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26.08.2024 | Mobilitätskonzepte | Schwerpunkt | Online-Artikel

Frugale Innovationen machen nachhaltigere Mobilität möglich

verfasst von: Christiane Köllner

7 Min. Lesedauer

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Zurück zum Wesentlichen statt Overengineering: Frugale Innovationen, ursprünglich für ärmere Länder gedacht, fassen auch hierzulande Fuß. Für die Autoindustrie bietet der Trend die Chance auf eine nachhaltigere Mobilität (Update)

Mit weniger mehr erreichen: Statt Produkte zu entwickeln, die über möglichst viele Funktionalitäten verfügen, mit technischen Spielereien überladen oder zu kompliziert sind, setzt ein Gegentrend auf Reduktion – und damit auf frugale Innovationen. Gefragt sind hier einfache, robuste, ressourcenschonende und kostengünstige Lösungen, die genau auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnitten sind. Statt einer Masse an Sonderfunktionen, die den Preis steigern, ist Klasse gefragt im Sinne eines stimmigen Produkts. Nicht mehr, aber auch nicht weniger – denn mit Low-Tech, dem Abspecken komplexer Premiumprodukte oder billigem Ramsch haben frugale Innovationen nichts zu tun. 

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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

Advanced Frugal Innovations

The phenomenon of grassroots frugal innovations sheds light on the potential of frugal innovations, in general, as cost-effective and environment-friendly products with good functionality.

Das Wesentliche im Blick

Noch vor rund zehn Jahren war der Begriff frugale Innovation weitgehend unbekannt. Erst in der vergangenen Zeit haben frugale Innovationen an Bedeutung gewonnen und das Interesse an ihnen ist gestiegen. Dabei entstammt die "Diskussion über frugale Innovationen […] dem Kontext der Entwicklungs‐ und Schwellenländer", erklärt Springer-Autor Timo Weyrauch in der Einleitung (Seite 3) des Essentials Frugale Innovationen. Hierbei geht es darum, Produkte und Dienstleistungen auf die speziellen Bedürfnisse und Anforderungen der dortigen Märkte auszurichten. Vor allem in Asien, aber auch in Lateinamerika oder Afrika lassen sich frugale Innovationen beobachten. In Afrika ist "insbesondere die Subsahara-Region ein Hotspot der "'frugalen Innovation'", wie die Springer-Autoren um Linet Kwamboka Nyang’au im Kapitel Nairobi Innovation System (Seite 162) des Buchs Successful Innovation Systems wissen.

In diesem Sinn sind frugale Innovationen "einfach zu handhabende, kostengünstige und dennoch robuste Produkte und Dienstleistungen, welche die lokalen Bedürfnisse erfüllen" (Seite 4), so Weyrauch. Ein Beispiel für eine frugale Innovation sei der Tata Ace, so Weyrauch, ein Mini‐Lastwagen für den indischen Markt, der mit rund 225.000 indischen Rupien (circa 5.000 US‐Dollar) zum Zeitpunkt der Markteinführung nur die Hälfte des Preises für vergleichbare Fahrzeuge kostete. In Indien sind frugale Innovationen auch unter dem Hindi-Wort "Jugaad" bekannt, so Springer-Autor Parul Rishi im Kapitel Frugality and Innovation for Sustainability (Seite 83) des Buchs Managing Climate Change and Sustainability through Behavioural Transformation. Ein weiteres Beispiel ist der "Crop Tiger" des westfälischen Landmaschinenherstellers Claas. Der Mähdrescher, der sich besonders gut für schlammige Böden und kleine Reisfelder eignet, wurde speziell für den asiatischen Markt entwickelt, wie Springer-Autor Purvi Shah-Paulini im Kapitel Frugale bzw. Reverse Innovation (Seite 88) des Buchs Chefsache Integrales Business mit Indien erklärt. Auch der Renault Kwid folgt dem Konzept einer sparsamen technologischen Entwicklung.

Drei Kriterien frugaler Innovation

Weyrauch nennt drei Eigenschaften, die für frugale Innovationen als charakteristisch zu bezeichnen seien. Allen frugalen Innovationen liege zugrunde, dass diese drei Kriterien gleichzeitig erfüllt werden müssen, wie er im Kapitel Untersuchung der Kriterien zur Bestimmung frugaler Innovationen (Seite 36 bis 46) des genannten Essentials beschreibt. Die drei Kriterien laut Weyrauch sind:

  • Substanzielle Kostenreduktion: "Frugale Innovationen haben aus Perspektive des Kunden substanziell geringe Anschaffungskosten oder Total Cost of Ownership (die mindestens um ein Drittel unter den Kosten der Produkte oder Dienstleistungen liegen, die bisher auf dem jeweiligen Markt verfügbar sind)".
  • Konzentration auf Kernfunktionalitäten: "Frugale Innovationen weisen im Vergleich zu anderen auf dem Markt verfügbaren Produkten und Dienstleistungen eine Konzentration auf Kernfunktionalitäten auf."
  • Optimiertes Leistungsniveau: "Frugale Innovationen weisen das Leistungsniveau auf, welches tatsächlich benötigt wird (und im Vergleich zu bisher verfügbaren Produkten und Dienstleistungen besser auf den jeweiligen Einsatzzweck und die lokalen Bedingungen ausgerichtet ist)." 

Relevanz für Industrienationen

Frugale Innovationen haben aber nicht nur Potenzial in Schwellenländern. Auch in Industrienationen steigt die Bedeutung von frugalen Innovationen für die Unternehmen. Dafür gibt es laut Weyrauch, wie er in seiner Essential-Einleitung (Seite 4 bis 6) ausführt, mehrere Gründe:

  • Der Markt für frugale Innovationen in den Entwicklungs‐ und besonders den Schwellenländern sei potenziell auch für Unternehmen aus den Industriestaaten attraktiv.
  • Auch in Industriestaaten wie Deutschland gebe es einen Markt für frugale Innovationen. Weyrauch führt den Erfolg der Automarke Dacia als Beispiel an. Ebenso spielten frugale Innovationen im Business‐to‐Business (B2B)‐Bereich eine Rolle, wie das Beispiel des Elektro‐Fahrzeugherstellers Streetscooter zeige. 
  • Für westliche Firmen bestehe die Gefahr, dass die Konkurrenz aus den Schwellenländern frugale Produkte entwickle, die später in die Märkte der Industriestaaten fließen und die Marktposition etablierter Unternehmen gefährden.
  • Deutsche Unternehmen, die sich bisher auf Hochtechnologien konzentriert haben, bekämen zunehmend Konkurrenz von chinesischen Unternehmen aus dem mittleren Preissegment. Chinesische Unternehmen positionieren sich zunächst erfolgreich mit einer Good‐Enough‐Strategie in dem Segment, dem auch frugale Innovationen zugeordnet werden.
  • Frugale Innovation ließen sich gezielt zur Ressourceneinsparung und für mehr Nachhaltigkeit verwenden.

Bewusste Beschränkung und Vereinfachung

Wie Weyrauch zeigt, spielen frugale Innovationen nicht nur aufgrund der wachsenden Mittelschicht in Schwellenländern eine Rolle. "Auch in westlichen Märkten setzen viele Kunden vermehrt auf bewusste Beschränkung und Vereinfachung", betonen die Springer-Autoren Wohlfart, Sturm und Wagner im Kapitel Erschließen neuer Märkte durch frugale Innovationen (Seite 214) des Buchs Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement. Diese Entwicklung werde durch aktuelle gesellschaftliche Trends wie die Do-it-yourself-Bewegung, die Share Economy und den postmodernen Minimalismus weiter angetrieben.

Auch der Verkehrssektor transformiert sich, angetrieben durch die Elektrifizierung, Automatisierung und das Sharing. "Um das Gesamtsystem effizienter zu machen, kann die Vereinfachung eine weitere Revolution werden, die durch frugale Innovation und eine drastische Verkleinerung der Fahrzeuggröße und -leistung gekennzeichnet ist", schreiben Uwe Schneidewind, Thorsten Koska und Oliver Lah im Artikel Autoindustrie – auf dem richtigen Weg? (Seite 464) aus dem Wirtschaftsdienst 7-2019. Damit werde dem Trend der letzten Jahrzehnte zu immer größeren, schnelleren und leistungsfähigeren Fahrzeugen entgegengewirkt, der fast alle durch Effizienzsteigerungen in der Antriebstechnik möglichen Verbrauchseinsparungen kompensiert habe. 

Fortgeschrittene frugale Innovation

In den vergangenen Jahren hat sich eine neue Art von frugaler Innovation, die sogenannte fortgeschrittene frugale Innovation (Advanced Frugal Innovation; AFI), entwickelt und weit verbreitet, wie Springer-Autor Balkrishna C. Rao im Buchkapitel Advanced Frugal Innovations des Buchs Frugal Engineering erklärt. Demnach seien AFI kostengünstige, jedoch hochentwickelte und anspruchsvolle Produkte, die durch die systematische Anwendung von Wissenschaft und Technologie von Personen mit höherem, akademischen Grad entstünden. Insofern würde sie sich von ihren "Graswurzel"-Pendants unterscheiden, die bei ihrer Entwicklung vielmehr auf Zufall und/oder Basteleien angewiesen seien. Beispiele für AFIs seien unter anderem:

  • der Einsatz fortschrittlicher Turbolader zur Steigerung der Leistung und des Drehmoments von Vierzylindermotoren bei gleichzeitiger Einsparung von Kraftstoff und Schadstoffen. 
  • Wankelmotoren, die im Vergleich zu Kolbenmotoren weniger bewegliche Teile hätten, kompakt und kostengünstig seien.
  • die Intelligent Valve Actuation (IVA), die die Nockenwelle herkömmlicher Verbrennungsmotoren überflüssig mache und eine präzise, digitale Steuerung der Ventile durch eine Reihe elektrischer Aktuatoren biete. Die Technologie könnte in künftigen Versionen kostengünstig sein. 
  • Redox-Flow-Batterien, die komplett ohne Metalle auskämen und deren Materialien günstig seien. Allerdings leide die Speichertechnologie noch an geringen Energie- und Leistungsdichten, wenig langzeitstabilen Elektrolyten und unzureichend langlebigen Speichern mit bipolaren Zellen, so Springer-Autor Peter Kurzweil im Buchkapitel Redox-Flow-Batterien.

Springer-Autor Rao spricht im Buchkapitel Complex Systems-Based Design of Frugal Products auch davon, dass ein Elektrofahrzeug ein frugales Produkt darstelle, und zwar aufgrund seiner wachsenden Bedeutung für die nachhaltige Entwicklung. So zeichne sich ein E-Fahrzeug durch eine einfache Struktur mit weniger Teilen und seine Fähigkeit aus, sich mit anderen E-Fahrzeugen, relevanten Einrichtungen und einem intelligenten Stromnetz zu vernetzen. Außerdem seien E-Fahrzeuge in der Regel kostengünstige Alternativen zu Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, teilweise aufgrund möglicher Subventionen. Wie ein E-Fahrzeug, konkret ein Plug-in-Hybrid (PHEV), auf Grundlage von frugalem Engineering entwickelt werden kann, zeigen die Springer-Autoren Pranab Dan, Debraj Bhattacharjee und Sourabh Mandol im Buchkapitel Optimization-Based Ecodesigning of a Plugin Hybrid Electric Vehicle with Frugal Engineering for Emerging Economy Market.

Schritt in Richtung nachhaltiger Mobilität

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine frugale Wirtschaft, umrahmt von einem Degrowth-Ansatz, verändert die Wahrnehmung von Wohlstand und wirft die zentrale Frage nach dem richtigen Maß an Konsum auf, um ein erfülltes Leben zu führen, wie Springer-Autor Guy Fournier im Kapitel The New Mobility Paradigm. Transformation of Value Chain and Value Proposition Through Innovations (Seite 42) des Buchs The Automobile Revolution bilanziert.

Letztendlich, so Fournier, könnten frugale Innovationen die Kluft zwischen reichen und armen Ländern verringern und mit weniger Ressourcen und Energie den Weg zu einer nachhaltigen, sparsamen Wirtschaft und einer nachhaltigen Mobilität ebnen.

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