1 Die Automobilproduktion im technologischen Wandel
2 Produktionsinnovationen erfordern Ambidextrie
3 Praxisbeispiel: Das Audi Production Lab
4 Von der Exploration zur Exploitation von KI-Technologien für die Audi Produktion
4.1 Herausforderungen KI-basierter Innovationen
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Experimenteller Charakter: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die probabilistischen Ergebnisse eines KI-Systems, die nicht einer traditionellen Wenn-Dann-Logik folgen (Amigoni und Schiaffonati 2018). KI-basierte Innovationen erfordern daher ein zunehmend exploratives und iteratives Vorgehen. Test- und Versuchsaufbauten werden kurzfristig angepasst, wenn die Ergebnisgüte unzureichend ist. Ein Beispiel ist die Optimierung der Beleuchtung oder Veränderung von Kamerapositionen.
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Kontextsensitivität: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die Tatsache, dass die Performance eines KI-Systems in einem bestimmten Kontext von den jeweiligen Eingabedaten desselben Kontexts abhängt (Lieberman und Selker 2000). Von Testversuchen in einer Laborumgebung kann daher nur bedingt auf die Leistungsfähigkeit einer KI-basierten Innovation im realen Produktionskontext geschlossen werden. Hier können zum Beispiel wechselnde Lichtverhältnisse oder Lichtreflexionen in der tatsächlichen Produktionsumgebung die Übertragbarkeit von Laborversuchen einschränken.
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Lernanforderungen: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die Abhängigkeit eines KI-Systems anhand von datenbasierten Beispielen zu lernen. Daher benötigen insbesondere KI-Systeme, die auf überwachten Lerntechniken (Supervised Learning) basieren, sehr große Mengen an gelabelten3 und qualitativ hochwertigen Daten (Kang et al. 2020). KI-basierte Innovationen erfordern daher eine sehr starke Integration von Produktionsexpert_innen über einen längeren Zeitraum. Ein Beispiel hierfür ist die Einbindung von Fachexpert_innen beim Labeln von Bildern und im Rahmen der Erstellung eines repräsentativen Trainingsdatensatzes.
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Black-Box Charakter: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die nicht triviale Erklärbarkeit der Datenverarbeitung eines KI-Systems, wodurch es schwierig ist nachzuvollziehen was genau zwischen der Dateneingabe und Datenausgabe eines KI-Systems passiert (Castelvecchi 2016). In KI-basierten Innovationen muss das Entscheidungsverhalten der KI-Algorithmen daher besonders sorgfältig mit dem Entscheidungsverhalten von Expert_innen abgeglichen werden. Ein Beispiel hierzu sind Grenzfalldiskussionen mit Expert_innen im Rahmen des Daten-Labelings.
4.2 Erarbeitung KI-basierter Innovationen
4.2.1 Wie können KI-geeignete Fragestellungen identifiziert werden?
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Wissensaufbau: Über die gesamte Organisation hinweg bietet Audi seinen Mitarbeiter_innen unterschiedliche Grundlagen- und Aufbauschulungen zu KI und datenbasierten Technologien an. Damit wird auf breiter Ebene das organisationale Lernen gefördert und die Grundlage für individuellen Kompetenzaufbau geschaffen. Das P‑Lab steht im permanenten Austausch mit der Audi Akademie, dem unternehmenseigenen Zentrum für Kompetenzentwicklung und Qualifizierung, um Schulungsbedarfe für innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildungskonzepte abzustimmen. Anhand von Praxisbeispielen im betrieblichen Kontext wird der individuelle KI-Kompetenzaufbau in der Organisation sichergestellt; die Potenziale (und Nicht-Potenziale) von KI werden praxisnah vermittelt. Der kontinuierliche Wissensaufbau wird darüber hinaus durch externe Kooperationen gefördert, zum Beispiel im Rahmen von Forschungsprojekten, Promotionen und Abschlussarbeiten.
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Mitarbeiterrotation: Regelmäßig rotieren Mitarbeiter_innen zwischen dem P‑Lab und den Kernbereichen der Produktion. Beispielsweise können interne Auszubildende temporär in das P‑Lab wechseln und so frühzeitig anwendungsbezogenes Wissen in technologischen Zukunftsfeldern aufbauen. Genauso können erfahrenen Produktionsexpert_innen in das P‑Lab rotieren, um ihr Erfahrungswissen im Innovations- und Technologiemanagement einzubringen. Im Gegenzug wechseln P‑Lab Mitarbeiter_innen mit ihren Innovationsprojekten in die jeweiligen Produktionsbereiche und begleiten ihre Innovationsprojekte kundennah bis zur Serienintegration.
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Prozessorientierung: Die Erfahrungen zeigen, dass gute Problem-Lösungs-Paarungen nicht von selbst entstehen, sondern das Ergebnis eines strukturierten und wertorientierten Vorgehens sind. Hier steht die Analyse der Produktionsprozesse sowie die Abschätzung potenzieller KI-Wertbeiträge gemäß dem Credo „Was wäre, wenn?“ im Mittelpunkt. Ein Schlüsselfaktor ist die frühzeitige Einbindung von Produktions- und Prozessexpert_innen. In vielen Fällen kommen für die Lösung eines Problems grundsätzlich verschiedene Technologien in Frage. Bei manchen scheinbar KI-prädestinierten Use Case Ideen zeigt sich bei der weiteren Konkretisierung, dass entweder die Kernursache des zu lösenden Problems gar nicht klar (und objektiv) beschreibbar ist oder auch nicht-KI-Lösungen aus technisch-wirtschaftlicher Sicht eine Alternative darstellen. Um geeignete Problem-Lösungs-Paarungen für den Einsatz von KI-Technologien zu identifizieren, unterstützt das P‑Lab zusammen mit KI-Expert_innen und Domänenexpert_innen aus den Produktionsbereichen die Durchführung von interdisziplinären Screening-Workshops.
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Hypothesenbildung: Für die Ausarbeitung eines KI-basierten Use Cases muss das produktionsrelevante Problem in eine KI-geeignete Fragestellung übersetzt werden. Zudem sind die zugrundeliegende Funktion und dazu benötigte KI-Fähigkeit zu spezifizieren. Sollen Zustände in der Produktion kontrolliert oder dokumentiert werden und sind diese Zustände überhaupt eindeutig bekannt und beschreibbar? Sollen Abweichungen identifiziert werden oder sonstige Schlussfolgerungen (aus vorhandenen oder neu zu erhebenden Daten) abgeleitet werden? Hierzu muss das Geschäftsproblem in der Produktion möglichst eindeutig und eng beschrieben werden. Darüber hinaus wird das vorliegende Problem sowie der Bedarf einer KI-basierten (Automatisierungs‑)Lösung im Rahmen einer Ursachenanalyse (Root-Cause-Analysis) auf den Prüfstand gestellt. Dies erhöht nicht nur das Problemverständnis, sondern dient auch als wertvolles Kommunikationsmittel zwischen Produktionsexpert_innen und Technologieexpert_innen.
4.2.2 Wie können KI-Proof-of-Concepts erfolgreich entwickelt werden?
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Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Das P‑Lab bezieht bei der Entwicklung von KI-PoCs frühzeitig alle Schnittstellenpartner_innen in die PoC-Aktivitäten mit ein. So wird sichergestellt, dass der Fokus nicht nur auf der Technologie selbst liegt, sondern ebenso auf der Kompatibilität einer potenziellen Lösung mit dem organisationalen Kontext. Produktionsexpert_innen definieren den fachlichen Bedarf und quantifizieren den potenziellen Wertbeitrag einer KI-basierten Lösung. Zudem werden die Soll-Prozesse beschrieben und Szenarien zur Einbettung der Lösung in die Produktionsprozesse definiert. Die KI-Expert_innen übersetzen die fachlichen Anforderungen in mathematische Vorgaben (Hypothesen), wählen geeignete KI-Algorithmen aus und trainieren diese basierend auf den verfügbaren Daten. Softwareexpert_innen erstellen das zugehörige Softwareprodukt, in welches die KI-Komponenten einer KI-basierten Lösung eingebettet werden. Zusätzlich bedarf es Expert_innen der Produktions-IT, um (idealerweise automatisierte) Datenpipelines zu erschließen, sodass Daten nicht nur einmalig gesammelt werden, sondern die Machbarkeit frühzeitig im Rahmen eines seriennahen Settings bewertet und damit die Übertragbarkeit des PoCs in ein produktives Setting abgesichert werden kann. Je nach Anwendungsfall und Technologiebereich können noch weitere Fachexpert_innen und Schnittstellenkompetenzen hinzugezogen werden, wie zum Beispiel Optik- und Sensorikexpert_innen im Rahmen von Fragestellungen im Bereich der (KI-basierten) Bildverarbeitung.
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PoC-Erfolgsdefinition: Der nicht-deterministische Charakter von KI-Algorithmen führt dazu, dass die erreichbare Performance (z. B. die Erkennungsrate eines bestimmten Prüfmerkmals) a priori nicht quantifiziert werden kann und daher die Erfolgsaussichten eines KI-gestützten Systems in der frühen Entwicklung vage bleiben. Ausprobieren, Lernen und Iterieren werden zu zentralen Entwicklungsparadigmen. Umso wichtiger ist es das Ziel eines PoCs von Anfang an klar zu definieren. Hierzu bedarf es objektiver (technischer) Erfolgs-Metriken, die für den Use Case relevant sind und mit den jeweiligen Domänenexpert_innen bzw. späteren Kund_innen einer KI-Lösung abgestimmt sind. Performance-Kriterien sind zum Beispiel Fehlerschlupf- und Pseudofehlerraten oder auch die Inferenzzeiten des Gesamtsystems. Ebenso kann es im PoC um den Beweis gehen, dass etwas technologisch überhaupt möglich ist oder definierte Kostengrenzen eingehalten werden können.
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Datenorientierung: Die Grundlage für die Entwicklung eines KI-basierten Use Cases sind strukturierte oder unstrukturierte Daten, die die relevanten Merkmale und Ausprägungen eines Prozesses in hinreichender Qualität repräsentieren. Um von einem KI-PoC auf die Machbarkeit eines Konzeptes im realen Produktionskontext zu schließen, werden daher idealerweise bereits im PoC repräsentative Produktionsdaten verwendet. Das P‑Lab betreibt daher einen eigenen Server, der direkt auf das Produktionsnetz zugreifen kann. Die Erstellung einer ausgewogenen und vollständigen Datenbasis kann gerade im Kontext der Produktion sehr aufwändig und langwierig werden. Zum einen sind Bestandsdaten teilweise unvollständig bzw. uneinheitlich gepflegt. Zum anderen sind die Prozesse in der Produktion hoch optimiert, sodass Fehlerfälle unterrepräsentiert sind und eine schiefe Datenlage herrscht. Ebenso kann es vorkommen, dass Daten gänzlich unbrauchbar sind, wenn ihnen der Bezug zum Produktionsereignis fehlt und sie beispielsweise keinen Zeitstempel oder Teile-Bezug haben. Das kann dazu führen, dass das geplante PoC-Setup nochmal gänzlich neu definiert werden muss.
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Daten-Labeling: Eine wichtige Aufgabe im Rahmen von KI-PoCs ist das Erfüllen der Lernanforderungen eines KI-Systems. Hierzu werden zunächst der Input und der Output des KI-Systems von Produktionsexpert_innen beschrieben, Datensätze werden gelabelt und gegebenenfalls mit weiteren Metadaten ergänzt. Dieser Prozess kann durch standardisierte Tools und standardisierte Prozessmodelle unterstützt werden, wie beispielsweise durch Daten-Labeling-Plattformen. Die Daten werden dann von verschiedenen Expert_innen unabhängig voneinander beurteilt und im Fall von Uneinigkeiten werden Diskussionen mit ebendiesen Expert_innen moderiert. Im Rahmen der systematischen Erfassung und Analyse der Produktionsdaten können bisher unentdeckte Schwachstellen oder Muster im Prozess identifiziert werden, was per se schon ein wertvoller Erkenntnisgewinn ist. Wenn mögliche Fehlereigenschaften und potenzielle Fehlerausprägungen ausreichend in den Daten repräsentiert sind, wird ein umfangreicher Grenzmusterkatalog erstellt. Hierbei werden geschäftsereignisrelevante Grenzfallentscheidungen in Fachgesprächen mit Expert_innen definiert und mit Beispielfällen dokumentiert (z. B. ab wann ein Kratzer als Beschädigung zu deklarieren ist). Sollten diese Entscheidungen nicht hinreichend eindeutig getroffen werden können, so kann es vorkommen, dass eine erneute Datensammlung mit verbesserter Hardware notwendig wird oder die PoC-Ziele gänzlich angepasst werden müssen.
4.2.3 Wie können KI-Lösungen produktiv implementiert werden?
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Betriebskonzept: Für die Umsetzung und den Betrieb in der Produktion werden KI-Lösungen in die bestehende IT-Landschaft eingebettet; die zugehörigen Steuerungsmechanismen werden um das Management der KI-spezifischen Eigenschaften erweitert. Beispielsweise bleiben die KI-Lernanforderungen auch im produktiven Betrieb bestehen, sodass ein professionelles KI-Betriebskonzept die Performance der KI-Lösung überwacht, Modelloptimierungen verwaltet und Trainingsdaten längerfristig speichert. Bei der Entwicklung von KI-basierten Innovationen werden im P‑Lab daher schon in einer frühen PoC-Phase potenzielle Betriebskonzepte berücksichtigt. Hierzu gehört zum Beispiel die Berücksichtigung von unternehmensspezifischen DevOps-Anforderungen oder auch die vorzugsweise Nutzung von Tools und Frameworks, die von der IT-Sicherheit bereits zur Verwendung freigegeben sind.
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Skalierbarkeit: Um das spätere Ausrollen von einmal entwickelten KI-Lösungen auf andere Werke und Standorte zu erleichtern, werden Skalierbarkeitsanforderungen bereits frühzeitig beim Systemdesign KI-basierter Innovation berücksichtigt. Zudem sollen für einen professionellen Betrieb eines KI-Systems in der Produktion die benötigten Daten zentral verfügbar gemacht werden. Hierzu setzt Audi auf eine digitale Produktionsplattform (DPP), die über den gesamten Volkswagen Konzern hinweg als industrielle Cloud zur Konsolidierung von Produktionsdaten dient. Für diese Plattform werden Standard-Funktionalitäten zentral entwickelt und bereitgestellt, sodass sie nicht in jedem Use Case neu erstellt werden müssen.
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Nutzerbefähigung: Für den produktiven Betrieb und die Instandhaltung von KI-Systemen in der Produktion werden Bedienbarkeit und Interventionsmöglichkeiten in enger Abstimmung mit den Mitarbeiter_innen definiert. Hierzu wird beispielsweise ein Grundverständnis zu den notwendigen Technologien im Bereich der Datenübertragung und Datenmodellierung vermittelt. Zusätzlich werden die produktionsnahen Mitarbeiter_innen geschult und befähigt ein mögliches Fehlverhalten bzw. eine potenzielle Störung des KI-Systems zu erkennen und (gegebenenfalls) selbst zu beheben.
5 Zusammenfassung
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Vernetztes Denken: Die Identifikation von Produktionsinnovationen erfordert zunehmend vernetztes Denken. Gerade bei daten- bzw. KI-basierten Innovationen entsteht der große Werthebel oftmals erst durch die übergreifende Vernetzung der vorhandenen Daten, wie zum Beispiel durch Vernetzung von Produktions- und Qualitätsdaten über den gesamten Fahrzeugproduktionsprozess hinweg. Diese Daten werden dann mit Hilfe des Erfahrungswissens und Prozessverständnisses der internen Expert_innen zusammengebracht – eine Transferleistung, die kein einzelner (externer) Lieferant von der Stange anbieten kann. Das vernetzte Denken sowie der abteilungs- und fachbereichsübergreifende Austausch wird durch die Zentralisierung der Innovationsaktivitäten im P‑Lab gefördert.
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Organisatorisch geschaffener Freiraum: Die Entwicklung von Produktionsinnovationen erfordert organisatorisch geschaffenen Freiraum. Gerade der zunehmende Anteil digitaler (KI-basierter) Technologien ermöglicht neuartige, radikale Innovationen, die einen freien Denkraum und frische externe Impulse voraussetzen. Diese längerfristigen (strategisch relevanten) Innovationsthemen können in den operativen Planungs- und Produktionsabteilungen gegenüber dem dringlichen Tagesgeschäft, also „on the job“, nur schwer priorisiert werden. Durch die organisationale Entkopplung der Innovationsaktivitäten vom operativen Tagesgeschäft wird mit dem P‑Lab mehr Gestaltungsraum für radikale Innovationsansätze geschaffen.
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Nachweis der Produktionsanforderungen: Die Implementierung von Produktionsinnovationen ist an hohe Anforderungen geknüpft. Neben den sehr hohen Verfügbarkeitsanforderungen müssen die hocheffizienten Produktionsprozesse der Automobilproduktion umfangreiche gesetzliche Nachweispflichten und Zertifizierungsauflagen erfüllen. Damit können neue Technologien und Lösungen für den produktiven Betrieb nicht „einfach mal auf den Markt gebracht“ werden, sondern müssen nach Maßgabe des Unternehmens verfeinert werden, ohne geschäftskritisch für die produktiven Wertschöpfungsprozesse zu werden. Das P‑Lab bietet eine geschützte Umgebung, in der demonstriert werden kann, dass innovative Lösungsansätze die notwendigen Prüf- und Freigabeprozesse erfüllen können. Das macht neue Technologien in der Organisation greifbar und leistet Überzeugungsarbeit bei internen Stakeholdern.