Wie kann den großen Krisen Klimawandel und Artensterben „nachhaltig“ begegnet werden? Dieser Frage geht der Chemiker und Naturforscher Bernhard Weßling nach. Sein Vorschlag: Entropie sollte als Kriterium für die Bewertung der Nachhaltigkeit von Maßnahmen dienen.
Als nachhaltige Alternative zu technologischen Maßnahmen zur CO2-Ennahme zeigt sich dessen Speicherung in Böden durch Vorgänge in verschiedenen natürlich arbeitenden Ökosystemen.
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Immer wieder kann man lesen: Wir erleben "erstmalig in der Geschichte der Menschheit" ein neues Zeitalter der "Polykrisen" bzw. der "Multikrisen". Aber ist das wirklich der Fall? Mit historischen und prähistorischen Fakten lässt sich nachweisen, warum Krisen und "Polykrisen" – so schwer lösbar, so kompliziert oder gar existenziell bedrohlich und schrecklich sie sind – ganz normale Begleiterscheinungen sämtlicher Vorgänge im Universum und auf der Erde sind. Derzeit bedrohen uns v. a. die Krise der Artenvielfalt und der Klimawandel.
Aus Sicht der Thermodynamik kann man sagen: "Zufall und Komplexität sind Geschwister, und Krisen sind ihre Begleiter", es sind miteinander eng verwandte Phänomene. Das liegt daran, dass das Universum von Anfang an ein Nicht-Gleichgewichts-(NGG)System ist, bestehend aus unendlich vielen miteinander wechselwirkenden NGG-Untersystemen, z. B. den Zellen in unserem Körper. Darin finden ständig nicht-linear ablaufende Prozesse statt, die zu Zufällen und manchmal zu Krisen führen: Energie und Stoffe werden importiert, es finden vielfältige Stoffumwandlungen unter Energieverbrauch – der ebenfalls aus Stoffumwandlungen resultiert – statt, das alles ist ein Auf und Ab, ein An und Aus.
Entropie als Kriterium für Nachhaltigkeit
Die Tatsache, dass Krisen "normal" sind, ändert nichts daran, dass wir alles dazu unternehmen müssen, um die aktuelle Krisen der Artenvielfalt und des Klimas zu lösen. "Alles" heißt aber nicht "irgendetwas", nur um wenigstens irgendetwas zu unternehmen, sondern es muss auch nachhaltig sein. Was aber bedeutet "nachhaltig"? Qualitativ formuliert: Eine Maßnahme zur Eindämmung des Klimawandels darf nicht zu schwerwiegenden Kollateralschäden in anderen Bereichen der Umwelt führen, sie darf z. B. nicht die Artenvielfalt schädigen. Wie aber messen wir, wie beurteilen wir objektiv, ob ein Schaden "schwerwiegend" ist oder nicht?
Mein Vorschlag dazu: Entropie kann als Kriterium für Nachhaltigkeit dienen. Hierzu darf Entropie nicht (wie allzu vereinfachend üblich) als "Maß für Unordnung" verstanden werden, sondern richtigerweise vollständig als "Maß für minderwertige (nicht nutzbare) Energie", und weil Materie eine andere Form von Energie ist, manifestiert sich Entropie auch in Form minderwertiger (nicht oder nur schwer – also mit übermäßig hohem Energieaufwand – nutzbarer) Stoffe: Abfälle, Abraum, Verbrennungsrückstände, Abwasser, Abwärme, verschmutztes Grundwasser, Feinstaub, CO2, Korrosion, u. v. a. m. Ebenso manifestiert sich Entropie im Verlust von Funktionsfähigkeit komplexer Systeme (wie z. B. bei der Zerstörung von Ökosystemen).
Mit Hilfe eines grundlegenden Prinzips der NGG-Thermodynamik (dem "Entropieexport") kann man relativ einfach berechnen, ob technologische Verfahren zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre oder aus Industrieabluft nachhaltig sind. Es zeigt sich, dass DAC/CCS und ebenso die chemische Nutzung von CO2 (CCU) in krassem Umfang nicht nachhaltig sind, sondern massive Kollateralschäden in der Umwelt verursachen.
Natürliche Ökosysteme: optimal für Klima und Artenvielfalt
Wirklich nachhaltig geschieht die Absenkung der CO2-Konzentration der Atmosphäre in verschiedensten natürlich arbeitenden Ökosystemen. Dazu gehören auch die Äcker und Weiden biologisch arbeitender landwirtschaftlicher Betriebe. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Leistungsfähigkeit lebendiger Böden, die Kohlenstoff aus CO2 langfristig speichern können, weit unterschätzt werden.
Deshalb wird bisher CO2-Speicherung durch Aufforstung von zumeist Monokulturen mit schnellwachsenden Bäumen betrieben, was alles andere als nachhaltig ist: Diese speichern Kohlenstoff fast nur oberirdisch, die Böden sind nur schwach belebt, Kohlenstoff wird nicht in die Tiefen transportiert.
Naturnahe, vielgestaltige offene Wälder mit beweideten Lichtungen können das Vier- bis 20-Fache der heutigen CO2-Emissionen tief in den Böden langzeitspeichern. Moore könnten das Doppelte an CO2 aller Wälder der Erde speichern, obwohl sie nur 1% der Fläche der Erde ausmachen. Biologisch bewirtschaftete Weiden nehmen pro Jahr und Hektar über 8 t CO2 auf; dafür benötigt eine DAC-Anlage 73,35 GJ an Primärenergie. Der Dung einer einzigen Kuh ermöglicht jährlich 120 kg Insektenlarven zu wachsen und den Kohlenstoff in die Tiefen zu befördern, zusätzlich dienen sie den Vögeln als Nahrung – Klimastabilisierung und Förderung der Artenvielfalt, Milch- und Fleischproduktion in einem Schritt.