Versicherung uneingeschränkten französischen Beistands auf dem Balkan; und jetzt wurde mit Petersburg ein mit Anleihen unterfüttertes Kompensationsgeschäft abgeschlossen, das sich sowohl diplomatisch wie vor allem militärisch gegen Deutschland richtete und die Prämissen des Schlieffenplans zunehmend aushebelte. All diese Vorkehrungen dienten dazu, die Unzulänglichkeiten der eigenen militärstrategischen Aufstellung gemäß „Plan XVII“ auszubalancieren, die offene belgische Flanke abzudichten, die eminenten Bedenken der eigenen Generalität zu zerstreuen und Frankreich in einem Krieg an der Seite Russlands und Englands eine Siegchance zu verschaffen. Vor allem aber erfüllten sie den Zweck, Deutschland herauszufordern und unter enormen Handlungsdruck zu setzen. Die von Poincaré angeheizten Einkreisungsphobien in der deutschen Führungsspitze ebneten somit Berlin den Weg in die hochriskante und nicht beherrschbare Konfrontations- und Risikopolitik der „Julikrise“. Poincarés Kalkül erfüllt den Tatbestand einer indirekten Kriegsentfesselung.

Abstract

In the last one hundred years historians have argued in a highly controversial way about the causes and the responsibilities for the outbreak of World War I. One crucial factor, however, has never been taken into consideration: the precise knowledge that France had about the so-called „Schlieffenplan“. This paper explores and highlights the argument that this knowledge enabled Poincaré’s government to develop a concise strategy of war preparation and of blackmail with regard to Berlin. Its aim was not merely to guarantee French security; its main object was rather to take revenge for the French defeat of 1870/71. According to Poincaré’s calculation, the Berlin government was to be put under pressure so as to create a situation which left only one alternative: to trigger off war or to face an outstanding and unprecedented diplomatic defeat. Thus, Poincaré’s policy between 1912 and 1914 paved the way for the strategy of brinkmanship and uncontrollable offensive pursued by Berlin in the „crisis of July“ of 1914. This puts the blame on France and Poincaré to be likewise responsible for the outbreak of the war.

Online erschienen: 2016-10-14
Erschienen im Druck: 2016-10-13

© by Walter de Gruyter Berlin/Boston

Downloaded on 19.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/hzhz-2016-0381/html
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