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2012 | Buch

Mathematische Begriffsbildung zwischen Implizitem und Explizitem

Individuelle Begriffsbildungsprozesse zum Muster- und Variablenbegriff

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Über dieses Buch

Die Erforschung von Erklärungs- und Beschreibungsrahmen für mathematische Lernprozesse ist ein aktueller Gegenstand fachdidaktischen Interesses. Florian Schacht legt einen erkenntnistheoretischen Rahmen vor, der die Theorie des Inferentialismus des Philosophen Robert B. Brandom nutzt, um in einer empirischen Studie individuelle Begriffsbildungsprozesse zu rekonstruieren. Er liefert wichtige Hinweise für das Muster- und Variablenverständnis von Schülerinnen und Schülern der frühen Sekundarstufe. Darüber hinaus macht er wesentliche Aspekte des philosophischen Theorierahmens für die Mathematikdidaktik nutzbar, um sowohl eine neue theoretische Fundierung als auch ein forschungspraktisches Analyseinstrument für individuelle Begriffsbildungsprozesse zu entwickeln. Ausgangspunkt und Zielperspektive sind dabei die theoretische Betrachtung und die empirische Rekonstruktion von Festlegungen, die als kleinste Einheiten des Denkens und Handelns im Mittelpunkt der Erforschung von individuellen Begriffsbildungsprozessen stehen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Einleitung
Zusammenfassung
Seinem umfassenden Werk Making it explicitstellt der Philosoph Robert B. Brandom die Bemerkung voran, es sei eine „Untersuchung über das Wesen der Sprache: über die sozialen Praktiken, die uns als rationale, ja logische, mit Begriffen hantierende Wesen auszeichnen – als Wissende und Handelnde“ (Brandom 2000, S. 11). Wissende und Handelnde sind wir in besonderem Maße, wenn wir Mathematik treiben. In der vorliegenden Arbeit wird eine theoretische Perspektive auf Mathematiklernen entwickelt, die das Hantieren mit Begriffenbeim mathematischen Denken und Handeln sowie bei der Formulierung der Gründe und Konsequenzen des Denkens und Handelns, in den Mittelpunkt rückt.
Florian Schacht

Theoretische Grundlagen

Frontmatter
1. Individuelle Begriffsbildung in inferentialistischer Perspektive
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit nimmt sich zum Ziel, individuelle Begriffsbildungsprozesse genauer zu beschreiben, zu strukturieren und zu verstehen. Dafür muss zunächst geklärt werden, was genau eigentlich unter individuellen Begriffsbildungsprozessen zu verstehen ist und wie man solche Prozesse dann beschreibbar machen kann. Der Kern des hier vorliegenden theoretischen Rahmens zur Beschreibung individueller Begriffsbildungsprozesse liegt in der Fokussierung auf individuelle Festlegungen, Berechtigungen und Inferenzen. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass wir uns bei jeder Verwendung von Begriffen festlegen. Festlegungen liegen also unserem Begriffsgebrauch zugrunde. Sie bilden die kleinsten Einheiten unseres Denkens und Handelns. Hier liegt der Schlüssel für die spezifisch festlegungsbasierte Beschreibung individueller Begriffsbildungsprozesse. Lernprozesse werden auf diese Weise rekonstruiert als begriffliche Entwicklungsprozesse, die in Handlungen und sprachlichen Äußerungen, die wir ihrerseits für wahr halten, explizit gemacht werden. Es ist Aufgabe der ersten drei Kapitel dieser Arbeit, aus dieser Idee heraus einen theoretischen Rahmen und ein forschungspraktisches Auswertungsschema für die Analyse solcher begrifflichen Prozesse zu entwickeln.
Florian Schacht
2. Festlegungsbasiertes auswertungspraktisches Analyseschema
Zusammenfassung
Im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung wird vor dem Hintergrund des theoretischen Rahmens der Arbeit (Brandom, Vergnaud) ein Analyseinstrument entwickelt, mit dessen Hilfe sich individuelle Begriffsbildungsprozesse aus festlegungsorientierter Perspektive explizit machen lassen. Dabei ist der „Prozess der Begriffsbildung (…) gekennzeichnet durch ein Streben nach Präzisierung, Eindeutigkeit und Verallgemeinerung“ (Hußmann 2006, S. 23). In diesem Abschnitt wird ein begrifflicher und auswertungspraktischer Rahmen entwickelt, der es im Sinne der in Kapitel 1 beschriebenen Dimensionen des hier zugrunde liegenden Lernverständnisses und vor dem Hintergrund des theoretischen Gesamtrahmens (insbesondere unter Berücksichtigung der Theorie der Conceptual Fields) ermöglicht, diesen Prozess genauer zu beschreiben.
Florian Schacht
3. Theoretische Einbettung Zur Analyse von Begriffsbildung in der Mathematikdidaktik
Zusammenfassung
In diesem Abschnitt wird das in Kapitel 1 entwickelte Theoriegerüst und das in Kapitel 2 entwickelte forschungspraktische Auswertungsschema ausgewählten mathematikdidaktischen Ansätzen, die auf epistemologische Fragestellungen fokussieren, gegenübergestellt. Auf diese Weise soll die entwickelte Perspektive auf individuelle Begriffsbildung theoretisch eingebettet und abgegrenzt werden. Ziel ist dabei zum einen, die Integration und Anschlussfähigkeit des hier entwickelten Gesamtrahmens sicherzustellen, zum anderen aber auch, durch Abgrenzung und Vergleich mit anderen theoretischen Rahmen das Potential des hier entwickelten Rahmens hervorzuheben. Das hier gewählte Vorgehen erhebt dabei nicht den Anspruch auf eine systematische Einbettung in die mathematikdidaktische Forschungslandschaft. Vielmehr sollen durch den Vergleich von ausgewählten Aspekten des vorliegenden Theorierahmens mit anderen mathematikdidaktischen Theorien die Konturen des eigenen Ansatzes weiter ausgeschärft werden.
Florian Schacht

Design der empirischen Erhebung

Frontmatter
4. Der Gegenstandsbereich: Elementare Algebra in Zahlen- und Bildmustern
Zusammenfassung
In Teil 1 wird ein theoretischer Rahmen zur Beschreibung und zur Analyse individueller Begriffsbildungsprozesse vorgelegt. Daraus wird ein forschungspraktisches Auswertungsschema entwickelt. Beide zusammen prägen die inferentialistische Perspektive auf individuelle Begriffsbildungsprozesse. Die Perspektive ist dabei keineswegs auf spezifische mathematische Gegenstandsbereiche beschränkt. Im vorliegenden zweiten Teil der Arbeit wird ihr Potential für die Mathematikdidaktik für einen konkreten Gegenstandsbereich fruchtbar gemacht. Ziel des Lernkontextes zu Zahlenfolgen und Bildmustern ist der propädeutische Umgang mit Variablen mit dem Ziel, diese als Beschreibungsmittel für Folgen in Termen auch explizit zu nutzen.
Florian Schacht
5. Untersuchungsdesign
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit zeichnet sich durch ihren explorativen Charakter aus. Primäres Erkenntnisinteresse ist dabei, inwiefern sich individuelle Begriffsbildungsprozesse als Entwicklungen individueller Festlegungen, Berechtigungen und Inferenzen beschreiben lassen und wie sich diese bei Schülerinnen und Schülern in einer Unterrichtsreihe zum Umgang mit Bildmuster- und Zahlenfolgen entwickeln (vgl. die Kapitel 1.1 und 1.2 bzw. die Forschungsfragen 1 (…zum epistemologischen Erkenntnisinteresse: Inwiefern lassen sich Begriffsbildungsprozesse als die Entwicklung von Festlegungen erklären, strukturieren und verstehen?) und 2 (…zum empirischen Erkenntnisinteresse: Wie entwickeln sich Merkmale, Muster und Strukturen individueller Festlegungen im Verlauf von Begriffsbildungsprozessen bei Schülerinnen und Schülern?). Dazu wurden im ersten Teil dieser Arbeit ein forschungstheoretischer Rahmen und ein auswertungspraktisches Analyseschema entwickelt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird außerdem die inferentialistische Perspektive auf individuelle Begriffsbildungsprozesse selbst auf ihre Tragfähigkeit für die Beschreibung und das Verständnis ebensolcher Prozesse untersucht (vgl. Kap. 1.4 bzw. Forschungsfrage 4 zum mathematikdidaktischen Erkenntnisinteresse: Inwiefern lässt der zugrunde liegende festlegungsbasierte Theorierahmen vor dem Hintergrund des hier skizzierten Forschungsstandes neue Einsichten in und Perspektiven auf mathematische individuelle Begriffsbildungsprozesse zu?). Darüber hinaus ist der zugrunde liegende Lernkontext Gegenstand der Untersuchung mit Blick auf die Frage, inwiefern er sich eignet, dass Schülerinnen und Schüler zunehmend mathematisch tragfähige Festlegungen eingehen (vgl. Kap. 1.3 bzw. Forschungsfrage 3 zum konstruktiven Erkenntnisinteresse: Inwiefern eignet sich die zugrunde liegende Lernumgebung zum Aufbau individueller Festlegungsstrukturen hinsichtlich eines adäquaten Variablenbegriffs sowie eines adäquaten Umgangs mit Zahlenfolgen und Bildmustern sowie deren Darstellungs- und Zählformen?).
Florian Schacht

Auswertung der Ergebnisse der empirischen Erhebung

Frontmatter
6. Fallbeispiel 1: Orhan
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird einer von zwei individuellen Begriffsbildungsprozessen, die in dieser Arbeit analysiert werden, genauer beleuchtet. Das analytische Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Interpretation vorgenommen wird, wurde in den Kapiteln 1-3 erarbeitet und entwickelt. Kurz gesagt, es werden in diesem Kapitel Orhans individuelle Begriffsbildungsprozesse im Rahmen des vorliegenden Lernkontextes als Entwicklungen seiner Festlegungen, Berechtigungen und Inferenzen beschrieben. Die Analyse erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werden die individuellen Prozesse als Festlegungsentwicklungen entlang der individuellen Situationen herausgearbeitet (Prozessanalyse). In einem zweiten Schritt werden dann gewisse Phänomene in der Rückschau auf diese Prozesse genauer beleuchtet (Phänomenanalyse).
Florian Schacht
7. Fallbeispiel 2: Karin
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird das zweite Fallbeispiel dieser Arbeit genauer analysiert. Das auswertungspraktische Vorgehen orientiert sich dabei wie in Kapitel 6 an dem in Kap. 1 entwickelten Theorierahmen und dem daraus in Kap. 2 abgeleiteten forschungspraktischen Auswertungsschema. Für die Art der Darstellung der Ergebnisse wird hier allerdings ein anderer Zugang gewählt als in Kapitel 6. Anhand zentraler Lerngegenstände wird hier eine eher stofflich-fallbezogene Darstellung der Ergebnisse gewählt. Die Art der Rekonstruktion der individuellen Begriffsbildungsprozesse orientiert sich dabei nicht vollkommen an der konventionalen Verlaufsstruktur des Lernkontextes. Vielmehr werden zu einzelnen mathematischen Gegenstandsbereichen die gegenstandsspezifischen individuellen Festlegungsentwicklungen rekonstruiert, während die Zielsetzung der Darstellungen in Kapitel 6 sich eher an der umfassenden Rekonstruktion der individuellen Begriffsbildungsprozesse entlang der konventionalen Struktur des Lernkontextes orientierten. Die Entscheidung, die Art der Darstellung in diesem Kapitel anders zu gestalten, begründe ich wie folgt:
  • Zum einen ermöglicht die gegenstandsbezogene Darstellung der Ergebnisse im Rahmen dieser Fallanalyse die Möglichkeit der konsequenten Vergleichbarkeit der beiden Fälle Orhan und Karin. Weil Karin – eine Schülerin der Klasse 6 eines Gymnasiums – über ein ganz anderes fachliches Leistungsspektrum verfügt als Orhan, erscheint der konsequente Vergleich von Festlegungen entlang der spezifischen mathematischen Gegenstände vor allem mit Blick auf das epistemologische und empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit als sehr gewinnbringend.
  • Beide Fälle weisen nicht nur hinsichtlich des individuellen mathematischen Leistungsspektrums, sondern auch hinsichtlich der einzelnen Verläufe der Begriffsbildungsprozesse große Unterschiede auf. Spannend an Orhans Begriffsbildungsprozessen sind insbesondere die Hürden und die Umwege seiner Lernentwicklung, die im Lichte des sehr elaborierten Umgangs mit wichtigen mathematischen Gegenständen einen interessanten Kontrast darstellen. Die recht umfassende Rekonstruktion seiner Begriffsbildungsprozesse im Rahmen des Lernkontexes ist ein geeignetes Mittel, die Originalität und die Umwege sowie das komplexe Zusammenspiel der Festlegungen und Inferenzen, die seinen Lernprozess prägen, angemessen darzustellen. Karins Begriffsbildungsprozesse verlaufen – aus konventionaler Sicht – weitaus geradliniger. Die gegenstandsbezogene Falluntersuchung kann in diesem Zusam menhang wichtige lokale Erkenntnisse über die Entwicklung von individuellen Festlegungen zu bestimmten mathematischen Gegenständen liefern.
  • Drittens wird durch die Unterschiedlichkeit der Darstellung der Ergebnisse in den Kapiteln 6 und 7 das Leistungsspektrum des Theorierahmens weiter ausgeleuchtet. Betrachtet werden die begrifflichen Prozesse hier weniger in horizontaler Richtung entlang der konventionalen Festlegungsstruktur des Lernkontextes (wie in Kapitel 6), sondern entlang wesentlicher dem Lernkontext zugrunde liegenden Konzepte. Während also in Kapitel 6 eine Entwicklung individueller Begriffsbildungsprozesse entlang der komplexer werdenden Festlegungsstruktur und der sich gegenseitig bedingenden Vielzahl von Begriffen (über Inferenzen) deutlich gemacht wird, wird hier ein eher kontextals fallbezogener Zugang gewählt (gleichwohl wird hier natürlich der Spezifität des Fallbeispiels hinreichend Rechnung getragen). Die Struktur der Ergebnisse dieses Kapitels ist insofern anders. Ein Vergleich wird in Kapitel 8 vorgenommen.
Florian Schacht
8. Zusammenfassung und Perspektiven
Zusammenfassung
„Verstehen ist so nicht mehr das Anknipsen eines kartesischen Lichts, sondern wird als praktische Beherrschung einer bestimmten Art inferentiell gegliederten Tunsverstanden (…). Nach dieser inferentialistischen Betrachtungsweise ist klares Denken eine Sache des Wissens, worauf man sich mit jeder seiner Behauptungen festgelegt hat und was zu dieser Festlegung berechtigen würde“ (Brandom 2000, S. 193).
Florian Schacht
Backmatter
Metadaten
Titel
Mathematische Begriffsbildung zwischen Implizitem und Explizitem
verfasst von
Florian Schacht
Copyright-Jahr
2012
Verlag
Vieweg+Teubner Verlag
Electronic ISBN
978-3-8348-8680-4
Print ISBN
978-3-8348-1967-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-8348-8680-4