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13.01.2020 | Naturwissenschaftliche Grundlagen | Schwerpunkt | Online-Artikel

Neue Glasart durch molekulares Auffädeln

verfasst von: Dieter Beste

4 Min. Lesedauer

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Wissenschaftler berichten über die Entdeckung eines aktiven topologischen Glases, dessen Materialeigenschaften sie nun untersuchen wollen. Eine mögliche Anwendung sei beispielsweise flüssiges Material mit umkehrbarer Verglasung bei Lichteinwirkung.

Was ist Glas? Die aus unserem alltäglichen Erfahrungshintergrund so einfach erscheinende Antwort auf diese Frage gerät bei näherer Betrachtung zum Stolperstein: "Es ist unmittelbar ersichtlich, dass Glasschmelzen als zähe (viskose) Flüssigkeiten anzusehen sind. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist die Aussage, dass es sich bei auf Zimmertemperatur abgekühlten Glasprodukten um feste Flüssigkeiten handelt", schreiben die Autoren Helmut A. Schaeffer und Roland Langfeld von "Werkstoff Glas" (Seite 17). 

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Somit definiert sich das Material nicht durch seine chemische Zusammensetzung. Glas ist im thermodynamischen Sinne als "eingefrorene", unterkühlte Flüssigkeit anzusehen. Diese thermodynamisch begründete Erklärung des Glaszustandes geht auf Gustav Tammann (1861-1938) zurück. Viele Materialien lassen sich bei entsprechend hoher Abkühlgeschwindigkeit in den glasigen Zustand überführen. Schaeffer und Langfeld beschreiben zum Beispiel ab Seite 210  Metallische Gläser.

Über ihre Entdeckung eines völlig neuen Glases berichten jetzt Wissenschaftler der Universität Wien und des Mainzer Max-Planck-Instituts für Polymerforschung (MPI-P) in Nature Communications: Das von ihnen so genannte "aktive topologische Glas" bildet sich aus langen ringförmigen Molekülen. Indem die Forscher Teile der Ringe beweglicher machen, verwickeln sich die Ringe stärker ineinander, und die molekulare Flüssigkeit bildet ein Glas. Mit ihrer Entdeckung bestätigen die Wissenschaftler eine Vermutung aus den 1990er Jahren, nach er es eine weitere, neue Art von Glas geben könnte. Die Bestandteile dieses neuartigen Glases sollte keine linearen Molekülketten mehr sein, sondern sehr lange Ringpolymere: Solche "Ringe" können sich gegenseitig auffädeln, d.h. ein Ring fädelt sich durch das Auge eines anderen Rings, heißt es in einer Mitteilung des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung. Dabei schränken sich die Ringe in ihrer Bewegung gegenseitig ein. Wenn viele Ringe aufgefädelt sind, müssen sich mehrere Ringe nach und nach voneinander lösen, damit auch nur ein einziges Makromolekül freigesetzt wird. Solange ein derartiger Prozess bloß durch thermische Fluktuationen gesteuert wird, benötigt der Ring lange Zeit, um sich zu befreien, und die vorhergesagte ungeordnete Struktur verhält sich de facto wie ein festes Glas. 

Topologisches Glas experimentell noch nicht beobachtet

Soweit die Theorie. Ein solch glasartiger Zustand wurde noch in keinem Experiment beobachtet. Dies ist möglicherweise auf die derzeit zu kurz synthetisierbaren Ringpolymere zurückzuführen, schreiben die Forscher. Für derzeit verfügbare Ringlängen zeigten die vorherigen Computersimulationen, dass solches Glas nur durch schwer zu erreichende Bedingungen wie beispielsweise künstliches Einfrieren der Ringe herstellbar wäre. Es schien, als ob ein echtes topologisches Glas, also ein aus stark verwickelten ringförmigen Molekülen bestehendes Glas, weiterhin unerreichbar bliebe.

"Wir haben den zu bisherigen Versuchen umgekehrten Weg eingeschlagen, ein topologisches Glas zu finden. Anstelle des unphysikalischen Einfrierens der Ringe haben wir in unseren Simulationen einige Ringsegmente beweglicher gemacht. Das gelingt uns, indem wir Teile der Ringe zu stärkeren Fluktuationen zwingen", erklären Iurii Chubak und Jan Smrek, Kollegen an der Universität Wien und gemeinsame Hauptautoren der Studie. "Diese stärkeren Fluktuationen können durch das Einbetten von molekularen Motoren – Molekülen mit lokal auf Kosten der Energie ausgeübten Kräften – verwirklicht werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Synthese von Ringen, die Segmente mit erhöhter Lichtabsorption enthalten. Solche aktiv angetriebenen Ringe fädeln und verwickeln sich dann so stark, dass sie sich praktisch nicht aneinander vorbeibewegen können. Bemerkenswert ist, dass wir das topologische Glas bei experimentell zugänglichen Ringlängen und Antriebskräften beobachten", so Jan Smrek, der seine Arbeit in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz und unter Förderung durch das Lise-Meitner-Programm des Wissenschaftsfonds FWF durchgeführt hat.

Simuliertes System ähnelt DNA-Fasern

"Dieses Glas unterscheidet sich mikroskopisch stark vom Material der Flasche, aus der Sie normalerweise Ihr Lieblingsgetränk trinken. Detailliertere Materialeigenschaften des aktiven topologischen Glases werden in Zukunft weiter untersucht werden. Aber schon jetzt ist es spannend, nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung, sondern auch aufgrund der möglichen Anwendungen, beispielsweise flüssiges Material mit umkehrbarer Verglasung bei Lichteinwirkung", sagt Seniorautor Christos Likos von der Fakultät für Physik der Universität Wien. Interessant finden es die Wissenschaftler, dass sich die gleichen physikalischen Grundzutaten wie im neuentdeckten aktiven topologischen Glas auch in den Kernen lebender eukaryotischer Zellen finden. Tatsächlich sind die DNA-Fasern lange, undurchquerbare Polymere bei hoher Dichte, die von verschiedenen molekularen Motoren aktiv angetrieben werden. Jan Smrek: "Wir sind uns der Ähnlichkeiten unseres simulierten Systems mit den Kernen lebender Zellen bewusst. Ob sich allerdings die DNA unter realen Lebensbedingungen im Zustand des aktiven topologischen Glases befinden könnte, bleibt eine offene Frage."


 

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Was ist Glas?

Quelle:
Werkstoff Glas

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