Die Altersvorsorge war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vom sogenannten Ein-Säulen-Modell geprägt. Mit der Rentenreform im Jahr 2001 wurde es durch ein Mehr-Ebenen-Modell ersetzt, in dem die private kapitalgedeckte Rente gesetzlich und steuerlich gefördert wird. Mit den neu geförderten und regulierten Formen privater Vorsorge wurde ein neuer bzw. erweiterter Markt für Altersvorsorge geschaffen. Ziel dieses Beitrags ist es, die Nachhaltigkeitsverständnisse der Finanzdienstleister/innen in diesem Bereich zu rekonstruieren. Wir untersuchen, wie Nachhaltigkeit bei privaten Altersvorsorge-Produkten am Finanzmarkt von den Anbieter/innen nachhaltiger Anlagen gestaltet wird und dabei die diskursiven Argumentationsmuster und praktischen Implikationen bestimmte vorherrschende Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen der Akteur/innen und des Feldes widerspiegeln. Diese symbolischen und praktischen Konstruktionselemente von Nachhaltigkeit bei der finanzialisierten Altersvorsorge arbeiten wir exemplarisch in einer empirischen Untersuchung auf Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen heraus. Darauf aufbauend beleuchten wir das Verhältnis ‚nachhaltiger‘, finanzialisierter Altersvorsorge zu (In-)Stabilität und Risiken am Finanzmarkt.
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Das diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin und dem Autor. Redaktionsschluss des Beitrags war November 2015, weshalb Forschungsstand und Empirie im Wesentlichen die Dynamiken bis zu diesem Zeitpunkt rekonstruieren. Wo es sinngemäß möglich oder notwendig war, wurden Daten und Quellen aktualisiert.
Zur Entwicklung und Bedeutungszunahme großer institutioneller Investoren – u. a. hervorgebracht durch die Privatisierungen von Altersvorsorge-Systemen – als eine Bedingung und Erklärung für die Herausbildung und Verbreitung von nachhaltigen Investitions-Strategien, insbesondere in den angelsächsischen Ländern, vgl. Soederberg (2010).
Zu berücksichtigen ist, dass eine Person mehrere Verträge abschließen kann und zwischenzeitliche Vertragskündigungen nicht exakt erfasst sind. Der Anteil ruhend gestellter Verträge schätzt das BMAS auf rund ein Fünftel. Der aus den Daten hervorgehende starke Anstieg an Riester-Verträgen bis 2011 flacht danach deutlich ab und mittlerweile stagnieren die Zahlen (BMAS 2019).
Gerade in Zeiten niedriger Zinsen, wo keine relevante Verzinsung garantiert werden kann, wird es attraktiver beziehungsweise entsteht der Druck, solche Varianten mit Chancen auf höhere Renditen zu wählen.
Der Anspruch des Umbaus hin zur privaten Zusatzvorsorge, die sinkenden gesetzlichen Rentenleistungen zu ersetzen, wurde angesichts dessen, dass die Anspruchsberechtigten mehrheitlich keine Riester-Verträge abgeschlossen haben, nicht erfüllt (Bäcker und Kistler 2016b). Die Bedeutung der geförderten betrieblichen Altersvorsorge (v. a. mittels Entgeltumwandlung) als Zusatzsicherung für Arbeitnehmer/innen sei angesichts der allgemein unzureichenden Datenlage schwer zu beurteilen (Bäcker und Kistler 2016b). Abseits davon gibt es weiterhin nicht geförderte, kapitalgedeckte betriebliche Zusatzvorsorge.
Das Pensionsvermögen der dreizehn größten Pensionsmärkte der Welt (mit Deutschland auf Platz 8 hinter den USA, Japan, Großbritannien, Kanada, Australien, den Niederlanden und der Schweiz) stieg zwischen 2001 und 2011 mit einem jährlichen durchschnittlichen Wachstum von 6,4% von 14,8 auf 27,5 Billionen Dollar an (Towers Watson 2012 zit. n. Mertens und Meyer-Eppler 2014, S. 261).
Siehe dazu auch die sozialwissenschaftliche Debatte zur Herausbildung eines „Pensionsfonds-Kapitalismus“: Clark (2000), Ebbinghaus et al. (2012), Ebbinghaus und Wiß (2011), Langley (2008).
Vgl. die gemeinsame Veröffentlichung der beiden Nichtregierungsorganisationen Facing Finance und Urgewald e. V. Küchenmeister und Happe (2010) sowie Wilmroth (2010) und Uchatius (2011).
Vgl. dazu den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des deutschen Bundestags „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ mit dem Titel „Konzept Nachhaltigkeit – Vom Leitbild zur Umsetzung“, vom 26.06.1998, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/112/1311200.pdf, zuletzt abgerufen: 20.02.2020.
Die folgende Skizze des nachhaltigen Altersvorsorgemarkts will grobe Orientierung bieten, kann aber hier nur sehr selektiv erfolgen und bei weitem nicht umfassend das unübersichtliche Feld erfassen. Siehe für mehr Informationen und den Versuch eines Überblicks zum nachhaltigen Finanzmarkt entlang einer Kartierung den Beitrag von Hiß zur Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts in diesem Band.
Die Richtlinie sieht vor, dass die Einrichtungen regelmäßig öffentlich Bericht erstatten, ob und wie die UN Principles for Responsible Investment in den Investitionsentscheidungen und im Risikomanagement berücksichtigt wurden. Auch für die Governance-Strukturen der Organisationen sollen entsprechende Kriterien angewandt werden. Die Informationspflichten werden damit um ein Statement zu ESG- und Klima-Kriterien erweitert, unabhängig davon, ob solche im Investitionsprofil berücksichtigt werden oder nicht.
Diese Idee lässt sich in der damaligen Debatte des Potentials privatisierter Altersvorsorge und um die Einführung von Nachhaltigkeitskriterien für Riester nachzeichnen, aber auch in aktuellen Argumentationen: Privates Kapital, insbesondere auch Pensionsgelder von Versicherungen, die längerfristig angelegt werden können, soll auch für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur verwendet werden – verbuchbar als soziale und ökologische Investitionen.
Vgl. beispielsweise die Artikel in Zeit Online „Altersvorsorge – Ruhekissen mit grünem Bezug“ (Braun 2010), und „Nachhaltigkeit – das Gleiche in Grün?“ (Scherer 2015) sowie den Ökotest-Report „Ökologische Riester-Renten. Im grünen Nebel“ (Öko-Test 2011).
Für eine ausführlichere Diskussion der Grundlegung des soziologischen Neo-Institutionalismus in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie von Berger und Luckmann siehe z. B. Dobbin (1994), Keller (2012), S. 230 ff., Meyer (1992), Powell und DiMaggio (1991).
1995 als oeco capital gegründet, wurde die auf Nachhaltigkeit spezialisierte Versicherung zu 100 % von der konventionellen Concordia Versicherung übernommen und als nachhaltige Tochtergesellschaft geführt. Seit 2014 firmiert das Versicherungsunternehmen unter dem Namen Concordia oeco Lebensversicherungs-AG. Es kam zur Fusion mit einer konventionellen Tochtergesellschaft der Concordia, seitdem wird sowohl eine nachhaltige als auch konventionelle Altersvorsorge-Produktlinie vertrieben. Das Kapitalanlagevolumen betrug 2014 rund 1,8 Mrd. EUR, wobei die Anlagen im Rahmen der nachhaltigen Altersvorsorge davon etwa ein Fünftel ausmachten (375 Millionen EUR). (vgl. https://www.concordia.de/ww/de/pub/privatkunden/altersvorsorge/nachhaltige_altersvorsorge.cfm, Stand: 17.09.2015).
Die Ökoworld hat ihre Wurzeln in der 1975 gegründeten „Alfred & Klaus – kollektive Versicherungsagentur“, die 1987 in die Versiko umgewandelt wurde, eine nachhaltige Vermögensberatung und später Aktien- und Fondsgesellschaft. Diese brachte bereits 1991 eine Rentenversicherung mit Aspekten nachhaltiger Kapitalanlage auf den Markt. 1996 wurde der erste ethisch-ökologische Fonds aufgelegt (Ökovision). Seit 2014 trägt die Fondsgesellschaft den Namen Ökoworld und ist u. a. spezialisiert auf fondsbasierte nachhaltige Vorsorgeprodukte. Das Fondsvolumen erreichte im April 2015 758 Mio. EUR (vgl. https://www.oekoworld.com/, Stand: 17.09.2015).
Die transparente GmbH gibt es seit 1996, initiiert wurde das Angebot nachhaltiger Altersvorsorge-Tarife vom Verein für alternative Vorsorgekonzepte (VAV e. V.). Er kooperiert dabei mit der neue leben Lebensversicherung AG und dem Volkswohl Bund Versicherer, die sich verpflichten die transparente-Beiträge in voller Höhe nach den vom Verein entwickelten Anlagerichtlinien anzulegen. Das Investitionsvolumen erreichte 2013 einen Stand von 38,1 Mio. EUR (vgl. http://www.transparente.de/index.html, Stand: 16.09.2015).
Ins Sample aufgenommen wurden hier die Allianz, Canada Life und die Stuttgarter Lebensversicherung. Die Allianz wurde 1890 in Deutschland gegründet und ist heute marktführendendes deutsches Versicherungsunternehmen und gehört zur international als Finanzdienstleisterin agierenden Allianz Gruppe. 2014 verwaltete die Allianz Deutschland AG 270,7 Mrd. EUR und gab an, rund 1,6 Mio. Kund/innen mit Riester-Rente zu betreuen. Seit 2003 bietet die Allianz auch Nachhaltigkeitsfonds für fondsgebundene Rentenversicherungen an und erweiterte dieses Angebot 2011 (vgl. https://www.allianzdeutschland.de/, Stand: 15.09.2015). Canada Life startete 2000 am deutschen Markt und ist eine europäische Tochter der ersten kanadischen Lebensversicherungsgesellschaft. 2014 betrug das von Canada Life verwaltete Vermögen 4,14 Mrd. EUR. Seit 2009 bietet die Versicherung auch fondsbasierte Altersvorsorge-Produkte mit optionalen Nachhaltigkeitsfonds an (vgl. https://www.canadalife.de/, Stand: 15.09.2015). Die Stuttgarter Lebensversicherung wurde 1908 gegründet. Sie verwaltete 2014 Kapitalanlagen über ein Volumen von rund 5,5 Mrd. EUR. 2013 erweiterte sie ihr konventionelles Angebot um eine nachhaltige Altersvorsorge-Produktlinie, in deren Rahmen seitdem laut Angaben der Stuttgarter 199 Mio. ‚nachhaltig‘ veranlagt wurden (vgl. www.stuttgarter.de/, Stand: 15.09.2015).
Die Darstellung der praktisch-materiellen Ebene der Nachhaltigkeitskonstruktion im Altersvorsorgeprodukt beschränkt sich hier auf ausgewählte charakteristische und verbreitete Produkt- und Anlagestrukturen und ist keinesfalls umfassend. Weitere wichtige organisationale Aspekte betreffen allgemeinere Organisationsstrukturen (z. B. Rechtsform, Eigentümerstrukturen; bis hin zur Existenz eines Nachhaltigkeitsbeirats oder separater Organisationseinheiten und -teams für Nachhaltigkeits- und Finanzanalyse bei bestimmten Nischenakteuren) mit Auswirkungen auf die Organisation des Anlageprozesses. Insgesamt liegt der Fokus der Ergebnisdarstellung auf den diskursiven Mustern der Nachhaltigkeitsverständnisse der Anbieter in ihren Organisationstexten. Die Nachhaltigkeitspraxis organisationsstruktureller Art und ihr Vergleich zwischen den Organisationen fällt weniger ausführlich aus; weshalb ihre Bedeutung aber nicht unterschätzt werden sollte und noch näher und weiterhin zu beobachten ist. Um für das Feld prägende Nachhaltigkeitsverständnisse aufzuzeigen, war es zunächst wichtig, dort wirksame gemeinsame Diskursmuster und materielle Grundaspekte nachhaltiger Altersvorsorgeprodukte zu betrachten.
Mittels einer Untersuchung der Nachhaltigkeitsberichte von Banken standen deren allgemeine Nachhaltigkeitsstrategien, nicht die Finanzdienstleistungen selbst im Fokus. An der selektiven Hervorhebung von Handlungsfeldern zeigt sich dort die nachträgliche Begriffsbestimmung, zum Beispiel indem die soziale Nachhaltigkeitsdimension auf die eigene Personalpolitik oder die Finanztätigkeit im Bereich Entwicklungszusammenarbeit auf Klimaschutz verengt wird (Feist und Fuchs 2014, S. 235).
Finanzmarktrationale Begründungsmuster dieser Art weisen auch die Berichte der Nachhaltigkeitsaktivitäten von Banken auf (Feist und Fuchs 2014, S. 233): So wie eine reine Kostendeckung in der Finanzmarktrationalität noch nichts über die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens aussagt (Feist und Fuchs 2014; Kädtler 2009), werden entsprechende Erwartungen an Wachstums- und Renditesteigerung auch an die Nachhaltigkeitsaspekte gestellt. Zum Argument der Finanzialisierung von Nachhaltigkeit (vgl. Besedovsky 2018; Hiß 2014).
Generell finden sich Eigenheiten der wenigen ‚Spezialisten‘ im Bereich nachhaltiger Altersvorsorge hauptsächlich in den divergenten praktisch-materiellen Merkmalen der Organisationen und Produkte.
Auch sind mit der nachhaltigen Altersvorsorge Hoffnungen verbunden, langfristig und sicher zu investieren, denn die Idee zum Beispiel einer Nachhaltigkeitsberichtspflicht zielt neben sozial-ökologischen Aspekten auch darauf ab, langfristiges Kapital für eine nachhaltige Entwicklung, aber auch langfristigere stabilere Investitionen bereit zu stellen.
Ähnlich zeigt sich in den Nachhaltigkeitsberichten von Banken, wie die finanzielle Bewertung zur Vorbedingung von (gelungener) Nachhaltigkeitspraxis definiert wird (Feist und Fuchs 2014, S. 233).
Veränderungen der politischen Gestaltung des Finanzmarkts hin zu Bestrebungen, die Individuen als Verbraucher stärker in Regulierungsaufgaben einzubinden, z. B. durch die Betonung von Konsument/innen-Verantwortung, zeigen sich etwa auch an politischen Offensiven zur Finanzbildung (Weber 2010, S. 378).