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2025 | Buch

Moralisierung des Kapitalismus

Akteure und Akteurinnen, Diskurse und Praktiken von Kapitalismus und Anti-Kapitalismus in der Moderne

herausgegeben von: Stefan Berger, Alexandra Przyrembel

Verlag: Springer Nature Switzerland

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Über dieses Buch

Dieses Buch fügt der wachsenden Literatur über die Geschichte des Kapitalismus einen entscheidenden Schwerpunkt auf die Moral hinzu, indem es soziale und kulturelle Perspektiven auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung in der Moderne untersucht. Die Studie geht über die engen wirtschaftlichen Grenzen hinaus und zeichnet die Verflechtung zwischen moralischen Werten und Emotionen und dem Kapitalismus nach, wobei sowohl Kritik als auch Rechtfertigungen untersucht werden. Unternehmensinsolvenzen, Steuersysteme, Reichtum und das Geschehen an Börsen wurden aus moralischen Gründen, während Konzepte von wirtschaftlicher Gerechtigkeit und der Humanisierung des Kapitalismus die moralische Kritik überlagerten. Viele soziale Bewegungen, von der Sklavereigegnerschaft bis hin zur Arbeiterbewegung, wurden durch das Bestreben inspiriert, den Kapitalismus zu verbessern und den moralischen Verfall aufzuhalten, von dem große Teile der Gesellschaft betroffen waren. Dieses Buch geht der Frage nach, wie moralische Gefühle definiert werden und sich im Laufe der Zeit verändert haben, und wie sie sich sowohl auf den Kapitalismus als auch auf den Antikapitalismus beziehen. In Kapiteln wird anhand verschiedener sozialer Bewegungen und ethischer Fragen eine moralische Geschichte des Kapitalismus dargestellt, die nicht nur als Wirtschaftssystem, sondern als eine Ordnung verstanden wird, die alle Bereiche des modernen Lebens umfasst.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung: ‚Moralizing Capitalism‘. Akteurinnen und Akteure, Diskurse und Praktiken des Kapitalismus und Antikapitalismus in der Moderne
Zusammenfassung
In ihrer Einleitung erläutern die Herausgeber Idee und Konzept von Moralizing Capitalism. Sie kontextualisiert Fragen der Moral, wie sie von der Geschichtsschreibung zum Kapitalismus formuliert werden, und zeigt dabei einige der Leitfragen des vorliegenden Sammelbandes auf. Es wird argumentiert, dass der Kapitalismus als Wirtschaftsform von moralischen Werten strukturiert ist, die von sozialen Bewegungen, Unternehmern und vor allem vom Staat immer wieder (neu) ausgehandelt werden. Diese moralisch legitimierte Kapitalismuskritik entzündet sich zum einen am Erfolg des Kapitalismus, wobei diese Kritik dem Kapitalismus als Wirtschaftssystem weder schadet noch diesen unterhöhlt. Zum anderen wird diese „moralische“ Kapitalismuskritik von Krisenerfahrungen ausgelöst. Diese Verflechtung zwischen Kapitalismus als Wirtschaftsform und moralischen Werten hat eine lange Geschichte und ist bis in die jüngere Zeitgeschichte zu beobachten.
Stefan Berger, Alexandra Przyrembel

Kapitalismus und das Politische

Frontmatter
2. „Wir wollen nur zahlen, was fair ist“: Kapital, Moral und Steuern in Kanada, 1867–1917
Zusammenfassung
Im Jahr 1867 teilte die neue kanadische Bundesverfassung die Verwaltung von Kapital und Moral effektiv in verschiedene Gerichtsbarkeiten auf, um das Kapital besser von der Moral zu befreien. Das nächste halbe Jahrhundert sah die Apotheose dieses politischen Projekts, sodass Kanada am Vorabend des Ersten Weltkriegs eines der regressivsten Steuersysteme unter den entwickelten Ländern hatte. Der erste Weltkrieg verschärfte die seit langem geführten Kämpfe um die Kontrolle des Wertes – der sowohl als Reichtum als auch als Moral verstanden wurde – und führte zu einer progressiven Einkommensteuer, die als Remoralisierung des Kapitals gedacht war.
Elsbeth Heaman
3. Humanisierung des Kapitalismus: Der Bildungsauftrag der Ford Foundation in Westdeutschland und den Vereinigten Staaten (1945–1960)
Zussamenfassung
Die Philanthropie der Unternehmen bewegt sich in dem Spannungsfeld, ein kapitalistisches System zu kritisieren, das sie gleichzeitig propagiert. Das Aufeinanderprallen moralischer Werte findet innerhalb der Philanthropien und als Reaktion auf ihre Aktivitäten statt, die für die Verbreitung kapitalistischer Moralvorstellungen von entscheidender Bedeutung sind. In der Zeit des Kalten Krieges war die Ford Foundation ein wichtiger Akteur bei der weltweiten Verbreitung der Idee des freien Unternehmertums als Grundlage der Demokratie. Während des Kalten Krieges kritisierte die Stiftung autoritäre Versionen des Kapitalismus, die individuelle statt kollektive Verantwortung hervorhoben. Die Versuche der Ford Foundation, den Kapitalismus zu humanisieren, werden in drei Bereichen untersucht: im Nachkriegsdeutschland durch die amerikanische Strategie der Betonung „moderner“ Arbeitsbeziehungen, dann im Inland durch ihr großes idealistisches Projekt der liberalen Erwachsenenbildung, das freies Unternehmertum voraussetzte und gleichzeitig die Überwindung der Unzulänglichkeiten der Konsumgesellschaft anstrebte, und schließlich durch die Reform der Wirtschafts- und Managementausbildung.
Wim de Jong
4. ‚Corporate Citizens‘ bei den Vereinten Nationen: Die GEP-Anhörungen von 1973 und der neue Geist der multinationalen Unternehmen
Zusammenfassung
Zu Beginn der 1970er-Jahre wurden multinationale Unternehmen und ihre sich entwickelnde Rolle in der Weltpolitik und -wirtschaft zu einer Quelle großer Spannungen in der internationalen Politik. Diese Legitimationskrise war das Ergebnis des Zusammentreffens mehrerer Faktoren: des Kalten Krieges, des Wachstums multinationaler Konzerne, der Entkolonialisierung und des Aufstiegs des globalen Südens sowie der Ereignisse in Chile. Eine Reihe von Bedenken gegenüber multinationalen Unternehmen führte zu einer Reihe von neuen Untersuchungen, Forschungen und hochkarätigen politischen Debatten und Anhörungen bei den Vereinten Nationen. Diese Anhörungen zeugen davon, wie Vertreter multinationaler Unternehmen angesichts der kritischen Betrachtung und der öffentlichen Aufmerksamkeit ihre Aktivitäten in Entwicklungsländern verteidigen, rechtfertigen und legitimieren mussten, was letztlich zu einer neuen „moralischen Ökonomie“ des multinationalen Kapitalismus führte: dem Geist sich selbst regulierender, moralisch verantwortlicher multinationaler Unternehmen, die als „gute Unternehmensbürger“ in Entwicklungsländern agieren würden.
Christian Olaf Christiansen

Moral, Unternehmer und die Wissensgeschichte des Antisemitismus

Frontmatter
5. Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Kaufmannsehre an der New York Stock Exchange während der Progressive Era
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert die Versuche der New York Stock Exchange (NYSE), unlauteres Verhalten im Rahmen von Börsentransaktionen vor dem Ersten Weltkrieg zu verhindern. Es wird argumentiert, dass Menschen im Allgemeinen und Börsenmakler bzw. Börsenmaklerinnen im Besonderen manchmal (niederen) Instinkten folgen – so wie der berühmte Mr. Hyde in Robert Stevensons Roman. Der Beitrag analysiert den institutionellen Rahmen, der unerwünschte Transaktionen verhindern sollte, zeigt exemplarisch, wie die NYSE Mitglieder bei Regelverstößen zur Rechenschaft zog, und beschreibt, auf welche Weise das Narrativ der Kaufmannsehre (commercial honor) Gruppenkonformität schuf und die NYSE lange vor staatlicher Regulierung bewahrte. Er kommt zu dem Schluss, dass die Selbstregulierung und die ständige Anpassung der Regeln sowie das integrative – und moralisch konnotierte – Narrativ dazu beitrugen, sowohl die Funktionalität des Marktes als auch die Regelakzeptanz der Börsenhändler zu verbessern, dass sie aber nicht in der Lage waren, schädliches Verhalten endgültig zu verhindern.
Boris Gehlen
6. Konkurs und Moral in einer kapitalistischen Marktwirtschaft: Der Fall Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Angesichts des relationalen Charakters von Schulden und Moral kann die französische Konkursdebatte während der Revolution von 1848 und der Zweiten Republik als Indikator für strukturelle und diskursive Herausforderungen gelesen werden, denen traditionelle Formen der Moralisierung der Ökonomie der Schulden im Zeitalter des Kapitals unterworfen wurden. Gesetzgeber und Zivilgesellschaft diskutierten den Konkurs zwar als Grundsatzfrage (Funktionalität des Handels, Gemeinwohl, öffentlicher Kredit), aber ihr moralisierender Diskurs bezog sich immer auf soziale Normen, die durch Konvention und gängige Praxis moralisch waren, nicht durch ethische Überlegungen und universelle Gültigkeit. Der Artikel argumentiert, dass die Schulden eines Bankrotteurs gerade deshalb ein moralisches Problem darstellten, weil Schulden im Allgemeinen ein integraler Bestandteil des Wirtschaftssystems waren. Auch wenn im 19. Jahrhundert die traditionellen Instrumente der wirtschaftlichen Moralisierung – diskursive, symbolische und physische Ausgrenzung – sowohl ihre Legitimität als auch ihre Dynamik verloren, ging es bei der Moralisierung des Bankrotts weiterhin darum, eine Brandmauer zwischen zusammengebrochenen Unternehmen und einer legitimen Kultur der Verschuldung zu errichten.
Jürgen Finger
7. Moralizing Wealth: Deutsche Debatten über Kapitalismus und Bilder über Juden im frühen 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Während das Interesse am Kapitalismus in der Geschichtswissenschaft wieder erwacht ist, erlangten die vermeintlichen und tatsächlichen Profiteure des Kapitalismus von Historikerinnen und Historikern bisher weitgehend untergeordnete Aufmerksamkeit. In dem vorliegenden Beitrag wird argumentiert, dass das antisemitische Stereotyp des „reichen“ Juden die Kapitalismuskritik bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägte. Im Fokus dieses Artikels steht zum einen das um 1900 ermittelte statistische Wissen über die besonders Vermögenden und Wohlhabenden im Deutschen Reich. Ein zweiter Abschnitt analysiert Werner Sombarts umstrittenes Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben und interessiert sich für die Narrative der frühen Sozialwissenschaft über Reichtum im beginnenden 20. Jahrhundert. Das übergreifende Argument ist, dass die öffentliche Wahrnehmung von Reichtum tief mit dem Politischen verwoben und die Figur des „reichen“ Juden in diesem Kontext zu verorten ist.
Alexandra Przyrembel

Soziale Bewegungen und moralische Bedenken

Frontmatter
8. US-Katholizismus und wirtschaftliche Gerechtigkeit: 1919–1929
Zusammenfassung
Nach dem Wall Street Crash von 1929 und während der Großen Depression veröffentlichte die Nationale Katholische Wohlfahrtskonferenz der USA drei grundlegende Dokumente zur wirtschaftlichen Situation. Die US-Bischöfe ließen sich von der katholischen Soziallehre und den Ideen von Mgr. John A. Ryan inspirieren, einem der einflussreichsten katholischen Sozialreformer in den USA und einem großen Befürworter des New Deal von Roosevelt. Durch die Analyse von Dokumenten, die im Vatikanischen Geheimarchiv, in der F.D. Roosevelt Presidential Library und im Archiv der Catholic University of America aufbewahrt werden, soll in diesem Beitrag die Rolle der katholischen Kirche der USA während der Großen Depression beleuchtet und erörtert werden, die ihrer häufig kritischen Haltung gegenüber dem amerikanischen „Wirtschaftssystem“ und ihren Überlegungen zu „Fehlern und Verzerrungen“ des Kapitalismus zugrunde lag.
Giulia D’Alessio
9. Der Diskurs gegen „schändliche Geschäftemacherei“ in Griechenland 1914–1925: Begriffe der Ausbeutung, der antikapitalistischen Moral und der moralischen Ökonomie
Zusammenfassung
Ziel dieses Beitrags ist es, das Konzept der moralischen Ökonomie zu erläutern und seine Relevanz für einen Diskurs mit starken Elementen einer antikapitalistischen Moral zu prüfen, die sich im Griechenland des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte. Wir argumentieren, dass wir das Konzept der moralischen Ökonomie auf eine bestimmte Phase der kapitalistischen Entwicklung beschränken sollten, als das Erbe älterer Marktregeln noch Bestand hatte und eine Art alternativer Ökonomie darstellte. Die von uns angebotene Interpretation des Diskurses gegen das Profitstreben verbindet ihn nicht so sehr mit der Verteidigung eines bestimmten moralischen Regimes, sondern mit der Verbreitung sozialistischer Ideen und neuer Vorstellungen von Ausbeutung in einer Zeit des Übergangs von der Politik zur Wirtschaft als dem vorherrschenden intellektuellen Paradigma der Konzeptualisierung sozialer Hierarchien. Die starke Präsenz moralischer Werte im politischen Diskurs würde sich besser in eine Untersuchung des Kampfes um Hegemonie einfügen, der in jeder Gesellschaft stattfindet.
Nikos Potamianos
10. Dilemmata moralischer Märkte: Ambivalente Narrative in der westdeutschen Fair-Trade-Bewegung
Zusammenfassung
Das Verhältnis zwischen Markt und Moral ist ein wiederkehrendes Thema in intellektuellen Debatten über den modernen Kapitalismus. Seit den 1960er-Jahren hat dieses Verhältnis auch die Aufmerksamkeit sozialer Bewegungen und Verbraucherkampagnen auf sich gezogen. Einer der einflussreichsten Versuche, Markt und Moral miteinander zu verbinden, war die Fair-Trade-Bewegung, die sich in den späten 1960er und frühen 1970er-Jahren in Westeuropa und den Vereinigten Staaten entwickelte. Das Kapitel untersucht anhand der deutschen Fair-Trade-Bewegung, wie die Beziehung zwischen Markt und Moral in einen historischen Analyserahmen eingefügt werden kann. Es stellt die Entwicklung der Bewegung in den 1970er-Jahren dar, als die Idee eines marktbasierten sozialen Wandels für viele Aktivistinnen und Aktivisten besonders attraktiv erschien, sowie die späteren Debatten, in denen eine kritischere Sichtweise zu dominieren begann. Das Kapitel argumentiert, dass der Faire Handel eher als Versuch einer „Moralisierung der Verbraucherinnen und Verbraucher“ denn als Versuch einer „Moralisierung des Kapitalismus“ zu verstehen ist.
Benjamin Möckel
11. Wirtschaftsboom, kritische Arbeiterliteratur und Moral in der Bundesrepublik der 1960er und frühen 1970er-Jahre
Zusammenfassung
In der Bundesrepublik Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern gelten die „Trente Glorieuses“ (1945-1975) als die Zeit einer sich ausbildenden Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Weitgehend vergessen sind indessen zeitgenössische Erzählungen, welche die Erfolgsgeschichte des „deutschen Wirtschaftswunders“ in Frage stellen. Einen Kristallisationspunkt dieser Kritik stellte die westdeutsche Arbeiterliteratur dar, die eine Humanisierung der industrialisierten Arbeitswelt forderte. Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterliteratur sahen sich teilweise scharfer Kritik in den öffentlichen Medien sowie rechtlichen und politischen Angriffen ausgesetzt. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass „Arbeit“ und „Arbeitsregimes“ selbst in der Hochphase des bundesdeutschen Wirtschaftswachstums in moralischen Begrifflichkeiten und Kategorien verhandelt wurden. Moralische Vorstellungen und Narrative über das „deutsche Wirtschaftswunder“ waren sowohl mit politischen Dispositionen bezüglich der deutschen Vergangenheit als auch mit der Systemkonkurrenz zwischen Ost- und Westdeutschland während des Kalten Krieges verbunden. Sowohl die Kritik als auch die emphatische Affirmation des Narrativs des „Wirtschaftswunders“ stellen deshalb spezifisch bundesdeutsche Formen einer „Moralisierung des Kapitalismus“ dar.
Sibylle Marti
Backmatter
Metadaten
Titel
Moralisierung des Kapitalismus
herausgegeben von
Stefan Berger
Alexandra Przyrembel
Copyright-Jahr
2025
Electronic ISBN
978-3-031-51270-4
Print ISBN
978-3-031-51269-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-031-51270-4