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Licensed Unlicensed Requires Authentication Published by De Gruyter Oldenbourg June 6, 2020

Strategien der Bewältigung des Wahrheitsproblems im (Zivil-)Prozess

  • Fritz Jost

    Nach dem jur. Studium in Freiburg i. Br., Genf und Heidelberg dort Promotion 1978 (Soziologische Feststellungen in der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen, Berlin 1979: Duncker & Humblot), zweites Juristisches Staatsexamen im selben Jahr, Habilitation in Hannover 1989 (Vertragslose Auskunfts- und Beratungshaftung, Baden-Baden 1991: Nomos). Lehrstuhlvertretungen in Bielefeld und in Berlin an FU und HUB, hier 1992 Ernennung zum Universitätsprofessor. Im selben Jahr Berufung an die Universität Bielefeld (Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Anwaltsrecht und Rechtsgestaltung, Rechtssoziologie). Leitung des Bielefelder Kompaktkurses ab 2000, hernach auch des Masterstudienganges „Rechtsgestaltung und Prozessführung“ sowie des Ausbildungsangebots „Mediation für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte“. Nach der Pensionierung 2015 weiter Lehrveranstaltungen zur alternativen Streitbeilegung. Neuere Schriften: Die anwaltliche Vertretung in der Mediation (Begleiter – Coach – Weichensteller?), Herausgabe u. Einführung zum gleichnamigen Bd. 26 der Bielefelder Schriftenreihe für Anwalts- und Notarrecht, Hamburg 2013: Kovac, 7–13; Haftung (§ 29), in: Fritjof Haft/Katharina Gräfin von Schlieffen (Hrsg.): Handbuch Mediation – Methoden, Technik, Rechtsgrundlagen, Einsatzgebiete, 3. Aufl., München 2016: C.H.Beck; Was der Anwaltsorientierung entgegensteht, in: Barton/Hähnchen/Jost (Hrsg.), Anwaltsorientierung im Studium: Aktuelle Herausforderungen und neue Perspektiven, 2016: Kovac, S. 57–72 (zusammen mit Stephan Barton); Beschädigung der Mietsache durch den Mieter während der Vertragslaufzeit – Dogmatik, Methode und Judiz in der Rechtsanwendung (im Erscheinen).

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Zusammenfassung

Luhmann hat mit seiner Abhandlung „Legitimation durch Verfahren“ die Bedeutung des Wahrheitsbezugs von Verfahren in Frage gestellt. Stattdessen verweist er als ihre Funktion auf die Immunisierung gegen Anforderungen psychischer Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. Das hat (nicht nur) Juristen herausgefordert und erzeugt bis heute Unbehagen. Ein Blick auf die Prinzipien des Zivilprozesses in Deutschland zeigt allerdings, dass hier keineswegs vorbehaltlos nach der Wahrheit gesucht wird. Inwieweit dies geschieht, liegt grundsätzlich in der Hand der Parteien. Ohnehin endet nur ein relativ kleiner Teil von Prozessen mit einem streitigen Urteil. Übereinstimmendes Prozesshandeln der Parteien bzw. Konsens macht die Wahrheitserforschung weitgehend überflüssig; sie kann die Hinnahme von Prozessergebnissen nicht erklären. In nicht auf Drittentscheidung, sondern von vornherein auf Parteikonsens gerichteten Streitbeilegungsverfahren dürfte die Wahrheitsfrage einer konfliktträchtigen Vergangenheit weitgehend durch die Suche nach Konsens für Zukunftslösungen verdrängt werden.

Abstract

Luhmann’s „Legitimation durch Verfahren” (“Legitimation by Procedure“) questions the assumption that finding out the truth is a main function of court proceedings. For him procedures have to immunize their results against individual needs for acceptance and to provide the adaption to them. This is challenging the point of view adopted by many jurists. Looking at the principles of civil litigation it turns out that seeking truth depends of the acts of the parties and may lead rather to what can be called formal truth than to a material one. Besides of that relatively few procedures in civil law have a litigious outcome. So consensus of the parties plays an important role in proceedings as well as in dispute settlement outside the court. Truth might be a feature, but cannot explain the general acceptance of the outcomes of prodcedures.

About the author

Prof. Dr. Fritz Jost

Nach dem jur. Studium in Freiburg i. Br., Genf und Heidelberg dort Promotion 1978 (Soziologische Feststellungen in der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen, Berlin 1979: Duncker & Humblot), zweites Juristisches Staatsexamen im selben Jahr, Habilitation in Hannover 1989 (Vertragslose Auskunfts- und Beratungshaftung, Baden-Baden 1991: Nomos). Lehrstuhlvertretungen in Bielefeld und in Berlin an FU und HUB, hier 1992 Ernennung zum Universitätsprofessor. Im selben Jahr Berufung an die Universität Bielefeld (Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Anwaltsrecht und Rechtsgestaltung, Rechtssoziologie). Leitung des Bielefelder Kompaktkurses ab 2000, hernach auch des Masterstudienganges „Rechtsgestaltung und Prozessführung“ sowie des Ausbildungsangebots „Mediation für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte“. Nach der Pensionierung 2015 weiter Lehrveranstaltungen zur alternativen Streitbeilegung. Neuere Schriften: Die anwaltliche Vertretung in der Mediation (Begleiter – Coach – Weichensteller?), Herausgabe u. Einführung zum gleichnamigen Bd. 26 der Bielefelder Schriftenreihe für Anwalts- und Notarrecht, Hamburg 2013: Kovac, 7–13; Haftung (§ 29), in: Fritjof Haft/Katharina Gräfin von Schlieffen (Hrsg.): Handbuch Mediation – Methoden, Technik, Rechtsgrundlagen, Einsatzgebiete, 3. Aufl., München 2016: C.H.Beck; Was der Anwaltsorientierung entgegensteht, in: Barton/Hähnchen/Jost (Hrsg.), Anwaltsorientierung im Studium: Aktuelle Herausforderungen und neue Perspektiven, 2016: Kovac, S. 57–72 (zusammen mit Stephan Barton); Beschädigung der Mietsache durch den Mieter während der Vertragslaufzeit – Dogmatik, Methode und Judiz in der Rechtsanwendung (im Erscheinen).

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Published Online: 2020-06-06
Published in Print: 2020-05-26

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sosys-2017-0011/html
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