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Erschienen in:

01.09.2019 | Hauptbeiträge

„Natürliche“ Kompetenzen in der Krise – Konstruktionen von Unfähigkeit beim Gebären und Stillen

verfasst von: Laura Völkle, Eva Muthmann

Erschienen in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie | Ausgabe 3/2019

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Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die diskursive und praktische Hervorbringung von Unfähigkeiten und Momenten des Versagens beim Gebären und Stillen. Diese Körperpraktiken weisen einen kompetitiven, projektförmigen Charakter auf und sind in einen moralisch appellierenden Diskurs eingelassen, der spezielle Gebär- und Stillfähigkeiten von Frauen betont. Aus praxeologischer Richtung fragt der Beitrag danach, wie Momente der Leistung, der Unfähigkeit und des Versagens beim Stillen und Gebären hervorgebracht werden und wie ihre je spezifische Kompetitivität dabei verhandelt wird.

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Fußnoten
1
Die LaLecheLiga ist eine Non-Profit-Organisation, die das Stillen fördert. Sie wurde in den 1950er-Jahren in den USA gegründet und ist seit den 1970er-Jahren auch in Deutschland tätig. Die LaLecheLiga bildet stillerfahrene Mütter zu Stillberaterinnen aus, die dann Schwangere und stillende Mütter beraten.
 
2
Wir verzichten in diesem Beitrag aus Platzgründen und zugunsten analytischer Verdichtung darauf, längere Passagen aus ethnografischen Protokollen oder Foreneinträgen zu zitieren.
 
3
Knaak zeigt, wie die Säuglingsernährung in nordamerikanischen Ratgebern von einer Wahl zwischen Stillen und Flaschennahrung zu einer moralischen Verpflichtung zum Stillen wurde. Wenn Stillen als Ideal und Flaschenernährung als absolut letzte Rettung gilt, wird das Stillen zu einer Frage von Erfolg und Versagen: „Because choice has become more directly tied to notions of success and failure, there is increasing pressure for mothers not only to make the correct decision, but also to succeed no matter what the situation or circumstance“ (Knaak 2005, S. 212).
Ähnliches zeigen Macdonald (2006, S. 243) und Rafalovich (2016) für die „natural birth“-Szene in Kanada und den USA: Wenn „natürlich“ Gebären mit einem spezifischen Ideal (wie etwa dem Verzicht auf Schmerzmittel) verbunden und als „individual accomplishment“ (Macdonald 2006, S. 241) verstanden wird, dann bedeutet das auch, dass manche Mütter daran scheitern. Anzumerken ist allerdings, dass aufgrund der anderen institutionellen Entwicklung der Geburtshilfe in Kanada und den USA die „natürliche“ Hebammen-Geburt in größerer Opposition zur Klinikgeburt steht als in Deutschland. Vgl. für eine Übersicht über die Geschichte der Hebammengeburtshilfe in Nordamerika: Macdonald (2006, S. 236 ff.).
 
5
Zum Aspekt der untrennbaren Verbundenheit von Eltern und Kindern siehe Seehaus (2016). Die Rede von einer „Stillbeziehung“ romantisiert diese Zusammengehörigkeit speziell zwischen Mutter und Kind noch weiter und lädt die Säuglingsernährung mit Bedeutung auf.
 
6
Diese Analyseperspektive ist vom amerikanischen Pragmatismus, insbesondere von den Konzepten des Handlungsstroms bzw. der „ongoing activity“ (Mead 1925, S. 256) und des Problemlösungszyklus (Dewey 2002) inspiriert. Zur pragmatistischen Prägung einiger Spielarten der Praxistheorien vgl. z. B. Hirschauer (2016, S. 47) und Strübing (2017).
 
7
Wie bedeutsam der Verzicht auf Schmerzmedikation ist, zeigt auch Rafalovich in einer Interviewstudie mit US-amerikanischen Frauen, die eine „natürliche“ Geburt anstrebten, dann aber doch auf eine Periduralanästhesie (PDA) zurückgriffen. Bei einer PDA werden mittels eines Lokalanästhetikums die Nervenstrukturen im Wirbelsäulenbereich betäubt und so die Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit vom Rumpf abwärts stark gedämpft. Viele der Teilnehmerinnen berichteten von dem Gefühl, versagt zu haben, weil sie mit PDA geboren hatten. Die PDA war es, nicht andere medizinische Interventionen, die sie aus dem „natural childbirth club“ ausschloss, so die Formulierung einer Teilnehmerin (Rafalovich 2016, S. 107).
 
8
In Onlineforen oder auf Twitter (#selbstgeboren) wird kontrovers diskutiert, ob eine Frau ihr Kind bei manchen Geburten stärker „aus eigener Kraft“ und „selbst“ geboren habe als bei anderen. Die Unterscheidung von „gebären“ und „entbunden werden“ steht ursprünglich im Kontext der Medikalisierungskritik, wurde aber gleichzeitig als „unsolidarisch“ gegenüber anderen Müttern skandalisiert. Jede Gebärende bringe alles in die Geburt ein, was sie zu geben habe, sodass auch jede selbst geboren habe.
 
9
In dem Narrativ, das Gerda hier aufruft, verspricht die „natürliche“ Geburt als Königsklasse besondere Anerkennung, verlangt von der Gebärenden aber auch ein besonderes Engagement. Ein ähnlicher Deal gilt auch für die Hebammen. Sie gewinnen im Kontext der professionellen Doppelbesetzung der Geburtshilfe gegenüber den Ärzt*innen an Bedeutung, haben in ihrer Positionierung als Unterstützerinnen der Selbst-Gebärenden aber auch selbst ein höheres Engagement zu erbringen: Die Vergabe von Schmerzmitteln, so erklärt Gerda, sei nämlich ein zweischneidiges Schwert: „Wenn ich einer Frau kein Schmerzmittel gebe, dann kann sie mich verklagen, aber wenn ich ihr einfach eins gebe, dann heißt es, ich war unmotiviert“. Die schmerzmittelfreie Geburt erscheint als eine schwer zu meisternde, aber erstrebenswerte Herausforderung, die die Gebärende bewältigen kann, wenn sie es mithilfe eines guten Coaches, der Hebamme, schafft, über ihre vermeintlichen Schmerzgrenzen zu gehen.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
„Natürliche“ Kompetenzen in der Krise – Konstruktionen von Unfähigkeit beim Gebären und Stillen
verfasst von
Laura Völkle
Eva Muthmann
Publikationsdatum
01.09.2019
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Österreichische Zeitschrift für Soziologie / Ausgabe 3/2019
Print ISSN: 1011-0070
Elektronische ISSN: 1862-2585
DOI
https://doi.org/10.1007/s11614-019-00363-2

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