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"Wir stehen erst am Anfang der Entdeckung neuer Materialien"

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KI mischt die Materialentwicklung auf. Dierk Raabe, Direktor am Max-Planck-Institut für Eisenforschung, berichtet im Interview, wie heute faszinierende Forschungsergebnisse das Potenzial der KI-Werkzeuge nur erahnen lassen. 

Dierk Raabe ist Direktor am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf. Seine wissenschaftlichen Interessen gelten den Mikrostrukturen und den resultierenden mechanischen Eigenschaften von metallischen Legierungen.


springerprofessional.de: Künstliche Intelligenz (KI) dringt in diesen Tagen auf breiter Front in alle Lebens- und Arbeitsbereiche vor. Haben KI-Methoden das Zeug, auch in Materialforschung und Werkstoffentwicklung die Karten völlig neu zu mischen?

Dirk Raabe: Das ist zu erwarten. Nach mehreren tausend Jahren der Materialentwicklung seit dem Beginn der Bronzezeit vor etwa 5500 Jahren verwenden wir immer noch "nur" etwa ein paar Tausend verschiedene Arten von Metalllegierungen aus einem schier unendlichen Kosmos von etwa 1060 und mehr möglichen Kombinationen. 1060 – das ist eine sehr große Zahl. Zum Vergleich: Das gesamte Universum enthält etwa 1080 Teilchen. Und bei 1060 Kombinationsmöglichkeiten sprechen wir nur über 50 oder 60 der bislang in der Praxis häufig verwendeten Elemente. 

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Kurzum: Diese enormen kombinatorischen Möglichkeiten erfordern nicht nur ein besseres Verständnis der grundlegenden Zusammenhänge zwischen Synthese, Herstellung, grundlegenden Mechanismen, Mikrostruktur und Eigenschaften, sondern auch gänzlich neue und viel effektivere Methoden der Entdeckung neuartiger Werkstoffe, die den heutigen Herausforderungen fortgeschrittener Anwendungen und ihrer Nachhaltigkeit besser gerecht werden. Mit anderen Worten: Wir stehen erst am Anfang der Entdeckung neuer Materialien.

Und da kommt die Künstliche Intelligenz ins Spiel?

KI hilft uns dabei, Vorhersagen auf der Grundlage von Big-Data-Analysen zu treffen – in unserem Themenbereich beispielsweise auf Basis des Trainings von KI mit Hilfe von  Dichtefunktionaltheorie, Quasiteilchen- und Kontinuums-Simulationsmethoden oder der rechnerischen Legierungs-Thermodynamik. Gegenwärtig revolutionieren im Wesentlichen zwei Entwicklungen die Materialforschung: Die erste ist die Verfügbarkeit von Modellen und Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI). Die zweite ist die Verfügbarkeit und der korrelative Einsatz von Hochdurchsatz-Methoden im Experiment.
Ohne den massiven Einsatz solcher neuen Methoden lässt sich der enorm große Zustandsraum möglicher Kombinationen an Elementen zur Entdeckung neuer Legierungen nicht durchkämmen. 

In der Zeitschrift "Nature" haben Sie und Ihr Team kürzlich berichtet, wie es am MPIE mittels Text Mining (TM) gelang, neue Werkstoffe quasi automatisch zu entdecken.

Diese Arbeit beruhte auf einer Brute-Force-Strategie, bei der in unserem Fall die Abstracts von mehr als sechs Millionen Artikeln auf die chemische Ähnlichkeit von Elementen mit der Methode des Text-Minings aus dem Kontext herausgefiltert und zu neuen Legierungen – je nach dem Grad ihrer chemischen Ähnlichkeit – kombiniert werden. Auf diesem Wege haben wir mehrere hundert vollkommen neue Legierungen identifizieren können, die zum Teil aus sechs oder sieben Elementen bestehen.

Welchen Stellenwert hat KI inzwischen in der Materialforschung?

Der Einsatz der künstlichen Intelligenz hat zumindest die Entwicklung der gegenwärtigen fortschrittlichen metallischen Legierung schon deutlich beschleunigt. Ein konkretes Beispiele ist eine magnetische Legierungen, über die wir im August 2022 in "Nature" berichteten. Und über die Strategie des "Aktiven Maschinellen Lernens" haben wir neue Hochentropie-Legierungen gefunden, also feste Lösungen aus vielen Hauptelementen, die bisher unerreichte Invar-Eigenschaften haben. Invar-Legierungen haben einen extrem niedrigen thermischen Ausdehnungskoeffizienten. Dieser Materialentwicklungsansatz, den wir im Oktober 2022 in der Zeitschrift "Science" vorstellten, basiert auf einem geschlossenen KI Regelkreis des sogenannten Aktiven Lernens, der maschinelles Lernen mit Dichtefunktionaltheorie, thermodynamischen Berechnungen und Experimenten integriert. Das Element des "Aktiven Maschinellen Lernens" besteht dabei darin, dass der Algorithmus aus den unsortierten Datensätzen vielversprechende Legierungen heraussucht, die ein Experte oder ein entsprechendes physikalisches Modell bewertet und dem Trainingsdatensatz dann systematisch zum weiteren Training zuführt. So wird mit Hilfe des maschinellen Lernens die Trainingsbasis für die Entwicklung des Modells nach und nach erweitert und verbessert. 

Gibt es weitere Beispiele?

Ein eindrucksvolles Beispiel ist auch die Entwicklung von mathematischen Lösungsverfahren für den Bereich der Werkstoffmechanik die zum Teil mehrere tausendmal schneller sind als konventionelle Finite Elemente Verfahren, wie sie derzeit gängige industrielle Praxis sind. Über diesen Erfolg haben wir in "npj Computational Materials" berichtet.

Und gibt es vielleicht ein Material, das wir nicht – oder noch nicht – hätten, wenn Ihnen Künstliche Intelligenz nicht zur Seite gestanden hätte?

Das ist schwierig zu sagen. Aber Fakt ist, dass man den praktisch unendlich großen Raum möglicher Verbindungen von Elementen aus dem Periodensystem auf Dauer nicht anders behandeln kann als mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Und es ist ebenfalls ein Fakt, dass der einzelne Wissenschaftler die für ihn relevante Literatur, die heute aus hunderttausenden von Artikeln besteht, nicht mehr alleine lesen und verstehen kann.  Hier ist also eine "Voruntersuchung" durch automatisierte Methoden der künstlichen Intelligenz sicherlich sehr hilfreich, um den Blick zumindest schneller in die richtige Richtung zu lenken. Allerdings ist dazu aus meiner Sicht auch weiterhin eine ganz gehörige Portion Fachwissen nötig, damit einer KI überhaupt die richtigen Fragen gestellt werden.  Auch mit den heute modernsten Untersuchungsmethoden wird spannende Forschung meistens eher durch die richtige Frage als durch den Weg der Untersuchung bestimmt.

Wie schätzen Sie die Zukunft von Künstlicher Intelligenz in der Materialforschung ein?

Die Antwort ist: ich habe keine Ahnung, was da alles noch kommt. Aber was ich weiß ist, dass wir erst ganz am Anfang stehen und dass es sich hier keineswegs um ein kurzfristiges Modethema handelt, sondern die KI wird die gesamte Art, wie wir Forschung, Material-Entdeckung und Entwicklung in diesem Bereich betreiben, grundsätzlich erweitern und massiv verändern. Wir schauen hier noch wie das aus vielen Kindersendungen bekannte, lernbegierige kleine Schweinchen Piggeldy staunend ins Uhrwerk der modernen KI.
 

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