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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag September 23, 2020

Die Brutalität der Codes

Symposiumsbeitrag zu: Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: Beck 2019, 352 S., gb., 26,00 €

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From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Symposiumsbeitrag zu: Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: Beck 2019, 352 S., gb., 26,00 €


Armin Nassehi versucht das Phänomen der rasanten Entwicklung digitaler Technologien zu klären, indem er diese als Lösung eines gesellschaftlichen Problems begreift. Seine These lautet, die Digitalisierung löst ein Problem der modernen funktional differenzierten Gesellschaft in einer dieser angemessenen Weise. D. h., die Digitalisierung passt zur funktional differenzierten Gesellschaft, denn bei dieser handelt es sich um eine solche, die Probleme durch technische Binarisierung löst. Genauer: Das Problem besteht in der Komplexität der Gesellschaft, und die Lösung besteht darin, die Komplexität durch eine technisch binarisierte Repräsentation handhabbar zu machen.

Unter Komplexität versteht Nassehi mindestens zweierlei: Komplexität 1: In einer funktional differenzierten Gesellschaften sind die Möglichkeiten, Situationen zu verstehen und damit handlungsfähig zu werden, sehr vielfältig. Es wird für die Individuen aus Fleisch und Blut schwierig zu wissen, wie sie sich zueinander verhalten sollen. Die Kontrastfolie bildet die stratifizierte Gesellschaft. Diese bildet eine allen bekannte übergreifende Ordnung aus, die es jedem ermöglicht, in jeder Situation seine eigene Position einzuschätzen. Die Akteure wissen deshalb immer, wie sie sich zu einander verhalten sollten (39). In funktional differenzierten Gesellschaften dagegen seien abstrakte Codes und Programmierungen notwendig, die als orientierende Beschreibungen fungieren. Mit deren Hilfe können sich Akteure die Situation verständlich machen und handlungsfähig bleiben. Konkret heißt das, es entwickeln sich sachproblembezogene binäre Codierungen, deren Gültigkeit Akteure einander anzeigen. Dabei orientieren sie sich an einfachen Grundformen – etwa Wirtschaft: Zahlen/Nichtzahlen, Recht: Recht/Unrecht, Politik: Macht/Nichtmacht, Wissenschaft: Wahrheit/Unwahrheit usw., usw. Die binär codierten Systeme fungieren als „Reduktionsperspektiven“ (Luhmann, 1984: 189) von Weltkomplexität und vermitteln ein Wissen darüber, was man von anderen zu erwarten hat bzw. was von einem erwartet wird.

Diese Form der Komplexitätsreduktion sorgt jedoch wieder für neue Komplexität, sozusagen Komplexität 2: Auf der Grundlage der einfachen binären Form entwickelt sich eine große Vielfalt praktischer Wirksamkeiten, denn die systemische Reduktionsperspektive bezieht die gesamte Welt ein, d. h. die ganze Welt erscheint in einer je bestimmten Perspektive. Daraus folgt, die Welt erscheint in so vielen Perspektiven, wie es Systeme mit einer binären Codierung gibt: als eine wirtschaftliche Welt, eine politische, wissenschaftliche, rechtliche usw. Also einerseits wird es komplex, weil immer gleich die Vielfältigkeit der ganzen Welt erfasst wird und andererseits, weil auf diese Weise die Welt gemäß den binären Perspektiven vervielfacht wird. Die Komplexität besteht in den multiplen Verdopplungen der Welt gemäß den jeweiligen Reduktionsperspektiven.

Die Digitaltechnik funktioniert nach demselben Muster. Sie kennt eine binäre Opposition „0/1“ und ordnet alles in diese binäre Struktur ein. Sie kann alle Phänomene dieser Welt auf diese Weise erfassen, indem, was Nassehi allerdings nicht explizit benennt, alle Phänomene auf ihre messbaren Eigenschaften reduziert werden, die sich dann digital ausdrücken lassen. Digitalisierung ist eine technische Reduktionsperspektive, die die Welt in Form von Daten verdoppelt. Dabei funktioniert sie ähnlich, wie es die Codes der Funktionssysteme tun: Reduktion auf einen einfachen binären Code, aus dem sich beliebig komplexe Muster aufbauen lassen. Mit der Digitalisierung wird die Welt neben den funktionssystemspezifischen Verdopplungen auf eine weitere Weise verdoppelt: in Form digitaler Daten.

Hierin liegt Nassehi zufolge die Strukturverwandtschaft zwischen funktionaler Differenzierung und Digitalisierung. Für eine Gesellschaft, die sich anhand binärer Codierungen selbst beobachtet, liegt es nahe, eine allgemeine binär codierte Technik der Welterfassung zu entwickeln. „Eine anders gebaute Gesellschaft hätte keine Verwendung für Digitaltechnik gehabt“ (177).

Wenn ich es richtig verstehe, unterscheidet Nassehi durchgängig zwischen dem Prallen und dem Digitalen. Für das Erstere gibt es ein ungefähres Synonym, das „‚Leben‘“ (172, Anführungszeichen im Original, GL). Das „,Leben‘“ bezeichnet die je situativen praktischen Vollzüge, in die wir als Menschen aus Fleisch und Blut oder „mit Haut und Haaren“, wie Nassehi (92) sagt, involviert sind. Z. B.: Wir finden eine Wurst lecker und wollen sie deshalb kaufen o. ä. Während wir im wirklichen ‚Leben‘ glauben, dass wir unseren Hunger stillen, weiß das Wirtschaftssystem, dass es hier nur um Zahlen/Nichtzahlen geht. Wenn es mir um die Wurst geht, komme ich an diese nur heran, wenn ich mich diesem Binarismus unterwerfe und zahle oder nicht. Selbst wenn ich die Wurst stehlen würde, käme ich aus der Wirtschaft nicht heraus, denn ich hätte unerlaubterweise nicht gezahlt, was strafbar wäre.

Also: Das Pralle bzw. das ‚Leben‘, das sinnlich zugänglich ist, erhält eine digitale Form bzw. es gibt eine digitale Repräsentation der „prallen analogen Formen“ (36). Dabei soll offen bleiben, ob es sich um funktionssystemspezifische oder technische digitale Repräsentation des Prallen handelt.

Schwierig wird es, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen dem prallen ‚Leben‘ und seiner digitalen Repräsentation zu begreifen. Nassehi gibt dazu vor allem den Hinweis, dass diese Beziehung von Brutalität gekennzeichnet ist. Diese „besteht in der Unhintergehbarkeit der Codes“ (175). Das pralle ‚Leben‘ muss sich digital repräsentieren, sonst könnten keine verbindlichen kommunikativen Anschlüsse erzeugt werden. Akteure sind brutal gezwungen, sich auf den Code Zahlen/Nichtzahlen einzulassen, sonst könnten sie nicht wirtschaftlich tätig werden. Der romantisch verträumte Jüngling, der die Welt zu einem besseren Ort machen möchte, muss sich dem brutalen Code der Macht unterwerfen und endet vielleicht als Zyniker der Macht. Denn wer politisch gestalten will, wird brutal auf den Code der Macht verwiesen – usw. für alle Funktionssysteme.

Für die technische Digitalität gilt, wer Muster in dem Gewimmel des Alltagshandelns der Menschen aus Fleisch und Blut erkennen will, ist „brutal“ auf die Digitalität der Daten verwiesen. Darin liegt die Gemeinsamkeit von funktionssystemspezifischer und technischer Digitalität. Die Besonderheit der technisch digitalen Repräsentation besteht darin, quer zu den digitalen Repräsentationen der Funktionssysteme zu liegen. Die Erstere bildet kein eigenes Funktionssystem aus, vielmehr können die Funktionssysteme sich jeweils in ihrer binär codierten Weise der technisch erzeugen Daten, d. h. der technisch-digital verdoppelten Welt bedienen. Dabei bekommen sie aber nicht das pralle ‚Leben‘ in den Blick, sondern nur dessen digitale Repräsentation. Auf diese kann die Wirtschaft gemäß der Binarität Zahlen/Nichtzahlen auf die Daten zugreifen, die Politik gemäß dem Code der Macht und die Wissenschaft entsprechend dem Code wahr/unwahr. Die binär codierten Funktionssysteme können anhand der technisch-binär codierten Daten in den Formen des prallen ‚Lebens‘ Muster entdecken, die ohne die technisch-binäre Repräsentation nicht zu entdecken gewesen wären: Muster des Kaufens, der Fortbewegung, der Familienplanung, der Freizeitgestaltung usw.

Wir haben jetzt also einen doppelten digitalen Zugriff auf das pralle ‚Leben‘, das Nassehi gelegentlich auch als analog bezeichnet. Eine direkte Beobachtung der Akteure des Alltags würde es nicht ermöglichen, die Muster hinter deren Aktivitäten zu erkennen. Deshalb bedient sich die systemische Beobachtung des prallen ‚Lebens‘ der technischen Binarisierung und macht so Muster sichtbar, die für die Funktionsweise des funktionssystemspezifischen Binarismus verwendbar sind. Um die Binarität von Zahlen/Nichtzahlen in Richtung Zahlung für die eigenen Produkte zu lenken, werden die Nutzerdaten von Plattformen digital ausgewertet, um Werbeanzeigen zu schalten usw. Das politische System bzw. die Verwaltung beobachtet das pralle Leben der Bürger, zählt diese und verwendet diese Daten als Grundlage für die Planungen im Wohnungsbau oder der zu schaffenden oder abzubauenden Lehrerstellen je nach Geburtenrate usw. Im Bundesländervergleich schaffen das die Bayern übrigens am besten.

Also, brutal geht es im Verhältnis zwischen dem ‚Leben‘ und dem Digitalen zu. Wie sieht es noch aus? Für die systemtheoretische Orthodoxie muss auf jeden Fall zudem geklärt werden, ob das pralle ‚Leben‘ einen Teil der Gesellschaft bildet oder nicht. Da Systeme der orthodoxen Lesart gemäß selbstreferentiell geschlossen zu sein haben, bleibt nichts anderes, als das Pralle in die Umwelt der Gesellschaft zu verlegen.

Es ist allerdings nicht ganz klar, ob dies auch für das Verhältnis von technischer Digitalität und prallem ‚Leben‘ gilt. Letztlich gibt es zwei Auskünfte. Mit Bezug auf den technischen Binarismus, der die Gesellschaft in die Form von Daten bringt, scheint es so zu sein, als würde das pralle ‚Leben‘ zur Gesellschaft gehören. Genau genommen bildet es die Gesellschaft, die so komplex geworden ist, dass sie dieser besonderen Darstellungsform bedarf, um überhaupt noch die Bildung von Ordnung erkennen zu können. In diesem Sinne bezeichnet Nassehi die technische Digitalisierung als „dritte Entdeckung der Gesellschaft“ (50). Wenn das ‚Leben‘ zu Daten verarbeitet worden ist, lassen sich in diesen Muster erkennen, die diejenigen, die das ‚Leben‘ leben, gar nicht sehen können. Ich würde es vorziehen, statt von Digitalisierung von vernetzten automatisierten Datenerhebungs-, Sammlungs- und Auswertungstechnologien (vaDESAT) zu sprechen. Denn es ist nicht die Digitalisierung, sondern die Anwendung solcher Technologien, die es erlaubt, in unserem Leben Muster zu entdecken, die zeigen, „wie erwartbar und berechenbar das soziale Substrat unserer Gesellschaftlichkeit ist“ (51).

Die Erwartbarkeit gibt Nassehi Anlass, auf die etwas seltsam anmutende Individualitätsversessenheit moderner Individuen hinzuweisen. Als solche sollten wir es „demütigend“ (50) finden, wenn das eigene Verhalten durch Muster bestimmt wird. Hier wird die Entdeckung der Gesellschaft durch die Digitalisierung geradezu zu einer „soziologischen Aufklärung“, denn uns wird gezeigt, wie kalkulierbar wir sind. Aus unseren datenmäßig erfassten Vorlieben lässt sich sicher ableiten, was wir auch noch haben bzw. kaufen möchten. Die Digitalisierung zeigt auf, dass wir prognostizierbare Sozialautomaten sind. Ich muss sagen, dass ich selbst das nicht so persönlich nehme. Gerade weil ich weiß, dass ich so leicht prognostizierbar bin, versuche ich, den Plattformen möglichst wenig Daten zu überlassen, damit sie mich nicht so gut wie meine Mitmenschen prognostizieren können. Vielleicht liegt diese Bescheidenheit in Sachen Individualismus daran, dass ich das Soziale eher vom Leib oder dem Habitus her denke. Da geht es nicht bzw. nicht nur um die eigene Souveränität, sondern immer auch darum, wie der Leib der Umwelt ausgesetzt ist, wie er von anderen berührt wird.

Wie sieht es nun mit dem Verhältnis von Prallem und Digitalität aus, wenn es um die Funktionssysteme geht? Hier wird die bei der systemtheoretischen Orthodoxie beliebte Diskussion um den Menschen wieder aufgegriffen. Gehört der Mensch bzw. sein pralles ‚Leben‘ zur Gesellschaft oder nicht? Die Antwort ist ein leidenschaftliches „Nein!“. Die Begründung ist mau. Der Mensch „in seiner kompakten Ganzheit“ (95) bleibt in der Umwelt sozialer Systeme. Wenn Gesellschaft sich in sozialen Funktionssystemen ordnet, bleibt der Mensch außerhalb.

Gemeint ist ein Sachverhalt, den Simmel (1983: 26ff.) bereits 1908 formuliert hat. Im gesellschaftlichen Verkehr zwischen den Menschen wird fast immer nur auf Teilaspekte abgehoben, es spielt niemals der ganze Mensch mit, sondern immer nur ein Ausschnitt. Der Mensch ist also nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern er ist sowohl innerhalb als auch außerhalb. Nassehis Beschreibungen folgen dagegen dem traditionellen Luhmannduktus. D. h., sachlich laufen sie auf den von Simmel beschriebenen Sachverhalt hinaus, die Schlussfolgerung lautet aber anders: Der Mensch befinde sich außerhalb der Gesellschaft. Für Nassehi ist letztlich eine Art soziologisches Wohlfühlargument entscheidend, denn außerhalb der Gesellschaft sei es angenehmer für die individuellen Menschen mit Haut und Haaren. „Gerade die Reduktion des Einzelnen darauf, in bestimmten Situationen nur Informationsträger zu sein, reduzierter Informationsträger in einem Netzwerk möglicher Bedeutungen, erhöht die Freiheitsgrade des Einzelnen enorm“ (92). Wenn Menschen dagegen mit „Haut und Haaren“ gesellschaftlich wären, hätte das zur Konsequenz, dass „Frauen in der Situation aufs Frausein beschränkt [wären, GL], Schwarze auf ihre Hautfarbe, Behinderte auf ihr Gefährt und Homosexuelle auf ihr Begehren“ (93).

Es ist der brutalen Reduktion auf die Codes der Systemtheorie zu verdanken, dass der Mensch selbst nicht Teil der Gesellschaft wird. Dies verhindere, dass er mit Haut und Haar diskriminiert würde. Den Menschen theoretisch in der Umwelt der Gesellschaft zu verorten, würde also verhindern, dass er praktisch von der Gesellschaft schlecht behandelt wird. Das Dumme ist nur, dass dem Menschen mit Haut und Haar im prallen ‚Leben‘ doch ziemlich oft übel mitgespielt wird. Entweder geht es außerhalb der Gesellschaft doch nicht so diskriminierungsfrei zu, wie Nassehi glaubt, oder aber das pralle ‚Leben‘ ist doch Teil der Gesellschaft, dann kann diese aber nicht auf selbstreferentiell binär codierte Systeme beschränkt werden.

Insgesamt hapert es bei Nassehis Gedankenführung in diesem Abschnitt an Konsistenz. Seine Schlussfolgerung scheint mir jedenfalls einigermaßen fragwürdig zu sein. Jemanden als ganzen Menschen zu betrachten, heißt ja gerade nicht, sie aufs Frausein oder ihn/sie auf sonst irgendein Sein zu reduzieren. Vielmehr fungiert in Situationen, in denen diskriminiert wird, der Bezug auf den Menschen, gleich an Freiheit und Würde, als kritischer Maßstab. Weil Frauen Menschen sind, ist es geboten, sie nicht aufs Frausein zu reduzieren, weil eine Lesbe ein Mensch ist, soll sie nicht auf ihr Begehren reduziert werden und weil jemand mit Behinderung ein Mensch ist, hat er einen Anspruch auf die Inklusion als Mensch bzw. als Staatsbürger.

Die Fassung, die Simmel dem Problem des Innerhalb/Außerhalb der Gesellschaft gegeben hat, ist deutlich subtiler, und sie weist auch einen Weg, wie man den Menschen fruchtbar in die Analyse der Gesellschaft einbeziehen kann. Simmel konnte ihn nicht gehen, weil er die auf das Individuum bezogene Innerhalb/Außerhalb-Konstellation für ein soziologisches Apriori hielt und ihre gesellschaftliche Situiertheit nicht gesehen hat. Um die Bedeutung des Menschen gesellschaftstheoretisch angemessen zu erfassen, muss man ein bereits genanntes Merkmal der digitalen Repräsentation in seiner Bedeutung noch einmal hervorheben. Die digitale Repräsentation erfasst die ganze Welt. D. h., sie kennt intern keine Stoppregel. Für die Wirtschaft erscheint alles Pralle der Welt einschließlich der Menschen als etwas, wo es um Zahlen/Nichtzahlen geht, für die Politik geht es um Macht/Nichtmacht usw. Das gleiche gilt für die technisch-digitale Repräsentation. Hier wird die ganze Welt zu Daten verarbeitet, die analysiert werden können. Wenn man den Menschen weglässt, sieht die Gesellschaft bzw. die Welt so aus – aufgeteilt in binäre Zurichtungen, der Rest befindet sich in der Umwelt der Gesellschaft.

Wenn man den Menschen einbezieht, verändert sich die Lage grundlegend. Wie genau dies aussieht, hängt davon ab, wie man den Menschen einbezieht. Man muss sich dazu nur von der Post-1984-Luhmann-Orthodoxie entfernen. Denn auch Luhmann hat schon einmal anders vom Menschen gesprochen. In den 1960er Jahren, noch gebannt von den Möglichkeiten des Totalitarismus, analysiert Luhmann in „Grundrechte als Institution“ (Luhmann, 1999) vor allem die Institutionen von Freiheit und von Würde her als vom politischen System selbst gesetzte Stoppregel, die es verhindern soll, dass der Erfahrungshorizont von Menschen vollständig vereinnahmt wird. Wie wenig dieser Zusammenhang für Nassehi naheliegt, dokumentiert sich in einer interessanten Rezeptionslücke, die gerade deshalb auffällt, weil sich sein Buch ansonsten durch eine bemerkenswerte breite Literaturkenntnis auszeichnet. Nassehi beschäftigt sich mit sehr vielen Dingen, nur nicht mit denjenigen systemtheoretischen Arbeiten, die seiner These widersprechen (Lindemann, 2015; Pohle, 2012; Rost, 2008). Diese beziehen sich auf die „Grundrechte als Institution“ und entwickeln von daher den Gedanken, dass die quer zu den Funktionssystemen verlaufende technische Digitalisierung die Struktur funktionaler Differenzierung unterläuft und zerstört. Funktionale Differenzierung bedarf einer institutionellen Stoppregel, die es verhindert, dass der Mensch vollständig vereinnahmt wird. Kein System bzw. keine der relevanten Organisationen soll den Menschen vollständig erfassen, damit die spezifische Innerhalb/Außerhalb-Konstellation für die Menschen gewährleistet bleibt. Dies sei die Bedingung für die Trennung unterschiedlicher Funktionssysteme mit jeweils unterschiedlichen Rollenanforderungen. In jedem Systemzusammenhang sollen nur die für diesen Systemzusammenhang relevanten Informationen zugänglich sein, um Kurzschlüsse zwischen den Systemen auszuschließen.

Eine hohe Position in der Wirtschaft soll nicht zu politischer Macht führen und nicht dazu, dass man automatisch Recht bekommt, weil man reicher ist. Dasjenige, was über den Menschen praktisch relevant gewusst wird, soll auf die Systeme bzw. die für sie relevanten Organisationen verteilt bleiben. Dies bilde eine strukturelle Bedingung für die Ausbildung funktionaler Differenzierung. Die Informationen, die die großen Internetfirmen über die Menschen sammeln, unterlaufen diese Trennung der Wissensbestände über den Menschen. Aus den bei Facebook oder Google gesammelten Daten kann man Rückschlüsse über den Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen ziehen: Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Familie, Kunst usw. Der Mensch bzw. dasjenige, was über ihn gewusst wird, wird technisch zusammengeführt, wodurch die für die Struktur funktionaler Differenzierung notwendige Partialisierung des Menschen gefährdet wird. So lautet jedenfalls die beinahe ebenfalls orthodox systemtheoretisch entwickelte These. Für Nassehi müsste diese ein optimaler Sparringspartner sein, denn sie setzt an einer ähnlichen Diagnose an: Die Digitalisierung liegt quer zu den Funktionssystemen. Es werden aber jeweils ganz andere Schlüsse gezogen. Diese hängen davon ab, welche Position dem Menschen innerhalb der Theorie zukommt.

In der systemtheoretischen Variante hat die Einführung der Stoppregel „Mensch, gleich an Freiheit und Würde“ allerdings einen Haken, denn der „verkörperte Mensch, gleich an Freiheit und Würde“, wird nicht insgesamt als eine moderne Institution begriffen. Erst wenn man das macht, kann man sehen, dass die horizontal differenzierte Gesellschaft sich auszeichnet durch ein prekäres Gleichgewicht zwischen der Totalvereinnahmung des Menschen bzw. seiner Umwelt und einer immer wieder aufflammenden, praktisch wirksamen Kritik an dieser Totalvereinnahmung (Lindemann, 2018: Kap. 1 und 3).

Ein Beispiel: im 19. Jahrhundert drohte die Wirtschaft die Menschen, zumindest diejenigen, die dazu gezwungen waren, für Lohn zu arbeiten, vollständig zu vereinnahmen. Das funktionierte durch sehr lange Arbeitszeiten, die im prallen ‚Leben‘ abgeleistet wurden. Im Namen des Menschen erkämpfte die Arbeiterbewegung eine Begrenzung dieser Totalvereinnahmung und setzte eine Reduzierung der Arbeitszeit durch. Zur Erinnerung: „Die Internationale erkämpft des Menschen Recht“ heißt es in der „Internationale“, dem wohl berühmtesten Kampflied der Arbeiterbewegung. Die Frauenbewegung erkämpfte ebenfalls mit Bezug auf die Rechte des Menschen, dass Frauen nicht aufs Frausein reduziert und in die Familie eingeschlossen sein sollen. Der Bezug auf den Menschen, gleich an Freiheit und Würde, funktioniert als praktisch wirksame Stoppregel der Totalvereinnahmung, sei es durch die Familie, die Wirtschaft oder die Politik o. ä. Ob die Stoppregel tatsächlich funktioniert, ist nicht vorhersagbar. Es ist auch stark abhängig von historisch kontingenten Umständen und der praktisch wirksamen Mobilisierung sozialer Bewegungen (vgl. hierzu ausführlicher Lindemann, 2018: Kap. 3). Nicht erst bei der technischen Digitalisierung, wie Pohle und Rost meinen, sondern strukturbildend für horizontale Differenzierung ist der Mensch ein gesellschaftsimmanenter und zugleich transzendenter Bezugspunkt für Kritik. Diese Einsicht ist allerdings unvereinbar mit dem in „Muster“ von Nassehi propagierten Purismus der Geschlossenheit von Funktionssystemen.

Wenn man „Muster“ mit früheren Arbeiten von Nassehi vergleicht, fällt ein Rückfall in die systemtheoretische Orthodoxie auf, weshalb er hier insgesamt hinter seine analytischen Möglichkeiten zurückfällt. Dies gilt in zwei Hinsichten. Zum einen mit Blick auf das Verhältnis von prallem Leben/digitalen Codes und zum anderen mit Bezug auf Organisationen. In der Auseinandersetzung mit der empirischen Kritik an der Systemtheorie durch die Wissenschafts- und Technikforschung hatte Nassehi den Bereich des Gesellschaftlichen zumindest implizit erweitert und die digitalen Funktionssysteme zwar als eine notwendige Ordnungsform beschrieben (Nassehi, 2004), die aber insofern sekundär sei, als sie reflexiv an „das pralle Leben des Labors“ (Nassehi, 2004: 107) anschließe und dieses in eine Form bringe, an die mit weiteren Kommunikationen angeschlossen werden könne. Damit konzediert er, dass die Wissenschaft natürlich auch aus demjenigen besteht, was die empirische Wissenschafts- und Technikforschung herausgefunden hat. Es gibt Machtkämpfe, praktische Probleme im Umgang mit Labortechnologien usw. Das „pralle Leben des Labors“, der Forschung, des Peer-Review usw. gehört diesem Verständnis nach auch zur Wissenschaft. Wir alle wissen, dass wir das pralle ‚Leben‘ auch beim Schreiben von Anträgen und Aufsätzen berücksichtigen. Alles sollte so geschrieben sein, dass ein übermüdeter Gutachter/eine übermüdete Gutachterin auf der Rückfahrt von Irgendwo den Text noch versteht. An dieses pralle ‚Leben‘ schließt reflexiv die Ordnungsbildung durch die Systeme an. Damit werden die heterogenen Praktiken durch eine normativ orientierende Beschreibung auf die Differenz von wahr und unwahr bezogen. Durch diese reflexive Ordnungsbildung würden die vielen Praktiken bzw. Handlungsabläufe als zusammengehörig erkennbar. Zugleich ermöglicht es die reflexive Ordnungsbildung, sich im prallen ‚Leben‘ immer wieder auf solche normativ orientierenden Beschreibungen zu beziehen, um etwa Kritik aneinander zu üben, eben wissenschaftliche Kritik. Dies gilt analog auch für die anderen digital verfassten Handlungszusammenhänge. Mit einer solchen Vorgehensweise würde sich die Systemtheorie der Analyse von Ordnungsbildung im Sinne einer reflexiven Institutionalisierung annähern, wie sie bereits 1969 von Berger und Luckmann (1980: 98ff.) und 1972 von Luhmann[1] (1972: 79f.) vorgeschlagen wurde und auf dieser Grundlage später systematisch ausgearbeitet worden ist (Lindemann, 2014: Kap. 3.4; 2018: Kap. 2). Eine solche Analyseperspektive verliert den Zugang zur Empirie nicht, sondern muss ihn geradezu suchen. Der Verzicht auf Orthodoxie zugunsten einer Infragestellung der Theorie durch empirische Forschung ist eigentlich eine Stärke von Nassehi. Es bleibt ein Rätsel, warum er sie in seiner Digitalisierungsanalyse nicht ausspielt.

Ein weiterer Punkt ist der Bezug auf Organisationen. Es zeichnet sich ab, dass Digitalisierung an Organisationen gebunden stattfindet. Jedenfalls spielen große Organisationen, etwa Wirtschaftsunternehmen oder staatliche Organisationen wie Geheimdienste eine zentrale Rolle für die Durchsetzung von vernetzten automatisierten Datenerhebungs-, Sammlungs- und Auswertungstechnologien (vaDESAT). Dies gilt schon allein deshalb, weil nur große Organisationen die notwendige Infrastruktur aufbauen können. Diese Organisationen technisieren sowohl ihre internen organisationalen als auch ihre externen Bezüge zu Kunden. Auf der Höhe seiner analytischen Kraft hätte Nassehi der Zusammenhang von Organisation und Digitalisierung auffallen müssen, denn er ist einer der wenigen, die in einer gesellschaftstheoretischen Perspektive Organisationen erforschen (Nassehi, 2002). Auch dieses Versäumnis ist auf die Faszination für die selbstreferentielle Geschlossenheit zurückzuführen. Nassehi ist geradezu verliebt in deren Paradoxien und spielt sie immer wieder durch für die Zeichen, die Daten, das Gehirn (e.g. 100ff.) und endet immer wieder mit Stolz bei den Funktionssystemen, die als einzige der soziologischen Theorien genauso selbstreferentiell geschlossen seien. Als wolle er beweisen, dass die brutale selbstreferentielle Geschlossenheit der autopoietischen Funktionssysteme es locker mit der ebenso brutalen selbstreferentiellen Geschlossenheit der Daten aufnehmen kann. Die Systemtheorie steht sozusagen als einzige von Brutalo zu Brutalo mit der Technik auf Augenhöhe.

Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, sich auf einen solchen Wettstreit einzulassen. Denn die Wahrnehmung leiblicher Akteure und ihre institutionalisierten Handlungsabläufe zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht vollständig durch digitale Codes determiniert sind, wie es Nassehi suggeriert. Vielmehr fungieren diese Codes als symbolische Vermittlung von Umweltbeziehungen, was nicht mit einer festen Programmierung und Codierung gleichzusetzen ist. Wie gesagt, Nassehi (2004) war schon einmal knapp davor, das einzusehen. Um gesellschaftliche Ordnungsbildung zu verstehen, hilft es nur wenig weiter, auf die Brutalität der Code-Automatismen zu schauen, erfolgversprechender wäre es, Ordnungsbildung bereits im prallen ‚Leben‘ zu identifizieren. Dann muss man auch keinen Bruch zwischen dem Leben und den Codes postulieren, denn diese sind nicht mehr als praktisch aktualisierte Codeorientierungen, etwa im Sinne von wahr und unwahr, die je gegenwärtig für das pralle ‚Leben‘ wirksam gemacht werden, wenn z. B. Menschen aus Fleisch und Blut, mit Haut und Haar einander als WissenschaftlerInnen adressieren, indem sie – und sei es über Texte – miteinander wissenschaftlich kommunizieren. Wenn man das sieht, sticht für die technischen und funktionssystemischen Codes nicht nur die Ähnlichkeit der selbstreferentiellen Geschlossenheit ins Auge, sondern auch die Differenz zwischen den semantisch verfassten Codes und der vollständig in sich geschlossenen Funktionsweise der Technik. Semantisch verfasste Codes können gerade nicht wie technische Codes in sich geschlossen sein, weil sie immer etwas bedeuten. Bedeutung gibt es bei technischen Codes nicht. Diese Differenz wird von Nassehi zwar nicht geleugnet, aber konsequent heruntergespielt, denn anders wäre sein Argument nicht stichhaltig. Die Gesellschaft kann froh sein, dass Nassehi hier nicht recht hat, andernfalls würde sie nicht mehr funktionieren.

Literatur

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Online erschienen: 2020-09-23
Erschienen im Druck: 2020-09-14

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 29.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2020-0044/html
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