Die Geschichte der sowjetischen Physik in den 30er Jahren sei, so heißt es, mein bevorzugtes Arbeitsfeld. Im großen und ganzen trifft dies auch zu. Diese Geschichte und diese Jahre begannen mich jedoch deshalb zu interessieren, weil mich ein ganz konkreter Mensch zutiefst beschäftigte — Mitja Bronstein, der herausragende sowjetische Physiker Matwej Petrowitsch Bronstein, Matwej — Mitja? Ja, auch der Abt und MP genannt.
Die Sozialgeschichte der sowjetischen Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen. Sie muß an die Stelle dessen treten, was sich sozialistischeWissenschaftsgeschichte nannte und zur Wissenschaft nicht mehr Beziehung hatte als der sozialistische Realismus zur Realität. Die Kinderkrankheit, die dem jungen Forschungsgebiet droht, ist die Tendenz, die Vergangenheit in nur zwei Farben zu malen. Wer die geschichtliche Realität kennt, weiß um das Unzureichende eines solchen Rot-Weiβ-Bildzs. Jedoch ist es gar nicht leicht, die rot-weiße Farbpalette zu komplettieren und das echte Sozialkolorit der Vergangenheit wiedererstehen zu lassen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich beispielsweise, daß in der sowjetischen Vergangenheit selbst unter einen scheinbar so eindeutigen Begriff wie marxistischer Philosoph Vertreter mit grundverschiedenen Auffassungen subsumiert wurden, die an mehrere Modifikationen des Marxismus denken lassen. Drei besonders charakteristische Beispiele marxistischer Philosophen, die in der sowjetischen Physik ganz und gar unterschiedliche Rollen spielten, seien im folgenden betrachtet.
Bekannt unter Physikern ist, daß der Gründer des PhIAN, des Physikalischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, und sein erster Direktor Sergej Iwanowitsch Wawilow (1891–1951) war. Allgemein bekannt ist gleichfalls, daß Georgi Antonowitsch Gamow (1904–1968) auf der Suche nach einem besseren Los Sowjetrußland verließ.
Das Gebäude der modernen Physik wird von wenigen Säulen getragen — den fundamentalen Theorien: Gravitationstheorie, Quantentheorie, die Theorien der elektroschwachen und der starken Wechselwirkung. Wenn aber das Weltengebäude, der Kosmos, ein einheitliches Ganzes ist, muß es auf einem gleichfalls einheitlichen Fundament ruhen. Also ist das Unverbundensein, das Separate der tragenden Säulen keine Eigenschaft von Natur aus, sondern kennzeichnet den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Pate bei der Titelfindung für dieses Kapitel, das ein aufschlußreiches Archivdokument zum Thema hat, stand Lion Feuchtwangers Buch Moskau1937 — Ein Reisebericht fürmeine Freunde.1 Bei dem Archivmaterial handelt es sich um die stenographische Mitschrift der Wortmeldungen auf der Versammlung des Aktivs des PhIAN, des Physikalischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, die im April 1937 stattfand. Die minutiös festgehaltenen Diskussionsreden einiger Dutzend Mitarbeiter des PhIAN spiegeln die aktuelle Lage, einen Augenblick in der Geschichte der sowjetischen Physik und der sowjetischen Gesellschaft allgemein wider. Ausgelöst wurde die Welle von Aktivtagungen, die das ganze Land erfaßte und vor dem Institut nicht haltmachte, durch das Märzplenum des Zentralkomitees der WKP(B) [Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)], auf dem Bucharin und Rykow aus der Partei ausgeschlossen und als Agenten Japans und Deutschlands den Sicherheitsorganen des NKWD überantwortet wurden.
In den 30er Jahren waren die Naturwissenschaften in der Sowjetunion einem rasch anwachsenden Druck von Seiten der marxistischen Philosophie ausgesetzt. Die staatliche Diktatur hatte inzwischen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfaßt. Öffentlicher Austragungsort für die Auseinandersetzung zwischen offizieller Philosophie und Naturwissenschaften war die Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus.
Mehrere ausnehmend glänzende und vielversprechende Physiker der jüngeren Generation verloren vorzeitig ihr Leben: M. P. Bronstein, S. P Schubin, A. A. Witt. Dies schrieb Igor Tamm, der herausragende Physiker und unvergleichliche Mensch, in seinem Artikel TheoretischePhysik für den Paradeband Der Oktober und der wissenschaftliche Fortschritt, der zum 50. Jahrestag der Sowjetära erschien. Die drei jungen Physiker, deren Tod zu den Resultaten jenes Oktobers zählte, gehörten der Generation von Schülern und jüngeren Kollegen Tamms an. Es war dies die erste Generation theoretischer Physiker, die ihre Ausbildung unter der Sowjetmacht erhalten hatte.
Natürlich meint der Titel dieses Unterkapitels nicht Geschichte der Physik allgemein, sondern die der sowjetischen Physik, insbesondere in den 30er Jahren. Gab es einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, den der sowjetische Staatssicherheitsdienst nicht überwacht hätte? Politische Hauptverwaltung und Volkskommissariat für Inneres sicherten den Aufbau des Stalinismus in den 30er Jahren allseitig, rast- und schonungslos sowohl vor äußeren als auch vor inneren Feinden. Zu Feinden des Sozialismus wurden auch nicht wenige sowjetische Physiker erklärt, unter ihnen Wissenschaftler von Weltrang, der Stolz und die Zukunft Rußlands. Diese Zukunft wurde jedoch ausgelöscht: Matwej Bronstein (1906–1938), Alexander Witt (1902–1938), Semjon Schubin (1908–1938), Lew Schubnikow (1901–1937) ...
Trägt man der ehemals herrschenden spezifisch sowjetischen Auffassung über Information Rechnung, so erlangen Zeugnisse nichtsowjetischer Herkunft, Blicke von auβerhalb, besonderen Wert. Zwei Beispiele seien hier angeführt.
Ist vom Wissenschaftsleben in der Epoche des reifen Stalinismus die Rede, so sieht man die Szene von seinen typischen Vertretern bevölkert:Von der einen Seite betreten die wissenschaftlich unproduktiven, aber durch ihre Parteihörigkeit avancierten Wissenschaftsadministratoren die Szene, von der anderen Seite die echten Wissenschaftler (mit einem leichten Glorienschein um das Haupt). Spielt die Handlung in den letzten Lebensjahren Stalins, liest man von der Stirn der aus den linken Kulissen tretenden Exponenten des Bösen unschwer die Losung: Gebt es den Kosmopoliten, rettet das russische Vaterland!, während unter den von rechts kommenden Darstellern nicht wenige Juden anzutreffen sind.1
Die Biographien der beiden herausragenden russischen Physiker und Nobelpreisträger Kapitza und Landau sind nicht allein von den dramatischen Ereignissen in jener Wissenschaft geprägt, der sie sich verschrieben hatten, sondern auch von dem sozialen Drama ihres Landes. Besonders beredt zeugen davon Dokumente, die erst vor kurzem zugänglich wurden. Dies bezieht sich auf den Briefnachlaß Kapitzas, insbesondere seine Briefe an die Kremlmachthaber1, und das Dossier über Landau aus dem KGB-Archiv.2
Der Beweggrund, das vorliegende Buch zu schreiben, kam aus der Beschäftigung des Verfassers mit Lebensleistung und Schicksal des theoretischen Physikers (und Kinderbuchautors) Matwej Bronstein. Der Terror des Jahres 1937 hatte auch ihn ausgelöscht. Ein halbes Jahrhundert später traten im postumen Dasein Bronsteins Ereignisse ein, wurden Fakten seines Lebens bekannt, von denen abschließend zu berichten ist.