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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag September 23, 2020

Digitale Technik entspricht digitaler Gesellschaft?

Symposiumsbeitrag zu: Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: Beck 2019, 352 S., gb., 26,00 €

  • Jan-Hendrik Passoth EMAIL logo and Werner Rammert
From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Symposiumsbeitrag zu: Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: Beck 2019, 352 S., gb., 26,00 €


Die Wieder-Entdeckung der Gesellschaft im Digitalisierungsdiskurs

Armin Nassehis „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ wirkt wie ein Befreiungsschlag in einer Zeit, in der Fragen nach der gesellschaftlichen Dynamik und den sozialen Folgen von Digitalisierung nicht nur das Feuilleton, sondern auch den Politik- und Wirtschaftsteil füllen und gut sortierte wie eingängige soziologische Antworten noch immer fehlen. Diese gewitzte Selbstbehauptung einer sich für zuständig erklärenden Soziologie hat im allgemeinen Digitalisierungsdiskurs tatsächlich eingeschlagen, was die überwiegend positive Resonanz zum „Muster“-Buch in allen Medien bezeugt. Sie zeigt eines überdeutlich: eine Soziologie, die sich für digitale Fragen zuständig erklärt und dann Überraschendes, bisher wenig Thematisiertes zu sagen hat, wird im öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Digitalisierungsdiskurs fast sehnsüchtig erwartet. Es zeigt leider auch, dass viele der Versuche, eine „Soziologie des Digitalen“ vorzulegen, diese Sehnsucht nach einer solchen „Digitalen Soziologie“ (vgl. Jarke, 2018; Maasen/Passoth, 2020) bislang nicht stillen konnten. „Muster“ füllt diese Lücke, indem es die Frage nach den Folgen zurückweist und an ihre Stelle eine streng soziologische setzt: Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft, in der digitale Technik erfolgreich sein kann? Die Antwort, die Nassehi darauf gibt, ähnelt der, die Niklas Luhmann (Luhmann, 1992) auf eine ähnlich umformulierte Frage nach den Folgen der kulturellen Postmoderne gegeben hat: Es ist die moderne Gesellschaft, jene funktional differenzierte, komplexe, multi-referentielle Gesellschaft, die sich da als digitale Gesellschaft wieder entdeckt.

Die Gründe für den Erfolg dieser funktionalistischen Antwort im öffentlichen Diskurs werden wir im Folgenden auslassen. Vielmehr werden wir uns aus einer techniksoziologischen Perspektive mit dem Untertitel des Buches befassen. Was ist das für eine Theorie? Was heißt dabei jeweils digital? Und was für eine Gesellschaft wird hier konzeptualisiert? Wir werden uns dabei genauer ansehen, welcher Entwurf einer „Theorie der digitalen Gesellschaft“ mit „Muster“ vorliegt und welche Forschungsfragen und theoretische Suchrichtungen diese Theorie der digitalen Gesellschaft eröffnet (und welche sie vielleicht verschließt).

Ende der Technikvergessenheit der Soziologie?

Mit der Technikvergessenheit der allgemeinen Soziologie, diesen Eindruck kann man mit dem Blick in neuere sozial- und gesellschaftstheoretische Entwürfe gewinnen, ist es vorbei. Gesa Lindemanns erster Band der „Theorie der modernen Gesellschaft“ (Lindemann, 2018) ist dafür ein gutes Beispiel, ebenso Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz, 2017) oder auch Hubert Knoblauchs „Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit“ (Knoblauch, 2017). Sie alle bringen Technik wieder mitten ins Spiel. Ob als eine der drei Dimensionen, in denen eine „Strukturnotwendige Kritik“ (Lindemann, 2018) zu einer neuen Gesellschaftstheorie leiten kann, als infrastruktureller Hintergrund, in den digitaltechnisch in der Spätmoderne das Allgemeine rutscht oder als besondere Form der Mediatisierung kommunikativen Handelns: Weit entfernt scheinen die Zeiten, in denen man den systematischen Ort der Technik in der Architektur soziologischer Theorien suchen musste.

Auch Armin Nassehis „Muster“ gehört zumindest auf den ersten Blick zu diesen technikaffinen Entwürfen in der allgemeinen Soziologie: Wie als Antwort auf die in der Einleitung gestellte Frage „Wie über Digitalisierung nachdenken?“ startet Nassehis „Theorie der digitalen Gesellschaft“ mit einer techniksoziologischen Intuition. „Technologien oder Techniken [können] nur dann erfolgreich sein [...], wenn sie anschlussfähig genug für die Struktur einer Gesellschaft sind“ (16). Der Hintergrund dieser Intuition liegt in einer Reihe mittlerweile klassischer techniksoziologischer Ansätze, die mit kultursoziologischem (z. B. Hörning, 2001), sozialkonstruktivistischem (Bijker et al., 1987; Bijker, 1995) und pragmatistischem (Rammert, 2007) Hintergrund in Fallstudien gesellschaftliche Konstellationen der Technikgenese und Situationen des Umgangs mit ihnen untersucht haben.

Aus der Übertragung dieser eher mikrosoziologisch orientierten Beobachtungen in ein makrosoziologisches Prinzip leitet sich bei Nassehi eine der zentralen Thesen des Buches ab, nämlich „dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur“ (18). Nassehi nimmt die Grundeinsicht, dass keine Technik ohne ihre Einbindung in Konstellationen aus sozialer Praxis, bestehenden und adaptierten Sinnzusammenhängen und Institutionen Effekte haben kann, und überträgt sie auf die umfassendste und komplexeste dieser Konstellationen: „Das Bezugsproblem für die Digitaltechnik liegt in der Komplexität der Gesellschaft selbst“ (36).

Theoriearchitektonisch sind damit Grundunterscheidung und Argumentationsrichtung gesetzt, die ähnlich wie in Luhmanns Analysen zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (Luhmann, 1995) laufen: Gesellschaftsstruktur first, Semantik second – nur dass bei Nassehi digitale Technik an die Stelle der Semantik tritt. Das ist kein Zufall, sondern bemerkenswert konsequent, jedenfalls im systemtheoretischen Theoriegebäude: Schließlich versteht Luhmann Technik als evolutionäre Errungenschaft, auf die als „funktionierende Simplifikation im Medium der Kausalität“ (Luhmann, 1991: 97) kommunikativ Bezug genommen werden kann. Diese Grundentscheidung aber führt zu einer bemerkenswerten techniksoziologischen Unschärfe und in ihrer Konsequenz dazu, dass die techniksoziologische Intuition, mit der „Muster“ ansetzt, leider zumindest im vorliegenden Buch auch nicht mehr bleibt als das: eine These ohne Test, eine Prämisse, die empirisch noch zu überprüfen und rückzukoppeln ist.

Unschärfen, ungenutzte Konkretisierung und Konsequenzen

Die Unschärfe besteht darin, dass die von Luhmann importierte Denkfigur der funktionierenden Simplifikation an konkreter Technologie, den Prozessen ihrer Genese, den Konstellationen ihrer formalen und stofflichen Gestaltbarkeit und den im situativen Vollzug praktizierten Folgen schlichtweg wenig interessiert ist: Solange etwas als Technik behandelt wird, sind ihm im Prinzip empirische Unterschiede egal. Auf die Frage „Welche digitale Technik?“ bleibt Nassehis Auseinandersetzung mit den Unterschieden mechanischer Technik und digitaler Technik, bei der „Rechenoperationen gewissermaßen auf die strikte rekombinatorische Kopplung von Informationen aufbauen“ (210), abstrakt ohne Unterschied. Auch beim Unterschied zu „lernende(r) Technik“ (228ff.), die er folgerichtig aus dem üblichen Muster- und Schematisierungsprozess ausbrechen sieht, bleibt er bei philosophischen Überlegungen stehen und greift nicht auf soziologische Diskussionsbeiträge zu „KI und autonomer Technik“ oder „hybriden Systemen verteilten Handelns“ zurück. Weder leiten soziologische Relektüren medienhistorischer und medienarchäologischer Artefakt- und Modellierungsanalysen (im Sinne von Thielmann/Schüttpelz, 2013) noch die Erkenntnisse aus empirischen Fallstudien die Analyse, wie sie gerade im letzten Jahrzehnt in „Software Studies“ (Fuller, 2008) oder „Critical Algorithm/Data Studies“ (Seyfert/Roberge, 2016) entstanden sind, sondern ein kursorischer Durchgang durch ein technik- und kulturphilosophisches Walhalla: Jünger, Heidegger, Turkle, Bostrom und Parisi (historisch geordnet) sowie die üblichen ständigen technikwissenschaftlichen Gäste Turing, Wiener und Gödel.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: das sind lohnende Auseinandersetzungen und sie erlauben es Nassehi, sein soziologisches Grundargument auf Augenhöhe mit den aktuell vor allem aus den Geisteswissenschaften formulierten Einordnungen und Kritiken des Big Data, KI und Deep Learning Diskurses zu positionieren. Techniksoziologische Empirie, so könnte man etwas polemisch sagen, würde dabei eher stören, denn sie würde zu Differenzierungen zwingen, wo diskursstrategisch Pointierung nützlicher ist. Für eine „Theorie der digitalen Gesellschaft“, das hat Dirk Baecker luzide in seiner Besprechung für Soziopolis formuliert, hat Nassehi mit „Muster“ „ein gutes Drittel einer vollständigen Theorie der digitalen Gesellschaft vorgelegt“.[1] Die beiden anderen Drittel haben einerseits mit einer noch offenen differenzierungstheoretischen Flanke, anderseits mit einer von nachfolgenden Studien erst noch zu entwickelnden Neugier für Unterschiede in den verschiedenen Rekonfigurationen von Mensch(en), Maschine(n) und Umwelt(en) – also paradoxerweise wirklich für unterschiedliche Muster – zu tun. Beide Drittel haben dabei einen gemeinsamen Nenner: Nassehis aus der techniksoziologischen Intuition gewonnene These ist – jedenfalls im vorliegenden Buch – bisher eine Prämisse, die empirisch noch zu irritieren wäre – und zwar sowohl in Bezug auf die empirische Vielfalt neuer und alter soziotechnischer Muster als auch in Bezug auf differenzierungstheoretische Fragen.

Weil das so ist, kommt die im Digitalisierungsdiskurs originell hervorstechende These, dass Digitalisierung auf so wenig Widerstand gestoßen ist, weil die moderne Gesellschaft selbst immer schon digital war, oft wie eine Art Umkehrung der alten Marx‘schen Denkfigur daher: Wie bei Marx und denen, die ihm darin folgen, immer wieder die reelle Subsumtion unter die Logik des Kapitals durchschlägt und sich daher gesellschaftliche Verhältnisse immer wieder der Entwicklung der Produktivkräfte und damit neuer Technologien anzupassen haben, schlägt bei Nassehi immer wieder die digitale – funktionale – Differenzierung moderner Gesellschaft durch, so dass jede sich durchsetzende Form digitaler Technik immer schon an deren Imperativen angepasst ist. „Digitale Technik“, so Nassehi, „rechnet mit exakt den Regelmäßigkeiten und exakt den internen Differenzierungen und Abweichungen, die das ausmachen, was seit dem 18./19. Jahrhundert mit dem Begriff der Gesellschaft und des Sozialen belegt wurde“ (58). Eine technikfunktionalistische, aber grundsätzlich „revolutionäre“ Deutung wie bei Marx wird so durch eine sozialfunktionalistische, aber grundsätzlich eher theoriekonservative Deutung ersetzt.

Die Wieder-Entdeckung der Gesellschaft

Dabei sind in „Muster“ die Grundlagen sowohl für die Neugier auf die empirische Vielfalt neuer und alter soziotechnischer Muster als auch für differenzierungstheoretische Fragen angelegt. Die Grundlagen dafür stecken dabei vor allem in der Denkfigur der „dritten Entdeckung der Gesellschaft“ in Form komplexer (statistischer) Muster und in einem Verständnis von Daten, das über die „Umwege in die Sprach- und Zeichentheorie“ (104) begründet wird.

Gesellschaft, das ist eine der spannendsten Beobachtungen in „Muster“, wird in der Geschichte der Moderne gleich dreimal entdeckt. Zunächst im Kontext der Aufklärung als Fluchtpunkt und Widerstand der Gestaltbarkeit von Praxis, Institutionen und Lebensformen, dann als ebensolcher Fluchtpunkt und Widerstand von Inklusions- und Reformbemühungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, schließlich im Abschluss der Entwicklung einer Entdeckung komplexer latenter Muster in Daten seit der frühen Sozialstatistik durch digitale Datenverarbeitung. In diesen Mustern entdeckt Gesellschaft sich selbst – und zwar (endlich) nicht mehr nationalgesellschaftlich, schicht- oder klassenspezifisch, nicht mehr steuerungsoptimistisch oder entwicklungsfatalistisch, sondern in jenen komplexen, multireferentiellen und nebenläufigen Formen, die der Gegenwartsgesellschaft angemessen sind.

Ob man in diesen Formen allerdings etwas Neues oder Bekanntes vermutet, liegt daran, wie sehr man sich für Brüche und Variationen innerhalb der Technik- und Mediengeschichte der Moderne interessiert. In diesem Unterschied ist angelegt, ob man eher nach Belegen für die Wirkmächtigkeit struktureller Kontinuitäten sucht oder den Blick auf mögliche „Tipping Points“ struktureller Veränderungen richtet. Der Blick auf die Kontinuitäten der Moderne, der vom 18. Jahrhundert bis heute ähnliche, nämlich auf funktionaler Differenzierung beruhende Muster erkennt, lässt sich auch austauschen durch einen empirischen Blick auf verschiedene soziotechnische Transformationen. Für Nassehi sind dabei die Grundlagen der digitalen Gesellschaft bereits in den Annahmen, Methoden und Praktiken der Quetelet`schen Sozialstatistik (eigentlich: physique sociale) gelegt: zentral ist deren Fokus auf die „komplexe Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst und die Nicht-Zufälligkeit individuellen Verhaltens“ (55).

Aber schon allein eine genauere Betrachtung der Geschichte statistischer Verfahren erlaubt mehr zu sehen als die bloß seit den Debatten über qualitative Universitätsstatistik und politische Arithmetik fortgesetzten Debatten über qualitative und quantitative Verfahren. Dass sich die vor allem auf Homogenität (in Form von Mittelwerten und Abweichungen) abzielenden Analysen zum „homme moyen” unterscheiden von der „administrativen Forschung“ Lazarsfelds oder auf Proximitätsmaßen oder Dichte beruhenden Cluster-Analysen, könnte ganz im Gegensatz zur Kontinuitätsthese auch zur Hypothese führen, dass sich die „komplexe Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst“ je nach soziotechnischer Konfiguration anders präsentieren kann. Mit ihr drängt sich die von Maren Lehmann so treffend als die nach dem „Altwerden funktionaler Differenzierung“ (Lehmann, 2016) bezeichnete Frage auf. Dass die „leistungsfähige Digitaltechnik [...] demselben Muster wie die gesellschaftlichen Funktionssysteme [folgt]“ (Nassehi: 177), ist eine theoretische Setzung, keine empirisch irritierbare Erkenntnis.

Die Verdopplung oder die innovative Vervielfältigung der Welt

Der Zusammenhang von Medienentwicklung und Differenzierungsformen, darauf haben Luhmann (Luhmann, 1997: 190ff.) und nach ihm Baecker in den „Studien zur nächsten Gesellschaft“ (Baecker, 2007) hingewiesen, ist selbst dann komplizierter, wenn man nur von Sprache, Schrift, Buchdruck und elektronischen Medien ausgeht. Wie die Sprache, die Schrift und der Buchdruck verdoppeln Daten die Welt, sie bilden sie nicht ab, sie enthalten sie nicht. Und wie die Schrift durch radikale Reduzierung möglicher Zeichen einen enormen Formenreichtum einerseits und eine Abkoppelung von Bezeichnendem und Bezeichnetem vorantreibt, sorgen digitale Daten durch das aufs Minimum von 0 und 1 reduzierte Ausgangsmaterial für nahezu ins Unendliche gesteigerte Möglichkeiten der Verdoppelung der Welt durch Daten: „Ihre Potenz [der Datenwelt] besteht in ihrer radikalen Reduzierbarkeit auf eine Zeichenform“ (Nassehi: 106). So richtig diese Denkfigur ist: sie ist nur die Startbedingung für eine an der auf dieser Einfachheit beruhenden Vielfalt interessierten Analyse.

Denn die Differenzierungen von Technik und Nicht-Technik sind vielfältiger und vor allem von historischen Entwicklungen und kontextspezifischen Ein- und Anpassungspraktiken abhängig. So wenig wie aus der Schrift schon Archiv und Rechnungswesen als soziale Innovationen oder aus dem Buchdruck Formate und kulturelle Artefakte wie das politische Flugblatt und der literarische Kommentar hervorgehen, so wenig sorgt schon das Ein/Aus digitaler Daten dafür, dass Streamingdienste Musik vorrätig halten, Rechner Bach-Fugen variieren oder künstliche Intelligenzen Katzen auf Bildern erkennen. Jede dieser sozio-technischen Medienkonstellationen beruht nicht allein auf der Differenz zwischen den stofflichen Medien und ihrer Granularität (nach Heider, 1926), sondern auf den Formen der Technisierung, die in sie geprägt werden, den institutionalisierten Formen funktionierender Arrangements, den Programmen und den Praktiken, wie sie durch Anbieterroutinen und Nutzermilieus geschaffen werden (Rammert, 2000). Das binäre 0/1 Schema und die darauf aufgebauten Muster sowie Muster von Mustern können nicht allein die Grundlage für eine soziologische Theorie digitaler Technik liefern. Die Muster oder Schemata gewinnen ihre sozial zugeschriebene und auch schweigend konsentierte Funktionalität erst durch ihre Vergesellschaftung auf allen Ebenen der pragmatisch-experimentellen und kommunikativ-adaptiven Festigung.

Möglicherweise also war die moderne Gesellschaft immer schon eine digitale Gesellschaft, „weil sie strukturell ebenfalls um das Verhältnis von Einfachheit und Vielfalt gebaut ist“ (Nassehi: 177). Dass sich aber die auf der Einfachheit beruhende Vielfalt der digitalen Gegenwartsgesellschaft letztlich auf den gleichen Nenner bringen lässt – nämlich auf funktionale Differenzierung und die „Brutalität der Codierung von Funktionssystemen“ (175) –, ist schlichtweg nicht zwingend. Vor allem ist diese Folgerung nicht direkt aus der Ähnlichkeit der binären Form der Codierung von Funktionssystemen mit der strengen Binarität digitaler Daten zu schließen. Sie müsste empirisch überprüft und, wenn sich die Anzeichen dafür mehren, dass sich die moderne Gesellschaft in den komplexen latenten Mustern anders entdeckt als funktional differenziert, auch revidiert und durch die Frage nach der nächsten Gesellschaft (Baecker, 2007) und ihrer möglicherweise fragmentalen Differenzierung (Passoth/Rammert, 2019) ersetzt werden.

Abschließende Bemerkungen

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: die Möglichkeiten der Überführung der techniksoziologischen Intuition in ein empirisches Forschungsprogramm, die damit verbundene Neugier auf die Vielfalt unterschiedlicher neuer und alter soziotechnischer Muster und die potentielle Offenheit für herausfordernde differenzierungstheoretische Fragen sind aus „Muster“ ableitbar, es hat daher tatsächlich das Potential, als „Theorie der digitalen Gesellschaft“ neue und interessante Forschungsfragen zu eröffnen und damit einen genuin soziologischen Beitrag zur Digitalisierungsdiskussion zu ermöglichen. Das ist die große Leistung dieses Buches. Diese Leistung wird aber – und das ist wirklich bedauerlich – durch eine Reihe von Grundentscheidungen konzeptioneller, inhaltlicher und leider auch stilistischer Art geschmälert. Auf die konzeptionellen Grundentscheidungen wie die dafür, dass sich Gesellschaft in den Mustern gerade als funktional differenzierte entdeckt oder dafür, bei der Verdopplung der Welt durch Daten beim Grundprinzip der Binarität stehen zu bleiben, sind wir bereits eingegangen. Hier wäre mehr Offenheit für die Diskussion von Alternativen und Kontroversen sehr hilfreich, um die Anschlussfähigkeit an theoretische Diskussionen zu erhöhen.

„Muster“ spielt stattdessen mit Mehrdeutigkeiten, aber es scheint kein offenes Spiel zu sein, sondern eines, in dem die Regeln immer einer Seite zugutekommen. So wird die Offenheit für Debatten und die Entfaltung von Kontroversen dadurch angedeutet, dass Thesen und Folgerungen mit Formulierungen wie „es könnte sein“ oder „scheinbar“ versehen werden, nur um direkt anschließend mit Formulierungen wie „genau genommen“ oder „schlussendlich ist“ diese Offenheit wieder zurückzunehmen. Dazu kommen Sätze, die so sehr zwischen Soziologismen und wirklich cleverer Pointierung oszillieren, dass man auch als geneigter Leser kaum weiß, ob man sich von ihnen zur Diskussion eingeladen oder belehrt fühlen soll. Auch hier nur ein Beispiel: „Eine Soziologie der Digitalisierung ist also genau genommen fast eine Soziologie der Soziologie, denn die Fragen, die sich als digitale Fragen stellen, sind soziologischen Fragen unmittelbar verwandt“ (67). Ob es auf diese Fragen im Fundus der Soziologie auch andere interessante Antworten gibt als die, die „Muster“ im Blick hat, bleibt offen.

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Online erschienen: 2020-09-23
Erschienen im Druck: 2020-09-14

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 29.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2020-0045/html
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