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29.01.2021 | Nanotechnologie | Interview | Online-Artikel

"Der Umgang mit Nanomaterialien muss harmonisiert werden"

verfasst von: Dieter Beste

3:30 Min. Lesedauer

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Nanomaterialien haben vielfältige Anwendungsgebiete und sind bereits in einer Vielzahl von Produkten enthalten. Nils Bohmer von der Dechema e.V. erläutert im Interview wie das Risikomanagement mithalten kann und muss.

Nanomaterialien haben in den letzten Jahren insbesondere in Katalyse, Medizin, Elektronik und Materialforschung stark an Bedeutung gewonnen. Die Chancen sind riesig. Gilt dies auch für die Risiken? 

Obwohl die Nanotechnologie bereits Ende 1959 in einem berühmten Vortrag des Physikers und späteren Nobelpreisträgers Richard Feynman prominent Erwähnung fand und ihre Erforschung als höchstrelevant eingestuft wurde, gibt es über 60 Jahre später noch offene Fragen zu Chancen und Risiken von Nanomaterialien. Der technische Nutzen vieler neu entwickelter Nanomaterialien ist unbestritten. Das derzeit wahrscheinlich prominenteste Beispiel sind die neuen mRNA-basierten COVID-19-Impfstoffe, die mit Hilfe von Lipid-Nanopartikeln stabilisiert werden. Im Pharmabereich unterliegen solche Produkte besonders strengen Zulassungskriterien, die international weitgehend akzeptiert sind. 

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2021 | Buch

Nanostructured Materials and their Applications

The book provides an introduction to nanostructured materials and guides the reader through their different engineering applications. It gives an overview of nanostructured materials applied in the fields of physics, chemistry, biology, medicine …

Gilt dies für alle industriellen Sektoren und deren Produkte? 

In der EU müssen Chemikalien seit 2007 nach der REACH-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) registriert und zugelassen werden. Für klassische Chemikalien gibt es somit ein umfangreiches Regelwerk mit verpflichtenden Testrichtlinien und Nachweispflichten, um Schäden an Menschen und Umwelt weitgehend auszuschließen. Geht es um Nanomaterialien, kommt es jedoch immer wieder zu großen Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser klassischen Testrichtlinien. Das liegt vor allem daran, dass sich oftmals die physikalisch-chemischen Eigenschaften eines Stoffes ändern, sobald er in Nanodimensionen vorliegt. 

Wie machen sich solche Eigenschaftsveränderungen bemerkbar?

Klassische Testverfahren sind dann häufig nicht anwendbar oder führen zu falsch-positiven oder falsch-negativen Ergebnissen. Diese Probleme sind seit Anfang der 2000er Jahre bekannt und wurden in einer Vielzahl nationaler und internationaler Forschungsprojekte angesprochen mit dem Ergebnis, dass inzwischen spezielle Nachweisverfahren für Nanopartikel und deren Charakterisierung in verschiedenen Umgebungen entwickelt wurden. Zudem wurden tausende Laborstudien an Zellen und Tieren zur Sicherheit von Nanomaterialien durchgeführt. Auf dieser Grundlage wurden neue Testrichtlinien entworfen und zum Teil bereits in REACH integriert. Dennoch gibt es noch regulatorische Lücken, die durch die Entwicklung verbesserter Testrichtlinien geschlossen werden müssen. Es fehlt zudem ein harmonisiertes Vorgehen innerhalb der EU, aber auch weltweit zur Risikobewertung und zum Risikomanagement von Nanomaterialien, was vor allem durch die sehr komplexe Datenlage begründet ist. Es gibt zwar eine Unmenge von Studien, deren Qualität ist aber selbst für Experten oft schwer einzuschätzen. Auf diese Weise kommt es zu unterschiedlichen Bewertungen auf Ebene der Mitgliedsstaaten. 

Können Sie dazu ein konkretes Beispiel anführen?

Ein aktuelles Beispiel ist das Verbot von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff in Frankreich, das seit 2020 in Kraft ist. Titandioxid ist als Zusatzstoff E171 in der EU zugelassen. Unter den verschiedenen Interessenvertretern herrscht Uneinigkeit über den neuen Einstufungsprozess als "potenziell krebserregend" und insbesondere über die Qualität und Relevanz der Studien, die Grundlage dieser Entscheidung waren. 

Zusammen mit anderen haben sie kürzlich ein weithin beachtetes Whitepaper zur Bewertung von Chancen und Risiken der Nanotechnologie veröffentlicht. Wie lautet die Quintessenz? Wie lässt sich das Dilemma lösen, einerseits Mensch und Umwelt bestmöglich vor schädlichen Einflüssen zu schützen und andererseits den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen der Nanotechnologie voll auszuschöpfen?

Es muss ein harmonisiertes und transparentes Vorgehen zur Bewertung von Daten, zu regulatorischen Rahmenbedingungen und zum Risikomanagement von Materialien geben, an dem alle Interessenvertreter gleichermaßen beteiligt sind. Diese Ziele werden auf europäischer Ebene gerade im Rahmen dreier Verbundprojekte bearbeitet, die im Rahmen des Forschungsprogrammes Horizon 2020 von der Europäischen Kommission bis Anfang 2023 mit insgesamt 18,3 Millionen Euro gefördert werden und an denen insgesamt 82 Partner aus 17 EU-Staaten sowie sieben außereuropäischen Staaten beteiligt sind: RiskGone, NanoRigo und Gov4Nano. Dieser immense Aufwand hat vor allem zum Ziel, ein Gremium zur Risikobewertung von Nanomaterialien, das sogenannte "Risk Governance Council", sowie ein dazu passendes Rahmenwerk, das sogenannte "Risk Governance Framework" zu schaffen. Weiterhin werden unter der Beteiligung weiterer EU-Projekte Testrichtlinien überarbeitet und neu geschaffen sowie ein Webportal für alle Interessenvertreter entwickelt. Dieser sehr langwierige, aber ebenso notwendige Prozess zur Beurteilung neuartiger Materialien kann Modellcharakter für zukünftige Entwicklungen haben, bei denen noch stärker als bisher verschiedene Technologien und Materialien zu komplexen Produkten, den Advanced Materials, kombiniert werden.
 

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