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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 3/2023

Open Access 14.03.2023 | Schwerpunkt

Organisationale Ambidextrie als Erfolgsfaktor für KI-basierte Innovationen in der Produktion: Das Audi Production Lab

verfasst von: André Sagodi

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 3/2023

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Zusammenfassung

Künstliche Intelligenz bietet immenses Wertpotenzial für Unternehmen, wie beispielsweise für Produzenten in der Automobilindustrie. Um von den neuen Technologien zu profitieren, müssen diese Automobilproduzenten innovative Konzepte für ihren individuellen Unternehmenskontext entwickeln und erproben, ohne dabei den produktiven Betrieb zu beeinträchtigen. Die Fähigkeit eines Unternehmens gleichzeitig innovativ und effizient zu sein, wird als Ambidextrie bezeichnet. Insbesondere bei heutigen Innovationen basierend auf Künstlicher Intelligenz ergeben sich neuartige Fragestellungen, die exploriert und im Innovations- und Technologiemanagement berücksichtigt werden müssen.
Im vorliegenden Beitrag wird das Audi Production Lab (P‑Lab) als Praxisbeispiel für erfolgreich praktizierte organisationale Ambidextrie vorgestellt. Das P‑Lab bildet als eigenständige Organisationseinheit das Bindeglied zwischen Technologieexploration und Technologieverwertung in der Audi Produktion. Basierend auf einem praktischen Erfahrungsbericht wird in diesem Beitrag herausgearbeitet, welche neuen Fragestellungen und Herausforderungen Künstliche Intelligenz in das Ideen- und Innovationsmanagement induziert und wie diese bewältigt werden können. Der Schwerpunkt liegt dabei auf (1) der Identifikation von KI-geeigneten Fragestellungen, (2) der Entwicklung von KI-Proof-of-Concepts und (3) der Implementierung von KI-Lösungen in einen Produktivbetrieb.
Mit den Ergebnissen richtet sich dieser Beitrag an Technologie- und Innovationsmanager_innen, IT-Strateg_innen und Organisationsentwickler_innen, die Künstliche Intelligenz für ihr Unternehmen erschließen möchten. Die Ergebnisse liefern Einblicke in die industrielle Praxis und unterstreichen die Relevanz organisationaler Ambidextrie als zentraler Erfolgsfaktor für Innovationen in der Produktion.

1 Die Automobilproduktion im technologischen Wandel

Produzierende Unternehmen stehen unter stetigem Kostendruck und sind daher fortwährend bestrebt die Effizienz ihrer Wertschöpfungsprozesse zu steigern. Um wettbewerbsfähig zu bleiben ist es daher unabdingbar neue Technologien zu erschließen und diese nutzenbringend im Unternehmen einzusetzen. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat der technologische Fortschritt bereits zu mehreren industriellen Revolutionen geführt, in denen die Produktionsstätten durch Realisierung technologischer Innovationen tiefgreifend verändert wurden (Dwivedi et al. 2021). Mechanisierung, Massenproduktion und Automatisierung haben das heutige Produktionsumfeld geformt und Fertigungsprozesse sind nach den Prinzipien des Lean Manufacturing, Six Sigma und Total Quality Management standardisiert, optimiert und auf Effizienz getrimmt. Leistungskennzahlen wie Stückzahl, Zykluszeit, Stillstandszeit oder OEE (Overall Equipment Effectiveness) gelten als zentrale Steuergrößen in modernen Produktionssystemen. Heute investieren Unternehmen stark in digitale Technologien, zum Beispiel in den Bereichen Virtualisierung, Big Data, Cloud und Künstliche Intelligenz (KI). Durch die zunehmende Datenverfügbarkeit, steigende Rechenleistungen und Weiterentwicklungen im Bereich der Algorithmik werden insbesondere KI-Technologien seit einigen Jahren verstärkt industriell nutzbar. KI ermöglicht die Automatisierung von Funktionen, die bisher nur mit kognitiven menschlichen Fähigkeiten ausgeführt werden konnten; beispielsweise das Erfassen und Wahrnehmen der Umwelt oder auch das Problemlösen, Lernen und Entscheiden (Benbya et al. 2021).
Exemplarische Einsatzbereiche von KI in der Produktion sind die prädiktive Wartung von Maschinen, die Vorhersage von Störungen, die Automatisierung von Entscheidungen in der Produktionssteuerung, Materialdisposition, Qualitätsüberwachung oder auch die (teil-)automatisierte Prozessoptimierung. Diese generelle Anwendungsbreite von KI weckt sehr hohe Erwartungen (Winkler et al. 2019). Doch letztendlich können Unternehmen mit neuen (KI-)Technologien erst dann erfolgreich werden, wenn anfängliche Ideen zu Innovationen ausgearbeitet werden, die im realen Produktionsumfeld positiv auf die jeweiligen Unternehmensziele einzahlen. Dazu benötigen Unternehmen ein differenziertes Verständnis der technologischen Möglichkeiten und der damit verbundenen spezifischen Fragestellungen, wobei gleichzeitig die Kosten einer potenziellen Lösung nicht außer Acht gelassen werden dürfen (Canhoto und Clear 2020). Potenzielle Use Cases müssen in einem konkreten Fertigungskontext bezogen auf eine konkrete Aufgabe bewertet und mit alternativen Lösungsmöglichkeiten verglichen werden.
Daraus ergeben sich für produzierende Unternehmen zwei grundlegende Fragestellungen. Erstens, wie können sie sich organisatorisch aufstellen und strukturieren, um innovative Konzepte und Use Cases für ihren individuellen Unternehmenskontext zu entwickeln und zu erproben, ohne dabei den produktiven Betrieb zu beeinträchtigen? Zweitens, welche Fragestellungen müssen sie im Rahmen von KI-basierten Innovationen bearbeiten und explorieren, um wertstiftende und unternehmerisch verwertbare Innovationen hervorzubringen? Als Antwort darauf liefert der vorliegende Beitrag mit dem Audi Production Lab (P-Lab) ein Praxisbeispiel für erfolgreich praktizierte organisationale Ambidextrie im Innovationsmanagement im Kontext der Automobilproduktion. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: In Abschn. 2 wird das Konzept der organisationalen Ambidextrie eingeführt und dessen Relevanz für Produktionsinnovationen erläutert. In Abschn. 3 wird das Audi P‑Lab vorgestellt und portraitiert. In Abschn. 4 werden KI-spezifische Eigenschaften und damit einhergehende Herausforderungen in KI-basierten Innovationen skizziert; anschließend wird die Operationalisierung organisationaler Ambidextrie illustriert, indem die zentralen Innovationsaktivitäten des Audi P‑Labs im Zusammenhang mit KI-basierten Innovationen herausgearbeitet werden. Abschn. 5 fasst die identifizierten Erfolgsfaktoren KI-basierter Innovationen zusammen. Im abschließenden Abschn. 6 endet der Beitrag mit einer kritischen Diskussion und gibt Ausblick auf künftige Herausforderungen.

2 Produktionsinnovationen erfordern Ambidextrie

Für einen wertorientierten Einsatz neuer Technologien ist es für (fertigende) Unternehmen entscheidend sich mit neuen Technologien im unternehmensspezifischen Fertigungskontext und bezogen auf definierte Aufgaben und Fragestellung auseinanderzusetzen. So kann ein tiefgreifenderes Verständnis darüber erlangt werden, welche neuen Wertschöpfungsmechanismen durch die Nutzung von neuen Technologien in der Fertigung realisiert werden können. Denn der Hype rund um neue, heute insbesondere KI-basierte Technologien, kann schnell zu überhöhten Erwartungen1 führen, sodass Technologien allzu schnell zur Projektionsfläche unterschiedlichster Wünsche und Bedürfnisse werden. Das konkrete Problem im konkreten Kontext kann dabei schnell vernachlässigt werden. Die Exploration neuer Technologien sowie die Entwicklung und Erprobung neuer Innovationen für den Einsatz im hoch performanten Produktionsumfeld stellt für produzierende Unternehmen damit eine entscheidende strategische Fähigkeit dar und bildet einen differenzierenden Wettbewerbsfaktor.
Eine Möglichkeit die Exploration parallel zu den produktiven, auf Effizienz getrimmten Fertigungsprozessen zu organisieren, ist die sogenannte organisationale Ambidextrie. Ambidextrie ist ein weit verbreitetes und umfassend2 behandeltes Forschungsfeld in der Betriebswirtschaftslehre. Ambidextrie ([lat.]; ambo + dextera = Beidhändigkeit) beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens Exploration und Exploitation zeitglich und in ausgewogener Art und Weise zu betreiben (Kauppila 2010). Explorative Tätigkeiten umfassen die Erschließung und Erprobung neuer Technologien und der damit einhergehenden Veränderungspotentiale. Exploitative Tätigkeiten im Rahmen des Kerngeschäfts umfassen die Erwirtschaftung von Gewinnen sowie den Fokus auf Optimierung und Steigerung von Effizienzen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, beschreibt Ambidextrie das Vermögen eines Unternehmens sowohl bestehendes Wissen zu nutzen und zu verfeinern (Exploitation) als auch zeitgleich neues Wissen zu erzeugen, Wissensdefizite zu beseitigen bzw. neue Erkenntnisse durch geeignete Tätigkeiten (Exploration) aufzubauen (Turner et al. 2013). Die explorativen Tätigkeiten zielen demnach darauf ab das Problemverständnis zu erweitern und neue Erkenntnisse zu gewinnen, die dann das weitere Innovationsdesign informieren. So kann beispielsweise nachgewiesen werden, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen ein konkreter Use Case innerhalb der unternehmensspezifischen Rahmenbedingungen und Zielgrößen technisch und wirtschaftlich machbar ist (Abb. 1).

3 Praxisbeispiel: Das Audi Production Lab

Das Audi Production Lab (P-Lab) wurde 2012 im Ingolstädter Stammwerk der AUDI AG gegründet und bietet seither Infrastruktur und organisatorisch verankerte Start-up-Gedankenkultur für Innovationen im Kontext der Produktion (Audi 2022). Neue Produktionsinnovationen sollen dabei helfen die Effizienz, Ergonomie, Flexibilität sowie die Qualität der weltweiten Audi Produktionen zu optimieren. Das umfasst unter anderem die zunehmende Vernetzung und Virtualisierung der Shopfloor-IT sowie die Senkung der Fabrikkosten, beispielsweise durch Automatisierung und Integration von cloudbasierten Softwarelösungen. Hierzu erarbeitet das P‑Lab zusammen mit seinen Schnittstellenpartner_innen sowohl geschäfts- als auch technologiegetriebene Anwendungsfälle und ordnet diese in den größeren strategischen Kontext des Unternehmens ein. Ziel ist es neue Technologien zu identifizieren und diese dann in Form von Innovationen serientauglich in die produktiven Produktionsprozesse zu überführen (Audi 2022).
Das P‑Lab ist bei Audi eine Unterabteilung in der Technologieentwicklung im Bereich der Produktion und Logistik und beschäftigt sich mit neuen Trends und Technologien, die noch keine organisatorische Heimat haben. Durch die organisationale Nähe zum internen Kunden, also der Produktion, bekommen das Technologie- und Innovationsmanagement sowie damit einhergehende Investitionsentscheidungen bereits in einer sehr frühen Phase einen festen Platz auf der Agenda der Audi-Entscheidungsträger_innen. Dies fördert die frühzeitige Auseinandersetzung mit neuen Technologien sowie die Entwicklung und Erprobung von produktionsrelevanten Use Cases. Das P‑Lab arbeitet weltweit eng verzahnt mit Produktionsexpert_innen zusammen und unterstützt damit den übergreifenden Innovationsaustausch über alle Audi Produktionsstandorte. Außerdem arbeitet das P‑Lab mit zahlreichen externen Anbietern, Start-ups und Universitäten zusammen, um das Screening und Scouting neuer Technologien sowie den Wissensaustausch über die Unternehmensgrenzen hinweg zu fördern. So steigt die Zahl der heute rund 30 festen Mitarbeiter_innen im P‑Lab durch Einbindung temporärer Nutzer_innen und Projektbeteiligter um ein Vielfaches (Audi 2021).
Die Realisierung neuer technologischer Innovationen dient bei Audi nicht dem Selbstzweck, sondern muss letztendlich zu einer Wertrealisierung im produktiven Betrieb führen (Audi 2021). Das bedingt den Übergang von explorativen Aktivitäten zu verwertenden Geschäftsprozessen, also von der Idee bis zur Realisierung entsprechender Innovationen in der Produktion. Unter Berücksichtigung begrenzter finanzieller und personeller Ressourcen beinhaltet das Innovationsmanagement auch eine Priorisierung von Technologien und die Ressourcenzuweisung zu ausgewählten, besonders relevanten Projekten. Um das Wertpotenzial einer Technologie für Audi abzuschätzen und zu quantifizieren, ist das Prozess- und Erfahrungswissen sowie die fachliche Expertise der Produktionsexpert_innen fundamental. Umso wichtiger ist es die Expert_innen aus den Fachbereichen sowie potenzielle Nutzer_innen frühzeitig in die Innovationsaktivitäten einzubinden, was Audi mit einem internen (Technologie‑)Auftragsprozess sicherstellt.
In einer frühen Phase ist das Ziel des P‑Labs zunächst kein fertiges Produkt, sondern der Aufbau von Fähigkeiten und Wissen über geeignete Technologien, die Durchführung von Vorüberlegungen und die frühzeitige Validierung von potenziellen Anwendungsfällen. Außerdem werden Erkenntnisse zu prozessualen Anforderungen an eine potenzielle Serienlösung identifiziert. Dies ermöglicht die Bewertung von Use Cases mit einem höheren Reifegrad sowie eine genauere Kostenschätzung im Zuge der Gestaltung eines ganzheitlichen Technologie-Portfolios. Das Scheitern eines Versuchs ist dabei eingeplant und gilt als naturgemäßer Charakter der explorativen Phase, ebenso wie die kurzfristige Inbetriebnahme modifizierter Testaufbauten. Dieses explorative Vorgehen wäre in einer produktiven Umgebung nicht möglich und widerspricht der Logik eines stabilen, optimierten und fehlerfreien Produktivbetriebs (Audi 2021).

4 Von der Exploration zur Exploitation von KI-Technologien für die Audi Produktion

4.1 Herausforderungen KI-basierter Innovationen

KI ist heute ein allgegenwärtiges Schlagwort und steht als Sammelbegriff für verschiedene, universell einsetzbare Technologien, die die Automatisierung kognitiver Aufgaben ermöglichen (Davenport 2018; Stone et al. 2016). Die zugrundeliegenden KI-Technologien werden zunehmend wirtschaftlich nutzbar, was auf stetig steigende Rechenleistungen, algorithmische Weiterentwicklungen, steigende Datenverfügbarkeit sowie verbesserte Möglichkeiten des Datenaustausches zurückzuführen ist. Implementierte KI-Anwendungen nutzen hauptsächlich Methoden des Maschinellen Lernens (ML) (Engel et al. 2022; Lacity und Willcocks 2021). ML-Algorithmen lernen und verbessern sich auf der Grundlage von Daten und ermöglichen die automatisierte Ausführung zunehmend komplexer Aufgaben, beispielsweise für Vorhersagen, Diagnosen oder zur Mustererkennung (Jordan und Mitchell 2015; Kang et al. 2020).
Ein heute stark wachsender KI-Anwendungsbereich in der Produktion ist die KI-basierte Bildauswertung (Computer Vision), die laut Einschätzung von Expert_innen ein wichtiger Bestandteil der intelligenten Produktion der Zukunft sein wird. Computer Vision Systeme können – ähnlich wie Menschen – ihre Umwelt sehen und analysieren. Sie erkennen, verarbeiten und interpretieren visuelle Inhalte aus Bildern, Videos oder anderen visuellen Quellen und können damit verschiedenste Produktionsaufgaben automatisiert lösen. Anwendung finden diese KI-basierten Systeme beispielsweise zunehmend bei der Automatisierung von Sichtprüfungen und Qualitätskontrollen in den Fertigungs- und Montagelinien.
KI-basierte Innovationen bringen neue Herausforderungen mit sich, welche durch die neuartigen KI-Eigenschaften induziert werden und welche bei der Erarbeitung KI-basierter Innovationen (4.2) berücksichtigt werden müssen. Nachfolgend werden vier wesentliche KI-Eigenschaften aufgeführt, durch welche sich KI-Technologien von traditionellen IT-Technologien abgrenzen lassen (Engel et al. 2021). Für jede KI-Eigenschaft werden mögliche Implikationen auf Innovationsaktivitäten beispielhaft am KI-Anwendungsbereich Computer Vision skizziert:
  • Experimenteller Charakter: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die probabilistischen Ergebnisse eines KI-Systems, die nicht einer traditionellen Wenn-Dann-Logik folgen (Amigoni und Schiaffonati 2018). KI-basierte Innovationen erfordern daher ein zunehmend exploratives und iteratives Vorgehen. Test- und Versuchsaufbauten werden kurzfristig angepasst, wenn die Ergebnisgüte unzureichend ist. Ein Beispiel ist die Optimierung der Beleuchtung oder Veränderung von Kamerapositionen.
  • Kontextsensitivität: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die Tatsache, dass die Performance eines KI-Systems in einem bestimmten Kontext von den jeweiligen Eingabedaten desselben Kontexts abhängt (Lieberman und Selker 2000). Von Testversuchen in einer Laborumgebung kann daher nur bedingt auf die Leistungsfähigkeit einer KI-basierten Innovation im realen Produktionskontext geschlossen werden. Hier können zum Beispiel wechselnde Lichtverhältnisse oder Lichtreflexionen in der tatsächlichen Produktionsumgebung die Übertragbarkeit von Laborversuchen einschränken.
  • Lernanforderungen: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die Abhängigkeit eines KI-Systems anhand von datenbasierten Beispielen zu lernen. Daher benötigen insbesondere KI-Systeme, die auf überwachten Lerntechniken (Supervised Learning) basieren, sehr große Mengen an gelabelten3 und qualitativ hochwertigen Daten (Kang et al. 2020). KI-basierte Innovationen erfordern daher eine sehr starke Integration von Produktionsexpert_innen über einen längeren Zeitraum. Ein Beispiel hierfür ist die Einbindung von Fachexpert_innen beim Labeln von Bildern und im Rahmen der Erstellung eines repräsentativen Trainingsdatensatzes.
  • Black-Box Charakter: Diese KI-Eigenschaft bezieht sich auf die nicht triviale Erklärbarkeit der Datenverarbeitung eines KI-Systems, wodurch es schwierig ist nachzuvollziehen was genau zwischen der Dateneingabe und Datenausgabe eines KI-Systems passiert (Castelvecchi 2016). In KI-basierten Innovationen muss das Entscheidungsverhalten der KI-Algorithmen daher besonders sorgfältig mit dem Entscheidungsverhalten von Expert_innen abgeglichen werden. Ein Beispiel hierzu sind Grenzfalldiskussionen mit Expert_innen im Rahmen des Daten-Labelings.

4.2 Erarbeitung KI-basierter Innovationen

In diesem Kapitel werden die zentralen Innovationsaktivitäten des P‑Labs im Zusammenhang mit KI-basierten Innovationen herausgearbeitet. Zum einen wird damit die Operationalisierung organisationaler Ambidextrie (im Kontext der Produktion) illustriert; zum anderen wird verdeutlicht welche Aufgaben an der Schnittstelle zwischen Exploration und Exploitation bewältigt werden müssen (Abb. 2).

4.2.1 Wie können KI-geeignete Fragestellungen identifiziert werden?

Allzu schnell werden verschiedenste Wünsche und teils überhöhte Intelligenz-Erwartungen auf KI-Technologien projiziert, gerade so als ob diese Systeme ein zu lösendes Problem selbst definieren könnten. Die konkrete Problemlösung in einem konkreten (unternehmensrelevanten) Kontext kann dabei leicht vernachlässigt werden. Daher ist es bereits bei der initialen Problemdefinition entscheidend, vom unspezifischen KI-Begriff zu einer konkreten, betriebsrelevanten Fragestellung zu gelangen. Der Zweck der Technologie und die benötigte technologische Fähigkeit für den konkreten Anwendungsfall stehen dabei im Mittelpunkt. Das Audi P‑Lab verfolgt in dieser frühen Phase vier zentrale Aspekte:
  • Wissensaufbau: Über die gesamte Organisation hinweg bietet Audi seinen Mitarbeiter_innen unterschiedliche Grundlagen- und Aufbauschulungen zu KI und datenbasierten Technologien an. Damit wird auf breiter Ebene das organisationale Lernen gefördert und die Grundlage für individuellen Kompetenzaufbau geschaffen. Das P‑Lab steht im permanenten Austausch mit der Audi Akademie, dem unternehmenseigenen Zentrum für Kompetenzentwicklung und Qualifizierung, um Schulungsbedarfe für innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildungskonzepte abzustimmen. Anhand von Praxisbeispielen im betrieblichen Kontext wird der individuelle KI-Kompetenzaufbau in der Organisation sichergestellt; die Potenziale (und Nicht-Potenziale) von KI werden praxisnah vermittelt. Der kontinuierliche Wissensaufbau wird darüber hinaus durch externe Kooperationen gefördert, zum Beispiel im Rahmen von Forschungsprojekten, Promotionen und Abschlussarbeiten.
  • Mitarbeiterrotation: Regelmäßig rotieren Mitarbeiter_innen zwischen dem P‑Lab und den Kernbereichen der Produktion. Beispielsweise können interne Auszubildende temporär in das P‑Lab wechseln und so frühzeitig anwendungsbezogenes Wissen in technologischen Zukunftsfeldern aufbauen. Genauso können erfahrenen Produktionsexpert_innen in das P‑Lab rotieren, um ihr Erfahrungswissen im Innovations- und Technologiemanagement einzubringen. Im Gegenzug wechseln P‑Lab Mitarbeiter_innen mit ihren Innovationsprojekten in die jeweiligen Produktionsbereiche und begleiten ihre Innovationsprojekte kundennah bis zur Serienintegration.
  • Prozessorientierung: Die Erfahrungen zeigen, dass gute Problem-Lösungs-Paarungen nicht von selbst entstehen, sondern das Ergebnis eines strukturierten und wertorientierten Vorgehens sind. Hier steht die Analyse der Produktionsprozesse sowie die Abschätzung potenzieller KI-Wertbeiträge gemäß dem Credo „Was wäre, wenn?“ im Mittelpunkt. Ein Schlüsselfaktor ist die frühzeitige Einbindung von Produktions- und Prozessexpert_innen. In vielen Fällen kommen für die Lösung eines Problems grundsätzlich verschiedene Technologien in Frage. Bei manchen scheinbar KI-prädestinierten Use Case Ideen zeigt sich bei der weiteren Konkretisierung, dass entweder die Kernursache des zu lösenden Problems gar nicht klar (und objektiv) beschreibbar ist oder auch nicht-KI-Lösungen aus technisch-wirtschaftlicher Sicht eine Alternative darstellen. Um geeignete Problem-Lösungs-Paarungen für den Einsatz von KI-Technologien zu identifizieren, unterstützt das P‑Lab zusammen mit KI-Expert_innen und Domänenexpert_innen aus den Produktionsbereichen die Durchführung von interdisziplinären Screening-Workshops.
  • Hypothesenbildung: Für die Ausarbeitung eines KI-basierten Use Cases muss das produktionsrelevante Problem in eine KI-geeignete Fragestellung übersetzt werden. Zudem sind die zugrundeliegende Funktion und dazu benötigte KI-Fähigkeit zu spezifizieren. Sollen Zustände in der Produktion kontrolliert oder dokumentiert werden und sind diese Zustände überhaupt eindeutig bekannt und beschreibbar? Sollen Abweichungen identifiziert werden oder sonstige Schlussfolgerungen (aus vorhandenen oder neu zu erhebenden Daten) abgeleitet werden? Hierzu muss das Geschäftsproblem in der Produktion möglichst eindeutig und eng beschrieben werden. Darüber hinaus wird das vorliegende Problem sowie der Bedarf einer KI-basierten (Automatisierungs‑)Lösung im Rahmen einer Ursachenanalyse (Root-Cause-Analysis) auf den Prüfstand gestellt. Dies erhöht nicht nur das Problemverständnis, sondern dient auch als wertvolles Kommunikationsmittel zwischen Produktionsexpert_innen und Technologieexpert_innen.

4.2.2 Wie können KI-Proof-of-Concepts erfolgreich entwickelt werden?

Proof-of-Concepts (PoCs) sind für Unternehmen wichtig, um neue Erkenntnisse zu gewinnen oder neue Konzepte zu validieren, zum Beispiel im Rahmen von Testaufbauten, Simulationen oder Analysen. So können neue Technologien für den individuellen Kontext exploriert werden und zur Erzeugung von Anwendungswissen beitragen. Dieses Wissen hilft technologiebezogene Unsicherheiten zu überwinden und unbekannte Risiken zu identifizieren, die dann gezielt bearbeitet und aufgelöst werden können. Damit ist die erfolgreiche Durchführung von PoCs für Unternehmen eine entscheidende strategische Fähigkeit, die gerade in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umgebungen den entscheidenden Unterschied zwischen erfolgreichen und scheiternden Unternehmen ausmachen kann (Bennett und Lemoine 2014). Bei der Durchführung von KI-PoCs fokussiert sich das Audi P‑Lab auf vier zentrale Aspekte:
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Das P‑Lab bezieht bei der Entwicklung von KI-PoCs frühzeitig alle Schnittstellenpartner_innen in die PoC-Aktivitäten mit ein. So wird sichergestellt, dass der Fokus nicht nur auf der Technologie selbst liegt, sondern ebenso auf der Kompatibilität einer potenziellen Lösung mit dem organisationalen Kontext. Produktionsexpert_innen definieren den fachlichen Bedarf und quantifizieren den potenziellen Wertbeitrag einer KI-basierten Lösung. Zudem werden die Soll-Prozesse beschrieben und Szenarien zur Einbettung der Lösung in die Produktionsprozesse definiert. Die KI-Expert_innen übersetzen die fachlichen Anforderungen in mathematische Vorgaben (Hypothesen), wählen geeignete KI-Algorithmen aus und trainieren diese basierend auf den verfügbaren Daten. Softwareexpert_innen erstellen das zugehörige Softwareprodukt, in welches die KI-Komponenten einer KI-basierten Lösung eingebettet werden. Zusätzlich bedarf es Expert_innen der Produktions-IT, um (idealerweise automatisierte) Datenpipelines zu erschließen, sodass Daten nicht nur einmalig gesammelt werden, sondern die Machbarkeit frühzeitig im Rahmen eines seriennahen Settings bewertet und damit die Übertragbarkeit des PoCs in ein produktives Setting abgesichert werden kann. Je nach Anwendungsfall und Technologiebereich können noch weitere Fachexpert_innen und Schnittstellenkompetenzen hinzugezogen werden, wie zum Beispiel Optik- und Sensorikexpert_innen im Rahmen von Fragestellungen im Bereich der (KI-basierten) Bildverarbeitung.
  • PoC-Erfolgsdefinition: Der nicht-deterministische Charakter von KI-Algorithmen führt dazu, dass die erreichbare Performance (z. B. die Erkennungsrate eines bestimmten Prüfmerkmals) a priori nicht quantifiziert werden kann und daher die Erfolgsaussichten eines KI-gestützten Systems in der frühen Entwicklung vage bleiben. Ausprobieren, Lernen und Iterieren werden zu zentralen Entwicklungsparadigmen. Umso wichtiger ist es das Ziel eines PoCs von Anfang an klar zu definieren. Hierzu bedarf es objektiver (technischer) Erfolgs-Metriken, die für den Use Case relevant sind und mit den jeweiligen Domänenexpert_innen bzw. späteren Kund_innen einer KI-Lösung abgestimmt sind. Performance-Kriterien sind zum Beispiel Fehlerschlupf- und Pseudofehlerraten oder auch die Inferenzzeiten des Gesamtsystems. Ebenso kann es im PoC um den Beweis gehen, dass etwas technologisch überhaupt möglich ist oder definierte Kostengrenzen eingehalten werden können.
  • Datenorientierung: Die Grundlage für die Entwicklung eines KI-basierten Use Cases sind strukturierte oder unstrukturierte Daten, die die relevanten Merkmale und Ausprägungen eines Prozesses in hinreichender Qualität repräsentieren. Um von einem KI-PoC auf die Machbarkeit eines Konzeptes im realen Produktionskontext zu schließen, werden daher idealerweise bereits im PoC repräsentative Produktionsdaten verwendet. Das P‑Lab betreibt daher einen eigenen Server, der direkt auf das Produktionsnetz zugreifen kann. Die Erstellung einer ausgewogenen und vollständigen Datenbasis kann gerade im Kontext der Produktion sehr aufwändig und langwierig werden. Zum einen sind Bestandsdaten teilweise unvollständig bzw. uneinheitlich gepflegt. Zum anderen sind die Prozesse in der Produktion hoch optimiert, sodass Fehlerfälle unterrepräsentiert sind und eine schiefe Datenlage herrscht. Ebenso kann es vorkommen, dass Daten gänzlich unbrauchbar sind, wenn ihnen der Bezug zum Produktionsereignis fehlt und sie beispielsweise keinen Zeitstempel oder Teile-Bezug haben. Das kann dazu führen, dass das geplante PoC-Setup nochmal gänzlich neu definiert werden muss.
  • Daten-Labeling: Eine wichtige Aufgabe im Rahmen von KI-PoCs ist das Erfüllen der Lernanforderungen eines KI-Systems. Hierzu werden zunächst der Input und der Output des KI-Systems von Produktionsexpert_innen beschrieben, Datensätze werden gelabelt und gegebenenfalls mit weiteren Metadaten ergänzt. Dieser Prozess kann durch standardisierte Tools und standardisierte Prozessmodelle unterstützt werden, wie beispielsweise durch Daten-Labeling-Plattformen. Die Daten werden dann von verschiedenen Expert_innen unabhängig voneinander beurteilt und im Fall von Uneinigkeiten werden Diskussionen mit ebendiesen Expert_innen moderiert. Im Rahmen der systematischen Erfassung und Analyse der Produktionsdaten können bisher unentdeckte Schwachstellen oder Muster im Prozess identifiziert werden, was per se schon ein wertvoller Erkenntnisgewinn ist. Wenn mögliche Fehlereigenschaften und potenzielle Fehlerausprägungen ausreichend in den Daten repräsentiert sind, wird ein umfangreicher Grenzmusterkatalog erstellt. Hierbei werden geschäftsereignisrelevante Grenzfallentscheidungen in Fachgesprächen mit Expert_innen definiert und mit Beispielfällen dokumentiert (z. B. ab wann ein Kratzer als Beschädigung zu deklarieren ist). Sollten diese Entscheidungen nicht hinreichend eindeutig getroffen werden können, so kann es vorkommen, dass eine erneute Datensammlung mit verbesserter Hardware notwendig wird oder die PoC-Ziele gänzlich angepasst werden müssen.

4.2.3 Wie können KI-Lösungen produktiv implementiert werden?

Der Wert KI-basierter Innovationen wird erst durch deren produktive Nutzung realisiert, sodass diese nachhaltig im Unternehmen verankert werden müssen. Im Gegensatz zu klassischen IT-Lösungen fallen gerade bei der Entwicklung KI-basierter Lösungen nicht nur hohe Entwicklungskosten an, sondern auch fortlaufende Betriebskosten, die die (finanziellen) Vorteile einer KI-Lösung schnell aufbrauchen können. Die Berücksichtigung des produktiven Nutzungsszenarios und gerade auch die Übertragbarkeit von KI-Lösungen spielen daher bereits in der Entwicklungsphase eine wichtige Rolle. Im Audi P‑Lab werden bei Innovationen die nachfolgenden drei Aspekte frühzeitig berücksichtigt und mit den Schnittstellenpartner_innen abgestimmt:
  • Betriebskonzept: Für die Umsetzung und den Betrieb in der Produktion werden KI-Lösungen in die bestehende IT-Landschaft eingebettet; die zugehörigen Steuerungsmechanismen werden um das Management der KI-spezifischen Eigenschaften erweitert. Beispielsweise bleiben die KI-Lernanforderungen auch im produktiven Betrieb bestehen, sodass ein professionelles KI-Betriebskonzept die Performance der KI-Lösung überwacht, Modelloptimierungen verwaltet und Trainingsdaten längerfristig speichert. Bei der Entwicklung von KI-basierten Innovationen werden im P‑Lab daher schon in einer frühen PoC-Phase potenzielle Betriebskonzepte berücksichtigt. Hierzu gehört zum Beispiel die Berücksichtigung von unternehmensspezifischen DevOps-Anforderungen oder auch die vorzugsweise Nutzung von Tools und Frameworks, die von der IT-Sicherheit bereits zur Verwendung freigegeben sind.
  • Skalierbarkeit: Um das spätere Ausrollen von einmal entwickelten KI-Lösungen auf andere Werke und Standorte zu erleichtern, werden Skalierbarkeitsanforderungen bereits frühzeitig beim Systemdesign KI-basierter Innovation berücksichtigt. Zudem sollen für einen professionellen Betrieb eines KI-Systems in der Produktion die benötigten Daten zentral verfügbar gemacht werden. Hierzu setzt Audi auf eine digitale Produktionsplattform (DPP), die über den gesamten Volkswagen Konzern hinweg als industrielle Cloud zur Konsolidierung von Produktionsdaten dient. Für diese Plattform werden Standard-Funktionalitäten zentral entwickelt und bereitgestellt, sodass sie nicht in jedem Use Case neu erstellt werden müssen.
  • Nutzerbefähigung: Für den produktiven Betrieb und die Instandhaltung von KI-Systemen in der Produktion werden Bedienbarkeit und Interventionsmöglichkeiten in enger Abstimmung mit den Mitarbeiter_innen definiert. Hierzu wird beispielsweise ein Grundverständnis zu den notwendigen Technologien im Bereich der Datenübertragung und Datenmodellierung vermittelt. Zusätzlich werden die produktionsnahen Mitarbeiter_innen geschult und befähigt ein mögliches Fehlverhalten bzw. eine potenzielle Störung des KI-Systems zu erkennen und (gegebenenfalls) selbst zu beheben.

5 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird am Beispiel des Audi P‑Labs gezeigt, wie (organisationale) Ambidextrie in der hoch technologisierten Automobilindustrie realisiert werden kann: Das Audi P‑Lab ist das Bindeglied zwischen Idee und Serienfertigung (Audi 2021). Doch warum beschäftigt sich die AUDI AG so umfassend mit neuen Produktionsinnovationen und leistet sich hierfür seit über 10 Jahren eine eigene organisatorische Innovationseinheit? Nachfolgend werden drei grundlegende Erfolgsfaktoren zusammengefasst, mit welchen das P‑Lab die Audi-Innovationsfähigkeit in der Produktion im Sinne der organisationalen Ambidextrie fördert. Diese Erfolgsfaktoren können anderen produzierenden Unternehmen einen übergeordneten Orientierungsrahmen bieten:
  • Vernetztes Denken: Die Identifikation von Produktionsinnovationen erfordert zunehmend vernetztes Denken. Gerade bei daten- bzw. KI-basierten Innovationen entsteht der große Werthebel oftmals erst durch die übergreifende Vernetzung der vorhandenen Daten, wie zum Beispiel durch Vernetzung von Produktions- und Qualitätsdaten über den gesamten Fahrzeugproduktionsprozess hinweg. Diese Daten werden dann mit Hilfe des Erfahrungswissens und Prozessverständnisses der internen Expert_innen zusammengebracht – eine Transferleistung, die kein einzelner (externer) Lieferant von der Stange anbieten kann. Das vernetzte Denken sowie der abteilungs- und fachbereichsübergreifende Austausch wird durch die Zentralisierung der Innovationsaktivitäten im P‑Lab gefördert.
  • Organisatorisch geschaffener Freiraum: Die Entwicklung von Produktionsinnovationen erfordert organisatorisch geschaffenen Freiraum. Gerade der zunehmende Anteil digitaler (KI-basierter) Technologien ermöglicht neuartige, radikale Innovationen, die einen freien Denkraum und frische externe Impulse voraussetzen. Diese längerfristigen (strategisch relevanten) Innovationsthemen können in den operativen Planungs- und Produktionsabteilungen gegenüber dem dringlichen Tagesgeschäft, also „on the job“, nur schwer priorisiert werden. Durch die organisationale Entkopplung der Innovationsaktivitäten vom operativen Tagesgeschäft wird mit dem P‑Lab mehr Gestaltungsraum für radikale Innovationsansätze geschaffen.
  • Nachweis der Produktionsanforderungen: Die Implementierung von Produktionsinnovationen ist an hohe Anforderungen geknüpft. Neben den sehr hohen Verfügbarkeitsanforderungen müssen die hocheffizienten Produktionsprozesse der Automobilproduktion umfangreiche gesetzliche Nachweispflichten und Zertifizierungsauflagen erfüllen. Damit können neue Technologien und Lösungen für den produktiven Betrieb nicht „einfach mal auf den Markt gebracht“ werden, sondern müssen nach Maßgabe des Unternehmens verfeinert werden, ohne geschäftskritisch für die produktiven Wertschöpfungsprozesse zu werden. Das P‑Lab bietet eine geschützte Umgebung, in der demonstriert werden kann, dass innovative Lösungsansätze die notwendigen Prüf- und Freigabeprozesse erfüllen können. Das macht neue Technologien in der Organisation greifbar und leistet Überzeugungsarbeit bei internen Stakeholdern.

6 Ausblick und Fazit

Der technologische Wandel schreitet rasant voran und digitale Technologien stehen heute im Fokus vieler Innovationsprojekte in der industriellen Fertigung. Die Fähigkeit eines Unternehmens, einen guten Fit zwischen neuen Technologien und verwertenden Geschäftsprozessen in einem gegebenen organisatorischen Kontext herzustellen, kann dabei über Erfolg und Misserfolg entscheiden (Bednar und Welch 2020). Das Ziel ist eine Balance aus Effizienz und Innovationskraft, was als Ambidextrie zusammengefasst werden kann.
Mit dem vorliegenden Beitrag wird ein praktischer Erfahrungsbericht erfolgreich praktizierter organisationaler Ambidextrie am Beispiel des Audi Production Labs geliefert. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, welche neuartigen Herausforderungen KI in das Innovationsmanagement induziert und wie diese bewältigt werden können. Hierzu wurden drei zentrale Fragen thematisiert: (1) Wie können KI-geeignete Fragestellungen identifiziert werden? (2) Wie können KI-Proof-of-Concepts entwickelt werden? (3) Wie können KI-Lösungen produktiv implementiert werden? Zudem wurde die Operationalisierung des Ideen- und Innovationsmanagements anhand typischer Innovationsaktivitäten in Gegenwart KI-basierter Innovationen im Kontext der Produktion illustriert. Damit verdeutlicht der Beitrag, wie produzierende Unternehmen potenzielle Innovationspfade explorieren können, ohne dabei das eigene Kerngeschäft zu gefährden.
Der Fortschritt digitaler Technologien manifestiert sich nicht nur durch technologischen Fortschritt per se, sondern insbesondere durch die Anwendung und Implementierung technologischer Innovationen in den produktiven Geschäftsprozessen. Hierbei geht es nicht nur um technologische Aspekte, sondern vielmehr um die komplementäre Gestaltung von Menschen und Technologien im organisationalen Umfeld, um eine bestmögliche Kombination der menschlichen und maschinellen Fähigkeiten zu erreichen. Diese schnittstellenübergreifende Herausforderung können Unternehmen nur von innen heraus erfolgreich gestalten. Damit ist die digitale Transformation ein soziotechnischer Aushandlungsprozess, der in jedem Unternehmen individuell gestalten werden muss. Innovationskraft, Innovationskultur und Innovationsnetzwerke bilden entscheidende Wettbewerbsvorteile.
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Fußnoten
1
Vergleiche beispielhaft das „Hype-Cycle-Model“ von Gartner. Dieses Modell beschreibt, wie Technologien in Bezug auf die mit ihnen einhergehenden Erwartungen über die Zeit wahrgenommen werden (Dedehayir und Steinert 2016).
 
2
Einen Überblick über unterschiedliche Konzeptionierungen von Ambidextrie gibt Fojcik (2015).
 
3
Beim Labeling werden Daten mit weiteren Informationen kontextualisiert; diese Daten werden dann als Teil eines Trainingsdatensatzes verwendet, um einen KI-Algorithmus zu trainieren und Merkmale zu extrahieren (Benton 2020).
 
Literatur
Zurück zum Zitat Engel C, Ebel P, van Giffen B (2021) Empirically exploring the cause-effect relationships of AI characteristics, project management challenges, and organizational change. In: Ahlemann F, Schütte R, Stieglitz S (Hrsg) Innovation through information systems. WI 2021. Lecture Notes in Information Systems and Organisation 47. Springer, Berlin Heidelberg, S 166–181 https://doi.org/10.1007/978-3-030-86797-3_12CrossRef Engel C, Ebel P, van Giffen B (2021) Empirically exploring the cause-effect relationships of AI characteristics, project management challenges, and organizational change. In: Ahlemann F, Schütte R, Stieglitz S (Hrsg) Innovation through information systems. WI 2021. Lecture Notes in Information Systems and Organisation 47. Springer, Berlin Heidelberg, S 166–181 https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-030-86797-3_​12CrossRef
Metadaten
Titel
Organisationale Ambidextrie als Erfolgsfaktor für KI-basierte Innovationen in der Produktion: Das Audi Production Lab
verfasst von
André Sagodi
Publikationsdatum
14.03.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-023-00960-6

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