Der vorliegende Beitrag analysiert das Militär als spezifischen Baustein sozialer Ordnung in der Moderne: als Organisation. Ausgangspunkt der Analyse ist die Erkenntnis, dass der Zweck des Militärs die organisierte Androhung und Anwendung von Gewalt ist. Damit hat das Militär im modernen Staat ein Alleinstellungsmerkmal, das es von anderen staatlichen Organisationen (wie beispielsweise der Polizei) unterscheidet. Gleichzeitig weisen Streitkräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit anderen Einsatzorganisationen und bürokratischen Verwaltungen auf. Die Grundlagen der militärischen Organisation (z.B. Formalisierung und Informalisierung) werden aus neoinstitutionalistischer Sicht analysiert, was einerseits die Herstellung von Organisation als Institution im Alltag in den Fokus rückt, andererseits die Verflechtung von Militär und Gesellschaft auf institutioneller Ebene thematisiert.
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Um sich einen Überblick über die theoretischen Ansätze der Organisationssoziologie zu verschaffen, steht eine reiche Palette an Einführungsliteratur zu Verfügung. Wer einen systematischen Zugang auf Grundlage der zwei Hauptprobleme der Organisationssoziologie, dem Kooperations- und dem Koordinationsproblem, sucht, sei auf Peter Preisendörfer (2015) verwiesen. Einen genealogischen Zugang, angefangen von den Pionieren der Zunft bis hin zu aktuellen Ansätzen der Organisationsforschung, findet man bei Giuseppe Bonazzi (2014). Gareth Morgan (2002) macht mit seinen erstmals 1986 erschienen Images of Organization ebenfalls einen tour d’horizon durch die Geschichte der Organisationswissenschaften. Die herangezogenen Ansätze werden von ihm insgesamt acht grundlegenden Metaphern zugeordnet, die die jeweilige Denkungsart über Organisationen formen. Eine Kombination der verschiedenen Perspektiven findet sich bei Martin Elbe und Sibylle Peters (2016).
Ein Stab-Linien-System bezeichnet einen streng hierarchischen Organisationsaufbau, bei dem untergeordnete Stellen Weisungen von nur einer übergeordneten Stelle entlang der Linie erhalten. Ergänzt wird das System mit Stabselementen außerhalb der Linie, die der jeweiligen Führungsebene beratend zur Seite gestellt sind. Mehrliniensysteme sind hingegen so angelegt, dass eine untergeordnete Stelle Befehle und Weisungen von zwei oder mehreren Stellen über ihr erhält, die sich jedoch im Idealfall nicht wechselseitig widersprechen, sondern thematisch, d. h. vor allem fachlich und disziplinär, abgegrenzt sind.
Dienstposten in der Bundeswehr wiederum können sowohl bei Instanzen als auch bei Stellen angesiedelt sein. Dienstposten dienen der Zuordnung von Personen in der Organisation und definieren eine personelle Sollstruktur, mit Dotierung, Aufgabenbeschreibung und Besetzungsvoraussetzungen.
Ein Zweig der Organisationssoziologie des Militärs beschäftigt sich mit der Frage, wie das Militär lernen und aus Erfahrungen in seiner eigenen Vergangenheit oder durch Beobachtung anderer Organisationen desselben Feldes erfolgreiche Lessons-Learned-Prozesse abgeleitet werden können (siehe Dyson 2020).
Die Rede vom Neoinstitutionalismus ist als eine in den 1970er-Jahren aufkommende Renaissance institutionalistischen Denkens in Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaften zu verstehen; ihre Hauptvertreterinnen und -vertreter im Bereich des Organisationssoziologie (DiMaggio, Powell, Scott, Meyer) knüpfen dabei an die ältere soziologische Institutionentheorie an (Durkheim, Weber, Parsons usw.). Für eine Rekonstruktion seit den Anfängen bei den Gründungsvätern der Institutionentheorie im 19. Jahrhundert siehe Scott (2014).
Hierzu ein Beispiel: „Institutionalisierung meint in bezug auf Organisationen die subjektive Sicherheit, daß ein bestimmtes Element, sei es EDV, sei es Buchführung oder Investitionsrechnung, zu bestimmten Organisationen gehört. Institutionalisierung meint auch, daß diese Elemente nicht mehr hinterfragt werden. Sie werden als gegeben und richtig betrachtet.“ (Walgenbach 2002: 321)
Shahi Ansari und K. J. Euske (1987) berichten von einer vergleichbaren Langzeitstudie in den US-amerikanischen Streitkräften. Hintergrund bildet ein im Jahr 1975 vom Department of Defence (DoD) flächendeckend eingeführtes Kosteninformationssystem mit Berichtswesen in Instandsetzungseinheiten und Depots (Uniformed Cost Accounting, UCA). Im US-amerikanischen Fall zeigte sich sehr deutlich, dass die eigentliche Funktion des Kosteninformationssystems nicht in einer technisch-rationalen Beeinflussung organisationaler Prozesse bestand: „None of the personal interviewed could identify a decision of any consequence that was made on the basis of the UCA data.“ Mehr Erklärungskraft dafür, weshalb das UCA eingeführt und dann am Leben erhalten wurde, sehen die Autoren in der neoinstitutionalistischen Perspektive. Die Kosteninformationen erlaubten dem DoD eine positive Außendarstellung: „With respect to the DoD’s relationship to congress, the objectives are important means to demonstrate rationality.“ (ebd.: 563) Alles in allem kommen die amerikanischen Forscher zu folgendem Ergebnis: „Our findings show a great deal of disparity between the formally stated objectives, which are oriented to efficiency considerations and the way the system was designed and implemented.“ (ebd.: 557)
Flankiert wurde der „mimetische“ durch den „normativen Isomorphismus“, der sich in besonderen Formen der Professionalisierung zeigt. Professionalisierung ist der Versuch einer Berufsgruppe, spezifische Arbeitsmethoden zu definieren und durch gemeinsame Standards und eine gemeinsame Denkhaltung berufliche Autonomie zu erzeugen. Im ‚kalten Aggregatzustand’ verstärkt sich der erwähnte, von der Soziologie bereits Mitte der 1960er-Jahre diagnostizierte Trend einer „civilianization“ (Lang 1965) des Militärs dadurch, dass heute im Rahmen betriebswirtschaftlicher Neuorientierung im Fall der Bundeswehr vielfach auf externen Sachverstand etwa von Unternehmensberatungen zurückgegriffen wird. Zudem verfügt ein nicht unerheblicher Anteil der militärischen Führung heute selbst über eine wirtschaftswissenschaftliche Qualifikation, die oft im Rahmen der Offiziersausbildung erworben wurde. Dies kann als Isomorphisierung qua Professionalisierung gewertet werden, da sich die Ausbildung und das professionelle Selbstverständnis immer stärker an der entsprechenden Referenzgruppe in der Privatwirtschaft orientieren.
Betont der soziologische Neoinstitutionalismus vor allem den Einfluss der institutionellen Umwelt auf die militärische Organisation, so gibt es immer wieder Beispiele auch für die Bedeutung von technischen Umwelten. Im Deutsch-Österreichischen Krieg von 1866 werden erstmals massiv die Auswirkungen neuer Errungenschaften der industriellen Gesellschaft und ihrer naturwissenschaftlich-technologisch Fundierung manifest (vgl. Crefeld 1985: 103 ff.). Die Nutzung des bereits damals gut ausgebauten Eisenbahnsystems und der aufkommenden Telegrafie macht eine Neuaufstellung militärischer Führungssysteme erforderlich und führt auf preußischer Seite zur Herausbildung des Generalstabs als neuem Organisationselement. Der Sieg über Österreich ist nicht nur der technologischen Überlegenheit des Preußischen Heeres zuzuschreiben, sondern vor allem der durch die Technologie ausgelösten Reform der militärischen Führungsstruktur.
Pointiert formuliert dies der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault: „In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Soldat etwas geworden, was man fabriziert. Aus einem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, deren man bedarf; Schritt für Schritt hat man die Haltungen zurecht gerichtet, bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und (…) sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt.“ (Foucault 2013: 173)
Dies gilt insbesondere für das Wechselspiel zwischen kalten und heißen Phasen des militärischen Alltags, wie sie z. B. Philipp Münch (2015) für die Bundeswehr generell und für den Afghanistan-Einsatz im Besonderen beschreibt.
Der Umgang mit erfolgreichen Befehlsignorierungen und Regelbrüchen ist ein klassisches Spannungsfeld des Militärs, das schon im Drama vom Prinz von Homburg von Heinrich von Kleist thematisiert wird und das Kühl (2020) im Ansatz der Brauchbaren Illegalität eingehend behandelt.
Zum Habituskonzept siehe vor allem Bourdieu (1976, 1987). Dieses zeigt hohe Anschlussfähigkeit an den Neoinstitutionalismus und an die Organisationskulturforschung (Hagen 2003).