4.1 Die Atemarbeit als Praktik der Kultivierung von „Innerlichkeit“
Die Atemarbeit bzw. Atemtherapie lässt sich zwischen psycho- oder körpertherapeutischen Ansätzen einerseits und spirituell orientierten, „holistischen“
6 Körpertechniken andererseits verorten (vgl. Höllinger und Tripold
2012). Ihr zentrales Telos besteht in einer Kultivierung von „Innerlichkeit“. Sie ist damit eines der Therapie- und Selbsterfahrungsangebote, die im deutschsprachigen Raum in den 1970er- und 1980er-Jahren – mit dem Aufkommen des sogenannten New Age – den „Körper […] immer stärker in den Mittelpunkt einer Umgestaltung von Selbstverhältnissen“ (Eitler
2012, S. 230) rücken (wie z. B. auch Yoga, Meditation, Biofeedback-Therapien etc.). Eine solche Somatisierung des Selbst erklärt sich aus dem Anspruch, den Menschen „ganzheitlich“ zu betrachten, indem psychologische, physiologische und spirituelle Perspektiven miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Im Falle der Atemarbeit speist sich dies, wie einer einschlägigen im Feld zirkulierenden Buchpublikation zu entnehmen ist, auch aus einer kulturkritischen Perspektive: Etwas zugespitzt formuliert, wird dem „westlichen“ Menschen ein Mangel an „innere[r] Einheit“ (Ehrmann
2004, S. 19) attestiert. Wie ein Atemlehrer in einem Gespräch erklärt, ziele die Atemarbeit auf der Grundlage eines „nach innen gerichteten Spüren[s]“ auf eine „Schulung“ der körperlichen „Sensibilität“, was wiederum „Stressabbau“ und „Entspannung“ ermögliche. Neben Aspekten, die auf ein gesteigertes psychisches und körperliches Wohlbefinden sowie gesundheitsfördernde Effekte zielen, wird darüber hinaus – etwa durch das Zulassen „unterdrückter Gefühle“ – das Erleben eines „authentischen“ Selbst in Aussicht gestellt (vgl. hierzu auch McCarthy
2002). In der Folge geht es allerdings weder um die diskursive Rahmung noch die in Aussicht gestellten Langzeitwirkungen. Im Fokus steht die
Praxis der Atemarbeit.
Dabei ist in unterschiedlichen (wenn auch nicht in allen) Settings zu beobachten, dass der Klient*innen-Körper qua praktischer Verbindung mit materiellen Artefakten (z. B. Matratzen, Liegestühlen, Polstern und Decken) stillgelegt und ruhend gemacht wird: Angestrebt wird das Finden einer „bequemen“ Liegeposition, die (potenziell) „Entspannung“ ermöglichen soll. Darüber hinaus werden die Möglichkeiten sinnlicher Bezugnahmen auf Klient*innen-Seite eingeschränkt: Die Augen werden geschlossen. Der Klient*innen-Körper wird zunächst vor allem zu einem abwartenden und ansprechbaren Körper gemacht. Auch wenn sich die Atemarbeit freilich nicht bewegungslos vollzieht, so hat man es doch mit einer hochgradig bewegungsarmen Aktivität zu tun.
Dem diskursiven Relevantmachen einer „inneren Erfahrung“ (Ehrmann
2004, S. 19) korrespondiert auf handlungspraktischer Ebene die Herstellung einer
leiblichen Selbstbezüglichkeit: Die Atemarbeit zielt darauf, bei den Klient*innen spezifische Formen des Affiziertseins zu evozieren (etwa als „Im-Moment-Sein“ oder „Fallenlassen“ diskursiviert). Ähnlich wie bei verschiedenen meditativen Praktiken (vgl. Pagis
2009,
2010) wird ein nicht-reflexiver, aber bewusst erfahrbarer Gegenwartsbezug angestrebt. Die Klient*innen sind dabei allerdings nicht auf sich allein gestellt. Atemlehrer*innen dirigieren die Sitzungen und instruieren die Teilnehmer*innen – zumeist verbal.
7
Um die Herstellung von Atem-Erfahrungen beobachtbar machen zu können, reicht es nicht aus, das praktische Vollzugsgeschehen allein aus einer technisch-registrierenden oder teilnehmend-beobachtenden Draufsicht in den Blick zu nehmen, in der das Geschehen von außen beobachtet wird. Ich setze deswegen auf eine
Kombination von Draufsicht (je nach Setting: Audio- oder Videoaufnahmen) und Binnensicht, in Form einer aktiven Teilnahme im Feld in der Rolle des Klienten. Forschungspraktisch entspricht ein solches Vorgehen der Produktion eines hybriden Datentypus, der sowohl Transkriptionen als auch Feldnotizen enthält, die in der Analyse aufeinander bezogen werden (vgl. Antony
2018b).
Durch ein pragmatisches Involviertsein im Feld werden affektiv-sinnliche Aspekte der Atemarbeit (etwa die Herstellung spezifischer Aufmerksamkeitsfokussierungen) beobachtbar und in der Folge thematisierbar (vgl. Antony
2017b). Eine aktive Teilnahme ermöglicht es, sich der Praktik auszusetzen und diese am eigenen Leibe zu erspüren. Dies hat zwei relevante methodologische Implikationen: Erstens lassen sich so – über visuelle und auditive Beobachtungsformen hinausgehend – die handlungsleitenden Relevanzen und praktischen Selektivitäten spezifischer Tätigkeiten, deren „lived order“ (Pollner und Emerson
2010, S. 119), überhaupt erst identifizieren. Zweitens heißt das aber auch, dass sich die Beobachtung nicht ‚freischwebend‘ vollzieht: Bei einer aktiven Teilnahme werden die Forschenden selbst zum Teil der untersuchten Praktik.
8 Versuche, als teilnehmende Beobachter*innen etwas anderes zu tun, als das, was praktikenspezifisch notwendig erscheint oder nahegelegt wird, würden infolgedessen dazu führen, dass man seinen Gegenstand gleichsam
dekonstruiert, bevor dieser überhaupt als solcher erfahrbar gemacht werden kann. Erfahren ersten Grades und wissenschaftliches Erfahren zweiten Grades sind also – und zwar intendiert – im
praktischen Vollzug im Feld deckungsgleich. Pointiert und beispielhaft gesprochen: Wenn die Klient*innen aufgefordert werden, die Augen zu schließen, dann sehen auch die teilnehmenden Beobachter*innen (vorerst) nichts mehr – was freilich nicht heißt, dass sie nicht mehr „beobachten“ würden.
Die von mir durchgeführte Forschung erfolgte in Form einer Teilnahme an verschiedenen Atemarbeit-Veranstaltungen, die von Atemtherapeut*innen bzw. Atemlehrer*innen angeboten wurden, die allesamt Mitglied eines in Wien ansässigen Vereins sind, der auch eine zertifizierte Ausbildung zum/zur Atemlehrer*in anbietet und aktuell (Stand: April 2019) rund 50 Mitglieder zählt. Ich habe bei einer der für das Ausbildungsprogramm maßgeblich verantwortlichen und auch zentral in die Vereinsgründung involvierten Personen über einen Zeitraum von sechs Monaten insgesamt sieben Einzelsitzungen absolviert und überdies auch Gruppenveranstaltungen besucht. Auf eine dieser Gruppenveranstaltungen gehe ich in der Folge beispielhaft ein. Es handelt sich dabei um einen „Kurs“ mit bis zu zwölf Teilnehmer*innen, der in einer Salzgrotte stattgefunden hat. Das Angebot wendet sich einerseits (was vor allem dem Ort der Veranstaltung geschuldet ist) an Personen mit Atemwegserkrankungen. Insofern eine Linderung von „Stress“ und „Müdigkeit“ in Aussicht gestellt wird, wird aber zugleich auch ein ‚allgemeines‘ Publikum adressiert. Der Kurs dauert 45 Minuten.
4.2 Die Herstellung leiblicher Selbstbezüglichkeit
Im Folgenden werden Ausschnitte aus dem Feldprotokoll einer Atemsitzung unter kompetenztheoretischen Gesichtspunkten interpretiert. In den Protokollauszügen verschränken sich Audiotranskriptionen mit Feldnotizen (kursiv). Ich verfahre dabei chronologisch. Die Darstellung soll verdeutlichen, dass die normativen Anforderungen an die Teilnehmer*innen nach und nach spezifischer werden. Ich beginne mit (a) optionalen Einrichtungs- und Einstimmungspraktiken, erläutere anschließend (b) die Bedeutung von Übersetzungspraktiken für die Herstellung ‚passender‘ Anschlussaktivitäten und wende mich dann (c) einer Inkompetenz-Erfahrung detaillierter zu.
a)
Optionale, vorbereitende Strategien: Einrichtungs- und Einstimmungspraktiken
Nach einer kurzen Wartezeit bewege ich mich mit den anderen sechs Anwesenden aus dem Warte- bzw. Verkaufsraum in die Salzgrotte. In dieser befinden sich zwölf Liegestühle. Ich wähle einen der Stühle und versuche eine entspannte Liegeposition zu finden: Der Kopfpolster, der an dem Stuhl angebracht ist, ist nicht wirklich bequem. Ich verschiebe ihn nach einigem Hin- und Herrutschen ein wenig, damit ich meinen Kopf angenehm auflegen kann. Das Finden einer bequemen Liegeposition ist wichtig. Denn, wie ich bereits aus den Einzelsitzungen weiß: Etwaige taktile Irritationen können Störfaktoren darstellen, die Aufmerksamkeitsressourcen absorbieren, die man eigentlich für die Herstellung einer bewussten Atem-Erfahrung braucht. Ich versuche überdies, mich ein wenig einzustimmen und ruhig zu sein. Wobei ruhig sein nicht nur meint, dass ich nicht spreche, sondern ebenso, dass ich versuche, die äußeren Eindrücke – zum Beispiel den Inhalt des Gesprächs zwischen zwei Frauen, die sich unterhalten – gleichsam von mir abprallen zu lassen.
Noch bevor die Atemlehrerin die Salzgrotte betritt, verfolge ich zunächst auf einschlägigen Vorerfahrungen beruhende vorbereitende Strategien. Diese sind prospektiv auf die Herstellung einer gelingenden Atem-Erfahrung gerichtet. Das lässt sich insbesondere am Beispiel des wechselseitigen Einrichtens der materiellen Infrastruktur und meines Körpers verdeutlichen. Die Herstellung einer praktischen Verbindung mit dem Liegestuhl erfolgt im Medium leiblicher Praxis (vgl. auch Hennion
2011): Durch experimentelles Herumprobieren,
erspüre ich, ob eine „bequeme“ bzw. „angenehme“ Liegeposition gefunden ist. Diese begreife ich als eine Voraussetzung dafür, bewusste Atem-Erfahrungen zu machen. Gelingt es nicht, eine bequeme Liegeposition zu finden, so besteht die Gefahr, dass zu einem späteren Zeitpunkt von der Atemlehrerin nahegelegte Aufmerksamkeitsfokussierungen (die ich zu diesem Zeitpunkt antizipiere) durch Ablenkungen unterminiert werden.
Die praktikenspezifischen normativen Anforderungen an die Teilnehmer*innen sind zu diesem Zeitpunkt gering. So offeriert etwa die materielle Ausstattung lediglich eine Möglichkeit zur Einrichtung des eigenen Körpers, die man ergreifen kann. Ebenso scheint eine vorbereitende Einstimmung alles andere als obligatorisch zu sein – was sich unter anderem auch daran zeigt, dass sich zwei der Anwesenden (noch) miteinander unterhalten. Zu diesem Zeitpunkt ist noch kein atemarbeitsspezifischer Kompetenzimperativ im engeren Sinne wirksam. Zwar können auf Vorerfahrungen beruhende Strategien verfolgt werden, die ein kompetentes Partizipieren in der Folge gegebenenfalls befördern. Aber dabei handelt es sich in normativer Hinsicht um optionale Strategien, die verfolgt werden können oder nicht.
b)
Notwendige Anschlüsse: Übersetzungspraktiken als basale Kompetenzen
Die Situation ändert sich jedoch signifikant, als die Atemlehrerin (AL) die Salzgrotte betritt:
Nach einiger Zeit verstummen die Gespräche und es wird ruhiger. Wenige Momente später tritt die Atemlehrerin ein und erläutert unter anderem die Zielsetzung des Kurses, die darin bestünde, „ganz sanfte Atemübungen“ zu machen, und „Brustatmung“ und „Bauchatmung“ zu üben.
AL: Gut. (‑- -‑ -‑)
9 Dann lass dich ganz bewusst hier ankommen. […] Es gibt jetzt nichts zu tun oder zu entscheiden für dich. Jetzt ist Zeit ausschließlich für dich selbst. (‑- -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑) Du entspannst dich vollkommen, vertraust dich der Liege an, die dich trägt. (‑- -‑) Und gehst mit deiner ganzen Aufmerksamkeit […] zu deinem Atem. (‑- -‑ -‑ -‑ -) Und lässt ihn langsam tiefer werden. (‑-) Du atmest durch die Nase ein (‑- -) und wenn’s möglich ist auch durch die Nase aus. (‑- -‑ -‑) Und bei jedem Ausatem lässt du bewusst alle Muskeln los. (‑- -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑)
Die von der Atemlehrerin vorgeschlagene Kopplung von „Loslassen“ bzw. „Entspannen“ der Muskeln und dem Ausatemvorgang ist mir bereits von den Einzelsitzungen bekannt. Ich habe den Eindruck, dass ich durch meine Vorerfahrungen ein basales praktisches Wissen mitbringe und es mir insgesamt nicht (mehr) so schwerfällt, die Anweisungen umzusetzen. Ohne viel nachzudenken und ohne, dass mir selbst transparent wäre (und ich nachträglich genauer beschreiben könnte), wie ich dies mache, versuche ich, beim Ausatemvorgang nicht nur die Brust- oder Bauchmuskulatur, sondern meinen ganzen Körper schwerer werden zu lassen und die Muskeln zu entspannen.
Ersichtlich wird aus den Feldnotizen, dass die Praktik der Atemarbeit primär an den Schnittstellen zwischen den verbalen Instruktionen der Atemlehrer*innen und den leiblichen Anschlussaktivitäten der Klient*innen operiert (ich versuche, „die Anweisungen umzusetzen“). Eine Atem-Erfahrung ist nicht einfach selbstgegeben, sondern sie wird – zumeist in einer wiederkehrenden sequenziellen Abfolge von verbalen Anleitungen und leiblicher Praxis – ko-produktiv als eine solche erst hergestellt. In kompetenztheoretischer Hinsicht ist hierbei auffällig, dass die Atemlehrerin zwar kommuniziert, was die Klient*innen machen sollen; sie erklärt allerdings nicht, wie die Dinge konkret umgesetzt werden sollen. Dies betrifft zum Beispiel das „Entspannen“, das Herstellen von „Aufmerksamkeit“ oder auch das „Loslassen“ der Muskeln. Die Atemlehrerin setzt entsprechende habituelle Fertigkeiten und affektiv-sinnliche Empfänglichkeiten aufseiten der Klient*innen in ihrer Rede voraus. Sie operiert auf der Grundlage von Kompetenzunterstellungen.
Gerade weil sie dies tut, kommuniziert sie implizit auch ein basales Kompetenzkriterium der Atemarbeit mit: Die Klient*innen sollen imstande sein, das Gesagte in ihre Praxis zu übersetzen (vgl. Renn
2004; Pagis
2010).
10 Um passende Anschlussaktivitäten erzeugen zu können, gilt es, den Übergang zwischen dem Sprechen der Atemlehrerin und dem eigenen leiblichen Spüren zu meistern. Zwar setzt ein Gelingen dieser Übersetzungsarbeit keineswegs voraus, dass mein eigenes Tun für mich transparent oder gar reflexiv einholbar wäre (ich beschreibe mein Tun als „ein basales praktisches Wissen“ und agiere „ohne viel nachzudenken“). Doch als entscheidend dafür, um die Organisation der Kompetenzproduktion in der Atemarbeit verstehen zu können, erweist sich die Frage,
wie darüber befunden wird, was überhaupt als passende oder angemessene Anschlussaktivität gelten kann.
c)
Erfahrungen der Inkompetenz und die normative Organisation der Atemarbeit
Dies lässt sich anhand einer Situation der Inkompetenz veranschaulichen, in der ein leibliches Andocken an das Gesagte nicht gelingt. Hierzu ein Beispiel, das derselben Atemsitzung entstammt:
AL: Und jetzt bitte ich dich, dass du dich ganz bewusst auf deinen Brustkorb konzentrierst und versuche in die reine Brustatmung überzugehen.
An diesem Punkt denke ich kurz (sinngemäß), dass ich ja eigentlich noch gar nicht weiß, durch was sich die „reine Brustatmung“ handlungspraktisch auszeichnet. Ich habe zwar eine grobe Vorstellung davon, aber bisher hat die Unterscheidung zwischen Bauch- und Brustatmung in meiner Atem-Praxis keine Rolle gespielt.
Ersichtlich wird anhand dieses Beispiels, dass mir in dieser Situation – anders als beim obigen Beispiel – keine als passend empfundenen Verhaltensrepertoires zur Verfügung stehen, die ich in die Situation importieren (vgl. Scheffer
2013, S. 93) und entsprechend mobilisieren hätte können (was u. a. auch Reflexionsprozesse anstößt): Ich weiß nicht weiter. Ich bin mit einer neuen Handlungsanforderung konfrontiert und überdies stellt mir die Atemlehrerin zu diesem Zeitpunkt auch keine hinreichend expliziten Kompetenzkriterien zur Verfügung (nur eine „grobe Vorstellung“), um eine neue Anschlussaktivität generieren zu können. Will ich also ‚im Spiel‘ bleiben, so bin ich aufgefordert, einen Weg zu finden, die Situation praktisch zu meistern. Glücklicherweise nimmt die Atemlehrerin kurz darauf eine verbale Spezifikation vor:
AL: (‑- -‑ -) sodass die Bauchdecke ruhig bleibt, entspannt, nur der Brustkorb sich weitet, bis hinauf zu den Schultern (‑- -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑ -‑)
Ich greife ihre Erklärung dankbar auf:
Das „sodass die Bauchdecke ruhig bleibt“ war für mich das entscheidende Stichwort, was die praktische Umsetzung der Brustatmung anlangt. Ich versuche nun, die Bauchmuskulatur so ruhig wie möglich zu halten und die Luft vor allem in den Brustbereich strömen zu lassen, sodass sich eben vor allem die Brustmuskulatur bewegt – obwohl es teilweise gar nicht so einfach ist, lediglich zu erspüren, wie gut dies gelingt. Ich spüre zwar eine klare Veränderung, aber wie viel oder wenig sich nun beispielsweise der Bauch mitbewegt, lässt sich nur sehr schwer abschätzen. Es wäre fast notwendig, denke ich mir, dies auch visuell nachvollziehen zu können.
Die Atemlehrerin liefert mir zum einen eine sprachliche Anleitung für das Wie der potenziellen Anschlussaktivität. Sie liefert zum anderen Anhaltspunkte dafür, unter welchen Bedingungen diese als ‚richtig‘ ausgeführt gelten kann. Die Atemlehrerin kommuniziert hier also vergleichsweise explizit Kompetenzkriterien mit, an denen ich mein Tun orientieren und dieses in der Folge bewerten kann („sodass die Bauchdecke ruhig bleibt, entspannt, nur der Brustkorb sich weitet“). Allerdings gibt sie keine Hinweise darauf, was unter „ruhig“ oder „entspannt“ zu verstehen ist bzw. wie sich beides anfühlen soll. In diesem Sinne ruht die Etablierung von Kompetenzkriterien auf einem leiblichen Fundament, das von mir experimentell erarbeitet werden muss. Meine leibliche Praxis wird hier zur Trägerin bewusst gefühlter, doch auch für mich nicht gänzlich transparenter Kompetenzkriterien. Es stehen keine ‚objektiveren‘ Kriterien zur Verfügung. Ich bin also förmlich dazu gezwungen, eine passende Anschlussaktivität im Trial-and-Error-Modus praxisimmanent zu kreieren: Ich muss erstens für mich selbst fühlend spezifizieren, was überhaupt als kompetente Praxis gelten kann und zweitens – im selben Atemzug – erspürend bewerten, ob das, was ich tue, den situativ etablierten Kompetenzkriterien entspricht.
Die Atemarbeit stellt zwar keine Praktik dar, die gänzlich ohne kommunizierte normative Orientierungen auskommt. Doch obwohl es so etwas wie metaphorisch kommunizierte bzw. vage kommunizierbare (Sub‑)Zielsetzungen (hier: die Herstellung einer „Brustatmung“) und dazugehörige Kompetenzkriterien gibt, werden die Klient*innen dazu angehalten, sowohl die entsprechenden Anschlussaktivitäten als auch die korrespondierenden Kompetenzkriterien in situ praktisch zu spezifizieren oder diese neu zu kreieren: Sie können sich letztlich, wollen sie als kompetente Atemarbeit-Teilnehmer*innen agieren, nur an ihren individuellen eigenleiblichen Wahrnehmungen orientieren. Eine letzte externe personale Bewertungsinstanz, wie sie etwa bei kommunikativen Formen der Kompetenzproduktion beobachtet werden kann, ist nicht gegeben. Die Frage nach den leiblichen Korrelaten eines als ‚richtig‘ erachteten Fühlens kann offenbar nicht delegiert werden.
Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass dies freilich nicht bedeutet, dass sich die Atemlehrer*innen keinen Reim auf die Situation machen und auf Grundlage ihrer Eindrücke nicht auch praktisch intervenieren würden. So berichtet etwa ein Atemtherapeut im Nachgespräch zu einer Einzelsitzung: „Ja, ich hatte auch den Eindruck, also dass […] die Aufmerksamkeit sehr im Körper ist. Das war also, man merkt’s manchmal, wenn […] so Augenbewegungen sind, dass dann auch im Kopf mehr los ist und da war gar nix. Es war ganz ruhig.“ Allerdings interpretieren sie ihre eigene Rolle sehr zurückhaltend. Auf meine Nachfrage nach einer Atemsitzung, wie eine bestimmte Instruktion vom Atemtherapeuten gemeint gewesen sei, antwortet dieser Folgendes:
Die Anweisung hat schon irgendwie die Anregung geben wollen, also so wie so eine Motivation und ich hab’ a‑ aber gemerkt, dass das, ahm, einfach nicht angekommen ist gewisserweise und hab’s einfach sein lassen und äh, weil quasi das Hauptprinzip ist schon, oder ist vordringlich zu schauen, was entwickelt sich von selber. Weil jede Intervention von außen, vor allem dann, wenn man’s immer wieder wiederholt, kann dann auch wie eine ah Manipulation empfunden werden, kann dann zweierlei auslösen. Der eine sagt, jetzt muss ich unbedingt und und setzt sich quasi unter Stress, der andere sagt, nein, jetzt erst recht nicht.
Pointiert formuliert lässt sich sagen, dass in der Atemarbeit ein Kontext generiert wird, der die Klient*innen mit der handlungspraktischen Frage, ob sie das, was sie machen, auch ‚richtig‘ machen, in letzter Instanz alleine lässt. Es ist dementsprechend nicht nur das leibliche Tun der Klient*innen, auf das sich diese sozusagen verlassen müssen. Es sind auch unausweichlich sie selbst, die dafür Sorge zu tragen haben, dass es angemessen weitergeht. Im Rahmen der Atemarbeit kompetent zu sein, heißt primär, sich im Tun nicht nur als kompetent zu erfahren, sondern sich in einem gewissen Sinne selbst kompetent zu machen.
4.3 Kompetenzproduktion in der Atemarbeit: Verleiblichung und Individualisierung
Vor diesem Hintergrund möchte ich nun abschließend die spezifische Logik der Kompetenzproduktion in der Atemarbeit näher bestimmen. Die Fallinterpretation kann so theoretisch verallgemeinert und idealtypisch zugespitzt werden. Die Atemarbeit lässt sich als eine Praktik begreifen, die im Hinblick auf den Gegenstand der Kompetenzproduktion verleiblichend und mit Blick auf deren Organisation individualisierend wirkt.
Verleiblichend wirkt sie insofern, als sie auf eine Kultivierung spezifischer Formen des Affiziertseins zielt. Es geht nicht um die Aneignung von Bewegungstechniken (im engeren Sinne), sondern um die Herstellung eines Wahrnehmungs- und Tätigkeitsfeldes, das in zeitlicher und räumlicher Hinsicht als vergleichsweise eingeschränkt bezeichnet werden kann: Man fokussiert primär auf das eigene Tun im Hier-und-Jetzt und (das konnte hier nur angedeutet werden) die wahrnehmbaren bzw. spürbaren Effekte, die sich dabei einstellen. Die konkrete Ausgestaltung der Herstellung (in-)kompetenter Teilnehmer*innen vollzieht sich – aus der Klient*innenperspektive betrachtet – also weitgehend unabhängig von den kommunikativen Dimensionen sozialer Praktiken. Kompetenz wird in der Atemarbeit nicht (oder nur bedingt) zur Schau gestellt. Die Atemarbeit erfordert von den Klient*innen vielmehr, Verhaltensweisen zu etablieren, um sich kompetent fühlen zu können.
Individualisierend wirkt die Atemarbeit, weil sich das Etablieren von Kompetenzkriterien und Praktiken des Bewertens
in letzter Konsequenz nicht im Medium der Expert*innen-Lai*innen-Kommunikation vollzieht. Die Klient*innen müssen – wollen sie ‚erfolgreich‘ sein – gleichsam zu leiblichen Expert*innen ihrer selbst werden. Sie sind es, die – im vorgegebenen Rahmen der verbalen Instruktionen – sowohl Kompetenzkriterien generieren bzw. spezifizieren als auch fühlend darüber befinden, ob das, was sie tun, diesen Kompetenzkriterien entspricht: Atemlehrer*innen geben in diesem Sinne ihre
Zuständigkeit (vgl. Pfadenhauer
2010) im Hinblick auf das Verstehbarmachen von Kompetenzkriterien
partiell und im Hinblick auf die Praktiken des Bewertens
ganz auf. Mit Blick auf die Organisation der Kompetenzproduktion fungieren sie nicht mehr als Expert*innen im engeren Sinne, die kraft der ihnen zugestandenen Deutungsmacht darüber befinden, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Vielmehr können sie als
Unterstützer*innen verstanden werden, die den Klient*innen dabei helfen, sich selbst zu befähigen.