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26.03.2021 | Materialentwicklung | Schwerpunkt | Online-Artikel

Der Natur auf die Finger geschaut

verfasst von: Dieter Beste

4:30 Min. Lesedauer

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Sie sind "smart", "intelligent", "programmierbar" und haben das Potenzial, einen Paradigmenwechsel einzuleiten: weg von statischen Materialien hin zu Werkstoffen, deren Eigenschaften sich adaptiv anpassen. 

Intelligente Materialien sind so aufgebaut, dass sie selbstständig auf äußere Reize wie Licht, Temperatur, elektrische und magnetische Felder oder chemische Veränderungen reagieren können. "Zukünftig werden wir intelligente oder adaptive Werkstoffe (smart materials) einsetzen, die in der Lage sind, während des Einsatzes auf Änderungen der Umgebungsbedingungen selbstständig zu reagieren und ihre Eigenschaften anzupassen", geben die Autoren Wolfgang Waldhauser und Eva Maria Neubauer im Kapitel "Werkstoffeigenschaften" des Buches "Interaktive Lehre des Ingenieursstudiums" einen Ausblick auf die Herausforderungen, denen Werkstoffentwickler gewachsen sein müssen. "Dabei müssen in solchen Systemen neben dem Trägermaterial, das die strukturellen und mechanischen Eigenschaften gewährleistet, weitere funktionale Elemente integriert werden." Als ein sehr aktuelles und interessantes Forschungsgebiet charakterisieren die Springer-Autoren die sogenannten selbstheilenden Werkstoffe, die Schädigungen entsprechend den Vorbildern aus der Natur eigenständig reparieren können.

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Kluge, intelligente Materialien, die künstlich herzustellen sind und gleichzeitig "lebensartige" Eigenschaften aufweisen – diesem Forschungsziel hat sich Andreas Walther verschrieben. Seit Ende letzten Jahres ist er Professor für Makromolekulare Chemie an der Universität Mainz. Ihm und seinem Team ist es gelungen, hauchdünnes, steifes Nano-Papier zu entwickeln, das auf Knopfdruck augenblicklich weich und elastisch wird. "Wir haben das Material mit einem Mechanismus versehen, sodass die Festigkeit und Steifheit über einen elektrischen Schalter moduliert werden kann", erklärt er. Sobald elektrischer Strom fließt, wird das Nano-Papier weich; stoppt der Stromfluss, erhält es seine Festigkeit zurück. Aus Anwendungsperspektive könnte diese Schaltbarkeit zum Beispiel für Dämpfungsmaterialien interessant sein. Das jetzt in "Nature Communications" publizierte Arbeitsergebnis entstand wesentlich in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern an seiner bisherigen Wirkungsstätte, der Universität Freiburg, des dortigen "Zentrums für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien (FIT)" und des von Walther mitgegründeten DFG Exzellenzclusters "Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS)".

Das Vorbild aus der Natur für diese Entwicklung ist die Seegurke. Diese Meeresbewohner verfügen über einen besonderen Verteidigungsmechanismus: Wenn sie in ihrem Lebensraum von Fressfeinden attackiert werden, können die Tiere ihr Gewebe anpassen und verstärken, sodass ihr weiches Äußeres unmittelbar versteift. "Das ist ein adaptives mechanisches Verhalten, das fundamental gesehen schwierig nachzubilden ist", sagt Andreas Walther. 

Schutzfunktion der Seegurke nachgeahmt

In der jetzt veröffentlichten Arbeit berichtet das Team wie es gelang, das Grundprinzip des natürlichen Vorbilds mit einem technisch attraktiven Material und einem ebenfalls attraktiven Schaltmechanismus in abgewandelter Form nachzuahmen. Die Wissenschaftler haben Zellulose-Nanofibrillen verwendet, die aus der Zellwand von Bäumen extrahiert und aufgearbeitet werden. Nanofibrillen sind noch feiner als die Mikrofasern im Papier und ergeben ein komplett durchsichtiges, fast glasartiges Papier. Das Material ist steif und zugfest und wird im Leichtbau verwendet. Seine Eigenschaften seien mit denen von Aluminiumlegierungen vergleichbar, berichten die Forscher. In ihrer Studie haben sie an diese Zellulose-Nanofibrillen Strom angelegt. Über speziell designte molekulare Veränderungen wurde das Material daraufhin flexibel – der Prozess ist umkehrbar.

Autonomes Ein- und Ausschalten

Auf molekularer Ebene wird bei dem Vorgang das Ausgangsmaterial durch die Stromzufuhr erwärmt und in der Folge werden Vernetzungspunkte reversibel gebrochen, berichten die Wissenschaftler. Das Material erweicht als Funktion der angelegten Spannung, das heißt je höher die Spannung, desto mehr Vernetzungspunkte brechen und desto weicher wird das Material. Während aktuell noch eine Stromquelle benötigt wird, um die Reaktion zu starten, wäre das nächste Ziel ein Material mit einem eigenen Energiespeichersystem, sodass die Reaktion praktisch "intern" ausgelöst wird, sobald beispielsweise eine Überlastung eintritt und Dämpfung notwendig würde. "Jetzt müssen wir den Schalter noch selbst umlegen, aber unser Traum wäre es, dass das Materialsystem dies von sich aus bewerkstelligen kann", sagt Andreas Walther. Relevant sei dies für mechanische Materialien, die somit bruchresistenter gestaltet werden können, oder für adaptive Dämpfungsmaterialien, die beispielsweise bei Überlastung von steif auf nachgiebig switchen.

Programmierbare Werkstoffe sind die Zukunft

Für viele Anwendungen werden frequenz- oder situationsabhängige Dämpfungen benötigt, die aktuell entweder durch fest eingestellte, passive Maßnahmen oder durch aufwändige aktive Systeme realisiert werden. Da laden die neuen Perspektiven der Werkstoffentwicklung, wonach künftig smarte Materialien dynamische Dämpfungseigenschaften je nach Situation selbständig reversibel ändern, nicht nur Andreas Walther zum Träumen ein. Die Fraunhofer-Gesellschaft erkundet das Thema mit einem eigens eingerichteten sogenannten Cluster of Excellence "Programmierbare Materialien (CPM)", das quer zur klassischen Institutsstruktur der Forschungsgesellschaft angelegt ist. 

Situationsabhängige Dämpfung

Mit dabei ist ein Team des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit (LBF): "Es sind Materialien denkbar, die im Normalfall steif sind, aber im Falle eines schlagartigen Aufpralls mit hohen Beschleunigungen weich und stark dämpfend werden, um beispielsweise sensible Elektronik zu schützen. Oder es lassen sich Materialien entwerfen, deren Dämpfungsverhalten von der aktuellen Dehnung abhängig ist, und die somit, je nach Betriebssituationen, eine optimale Dynamik aufweisen", sagt William Kaal, der als Gruppenleiter am LBF forscht. Und so könnte es funktionieren: Ähnlich wie Organe des menschlichen Körpers aus funktionellen Einheiten von Zellen bestehen, lassen sich auch programmierbare Materialien aus Einheitszellen aufbauen, sind die LBF-Forscher überzeugt. Deren Funktionalität, beispielsweise die beschleunigungs-, dehnungs- oder temperaturabhängige Dämpfung, beruht auf mikromechanischen Effekten. Dabei werden beispielsweise innere Strömungsquerschnitte mechanisch variiert und damit das Dämpfungsverhalten eingestellt. 

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