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2009 | Buch

Menschenrechtsorganisationen in der Türkei

verfasst von: Anne Duncker

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Einleitung
Auszug
Eine Frau, in einem geräumigen Büro im islamisch geprägten Stadtteil Fatih in Istanbul. Sie trägt ein straff gebundenes schwarzes Kopftuch und einen langen schwarzen Mantel. Sie ist Juristin. Sie engagiert sich für Frauenrechte, das heißt für sie vor allem: für Religionsfreiheit und das Recht, ein Kopftuch zu tragen. Sie spricht von der Bedeutung des Islam und der religiösen Pflicht, Menschen in Notsituationen zu helfen. Von der Europäischen Union ist sie in dieser Hinsicht enttäuscht; der Beitrittsprozess führt ihrer Ansicht nach nicht zu mehr, sondern zu weniger Religionsfreiheit.

Theoretische und methodische Grundlagen

Frontmatter
1. Stand der Forschung
Auszug
Wie beschrieben ist das primäre Anliegen dieser Arbeit eine Politikfeldstudie, die den türkischen Menschenrechtssektor darstellt und analysiert. Dabei wird nicht ein bestimmter Rechtsbereich (z.B. Frauenrechte oder Minderheitenrechte) in den Mittelpunkt gestellt und auch nicht eine bestimmte Gruppe (z.B. islamische oder kurdische Organisationen). Vielmehr ist das Ziel, ein Gesamtbild des Sektors zu zeichnen und seine Diversität an Themen und Akteuren darzustellen. Eine solche umfassende empirische Studie existiert bislang nicht
2. Theorie, Methodologie, Methodik
Auszug
Die folgenden Überlegungen zum theoretischen Rahmen sowie zur Methodologie und Methodik sollen deutlich machen, von welchen theoretischen Grundannahmen in dieser Arbeit ausgegangen wird und welche Methoden darauf aufbauend ausgewählt wurden, um die notwendigen Daten zu ermitteln und zu interpretieren. Diese Erläuterungen dienen nicht nur dem besseren Verständnis und der Einordnung der Studie, sondern auch der Qualitätssicherung, da ein nachvollziehbarer Fahrplan erstellt wird, der beschreibt, welche Ziele mittels welcher Methoden erreicht werden sollen. „Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um ‚die Welt‘ einzufangen“ schreibt Popper (1989: 31). Die Methodologie klärt, wie — in dieser Analogie bleibend — das Netz beschaffen sein muss, damit die Bruchstücke „der Welt“ eingefangen werden, die für die jeweilige Forschungsfrage relevant sind. Die Methodologie, das Nachdenken über die Wahl der Methoden, soll eine begründete Abstimmung unterschiedlicher Forschungsschritte sichern (Kassner/Wassermann 2002: 98). Die konkreten Schritte, die unternommen werden, um die Daten zu erheben und zu analysieren, werden unter dem Begriff der Methodik zusammengefasst. Im vorliegenden Fall umfasst dies einerseits die Konzeption und Durchführung der Interviews und die Auswahl weiteren Materials sowie andererseits die Auswertungsschritte, also die Transkription der Gespräche, die Typologisierung und die Generalisierung des Materials. Theorie, Methodologie und Methodik haben unterschiedliche Funktionen, bauen jedoch aufeinander auf und sind voneinander abhängig.

Empirische Ergebnisse: NGOs, türkischer Staat und EU

Frontmatter
3. NGOs und türkischer Staat
Auszug
In der folgenden Analyse des Verhältnisses der NGOs zum Staat geht es einerseits um Kooperationen, andererseits um repressive Maßnahmen. Der Terminus „Staat“ bezeichnet dabei nicht primär die Regierung, wie dies in manchen staatstheoretische Ansätzen der Fall ist (Benjamin/Duvall 1985: 22). Noch deutlicher als in anderen Ländern werden in der Türkei der Regierung und dem Staat gänzlich unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Dies kommt auch in den Interviews immer wieder zum Ausdruck. Während die Regierung als auswechselbarer Größe beschrieben wird, die eine schwache Position mit wenig Handlungskapazitäten innehat, wird der Staat als der ausschlaggebende Akteur wahrgenommen, der den Handlungsspielraum der anderen Akteure maßgeblich bestimmt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Akteur im engeren Sinne, auch wenn dies in den Interviews häufig so formuliert wird. Vielmehr handelt es sich bei dem, was die Interviewten unter dem Begriff „Staat“ subsumieren, um ein Geflecht aus Strukturen und Akteuren, die primär im exekutiven und judikativen Bereich angesiedelt sind. Dazu zählen die Verwaltung, die Gerichte, die Polizei, das Militär und die Geheimdienste. Geeint sind diese Komponenten durch die Macht der kemalistischen Elite, die auf alle Bereiche, Legislative, Exekutive und Judikative, Einfluss ausübt, wodurch die Gewaltenteilung verschwimmt.
4. NGOs im europäischen Prozess
Auszug
Dieses Kapitel befasst sich zum einen mit dem Einfluss des europäischen Prozesses auf den türkischen NGO-Sektor. Speziell geht es um die Frage, wie die NGOs ihre Interessen im europäischen Diskurs platzieren und wie sie den europäischen Prozess bewerten. Die Art, wie die NGOs den Begriff der Menschenrechte in Bezug auf den europäischen Diskurs oder aber in Abgrenzung zu diesem konzipieren, deckt viele Charakteristika der unterschiedlichen Ausrichtungen auf. Hier zeichnet sich bereits die Konfliktlinie Universalismus vs. Relativismus ab, um die es in Kapitel Neun gehen wird. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie entscheidend der Einfluss der türkischen Zivilgesellschaft auf die menschenrechtliche Normdurchsetzung im Verhältnis zum Außendruck durch die EU ist. Das führt zu der Überlegung, welche Auswirkungen ein Abbruch des europäischen Prozesses auf den türkischen Menschenrechtssektor haben könnte.

Empirische Ergebnisse: NGO-Landschaft und Konfliktlinien

Frontmatter
5. Selbst- und Fremdbeschreibung der NGOs: Zur Bedeutung des Politischen
Auszug
„Man wird selten eine Definition des Politischen finden“, schreibt Carl Schmitt in seinem viel diskutierten Werk „Der Begriff des Politischen“ (1996: 20). In der Tat ist es schwierig, das Politische zu fassen, und sowohl der wissenschaftliche als auch der alltägliche Sprachgebrauch machen deutlich, wie viele unterschiedliche Bedeutungen diesem Begriff zugeschrieben werden. Auch die türkischen NGO-Vertreter und -Vertreterinnen äußern stark divergierende Auffassungen darüber, wie das Politische in der Menschenrechtsarbeit zu definieren sei. Dabei spielt der Begriff des Politischen bei der Beschreibung der Arbeit und Ausrichtung sowohl der eigenen Organisation als auch der anderen Organisationen eine wichtige Rolle. Schmitt zufolge wird im Allgemeinen „‚Politisch‘ in irgendeiner Weise mit ‚Staatlich‘ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen“ (ebd.: 21). Diese Gleichsetzung sei jedoch falsch, da Staat und Gesellschaft einander durchdringen würden, und „daher hören die bisher ‚neutralen‘ Gebiete — Religion, Kultur, Bildung, Wirtschaft — auf, ‚neutral‘ im Sinne von nichtstaatlich und nicht-politisch zu sein“ (ebd.: 24).76 Wie im Weiteren gezeigt werden wird, versucht ein Teil der Akteure jedoch genau diesen neutralen Charakter aufrechtzuerhalten. Ein anderer Teil hingegen schließt sich der Ansicht an, dass Menschenrechtsarbeit notwendigerweise politisch ist, wobei die Zuschreibung „politisch“ in diesem Fall eine positive Konnotation erfährt.
6. Gesellschaftliche Konfliktlinie 1: Religion vs. Säkularismus
Auszug
Der Machtkampf zwischen den Religiösen und den Säkularisten hat sich im Wahljahr 2007 erneut an der Frage entzündet, ob das Militär duldet, dass ein Vertreter der AKP in das Amt des Staatspräsidenten gewählt wird. Mit dem Wahlsieg der AKP und einem gläubigen Muslim als Regierungschef hatten sich die Generäle zähneknirschend arrangiert, um angesichts einer möglichen islamischen Doppelspitze zunächst vernehmlich mit den Säbeln zu rasseln. Der erste Versuch, den damaligen Außenminister Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu wählen, scheiterte am Widerstand des Militärs und der kemalistischen Politelite. Nach den darauffolgenden Neuwahlen, die der AKP einen haushohen Sieg einbrachten, wurde Gül Ende August zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Mehr denn je sind die Kritiker der AKP seitdem davon überzeugt, dass die Partei eine schleichende Islamisierung der türkischen Republik anstrebt. Die AKP hingegen gibt sich weltoffen und pro-europäisch und verurteilt die Einflussnahme des Militärs als undemokratisch und islamfeindlich. Der Konflikt sitzt tief und scheint sich auch nach der äußerst reform- und europaorientierten ersten Legislaturperiode unter Führung der AKP nicht abzumildern, sondern im Gegenteil noch zu verschärfen.
7. Gesellschaftliche Konfliktlinie 2: Zentrum vs. Peripherie
Auszug
In der Türkei markiert der starke Staat das Zentrum, während die Gesellschaft die Peripherie bildet. So entspricht es jedenfalls dem immer wieder reproduzierten und durch die politischen und militärischen Eliten verfestigten kemalistischen Konstrukt, das nach dem Militärputsch von 1980 auch in verfassungsrechtlicher Sicht verankert wurde (Insel 2003: 294). Obwohl diese Konfliktlinie Staat und Zivilgesellschaft trennt, verläuft sie auch innerhalb der Zivilgesellschaft, primär zwischen den kemalistischen und den linken NGOs. Für die islamischen NGOs spielt diese Konfliktlinie keine bedeutende Rolle. Die Seite des Zentrums wird durch das Eintreten für einen starken Nationalstaat und den Erhalt der kemalistischen Prinzipien charakterisiert. Die zentrumsnahen Akteure unterstützen den Zentralstaat, der alle Türken, unabhängig von ethnischer Herkunft, über das Band der Staatsangehörigkeit und die gemeinsame Sprache eint. Föderalismus wird als Vorform des Separatismus angesehen, dessen Förderung überdies durch die Verfassung und das Parteiengesetz verboten ist. Diese Idee der Inklusion hat einen übersteigerten Nationalismus hervorgebracht, der wenig Raum für Diversität lässt: „For the ruling Kemalist elites, the unity of society achieved through ‚progress‘ of a Western sort is the ultimate goal. Thus, throughout republican history, all kinds of differentiation — ethnic, ideological, religious, and economic — have been viewed not as natural components of a pluralistic democracy but as sources of instability and as threats to unity and progress“ (Göle 1997).
8. Menschenrechtliche Konfliktlinie: Universalismus vs. Relativismus
Auszug
Wie zu Beginn erläutert, gehen universalistische Theorien davon aus, dass Menschenrechte für alle Individuen gleichermaßen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort, ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit, gültig sind. Menschenrechte dürfen diesem Ansatz nach also nicht relativiert werden, sondern gelten absolut. Relativisten hingegen sehen in diesem Verständnis eine Missachtung kultureller und religiöser Unterschiede. Sie plädieren dafür, dass Menschenrechte an die jeweiligen Kontextbedingungen angepasst werden sollten, also keine universale, sondern lediglich partikulare Gültigkeit besitzen sollten. Die Konfliktlinie Universalismus vs. Relativismus spiegelt keinen Konflikt der türkischen Politik oder Gesellschaft wider, wie es bei den beiden zuvor behandelten der Fall ist. Vielmehr stellt sie einen Konflikt dar, der den internationalen Menschenrechtsdiskurs prägt.
9. Konfliktlinien und Möglichkeiten ihrer Überwindung
Auszug
Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, ist der türkische Menschenrechtssektor von Konfliktlinien durchzogen, die einerseits die türkische Gesellschaft und auch die Parteienlandschaft prägen, andererseits den internationalen Menschenrechtsdiskurs bestimmen. Die Konfliktlinien sind so wirkmächtig, dass das Gemeinsame aller Organisationen — der Einsatz für die Menschenrechte — nur bedingt als verbindendes Element zwischen den Gruppen fungieren kann. Am Beispiel des Engagements gegen Folter soll im Folgenden gezeigt werden, dass auch ein politisch wenig umstrittener Rechtsbereich nicht notwendigerweise Kooperationen begünstigt. Sodann wird unter Einbeziehung der zuvor dargestellten Konfliktlinien der Frage nachgegangen, warum so wenig gemeinsames Aktionspotential aktiviert werden kann, obwohl die Forderungen der NGOs — trotz aller Unterschiede — viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Abschließend wird am Beispiel der Frauenrechtsbewegung gezeigt, dass vor allem sogenannte „weiche Themen“ den Weg für Kooperationen zwischen NGOs unterschiedlicher Ausrichtungen ebnen können.
Backmatter
Metadaten
Titel
Menschenrechtsorganisationen in der Türkei
verfasst von
Anne Duncker
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91330-8
Print ISBN
978-3-531-16245-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91330-8