Vorliegender Beitrag beleuchtet das Demokratieverständnis der frühen experimentellen Sozialpsychologie und der entstehenden Gruppendynamik bei Kurt Lewin (1890–1946). Ausgehend von zwei zentralen experimentellen Settings – den Demokratie Experimenten (1936–1938) sowie der Food Habits-Studie (1942) – wird aufgezeigt, dass zwei heute mitunter als getrennt verstandene Traditionslinien Lewins – auf der einen Seite sein demokratiefördernder Ansatz sowie auf der anderen Seite die Anwendung gruppendynamischer Verfahren in der Wirtschaftswelt mit dem Ziel der Effizienzsteigerung – im Schaffen Lewins gleichursprünglich waren und sich als eng miteinander verwoben erweisen: Denn angesichts der Bedrohung der Demokratie durch Faschismus und autoritäre Systeme war es von wesentlicher Bedeutung, dass diese sich ihren Feinden gegenüber auch praktisch bewähren konnte. So entwarf die Lewin’sche Gruppenpsychologie zwischen 1936 und 1946 das Programm einer Effizienten Demokratie, in der sich partizipative und aktivierende Gruppenverfahren mit der sorgsamen, indirekten Steuerung dieser Gruppen durch „demokratische“ Leitungsfiguren verbanden.
Hinweise
Vorliegender Artikel basiert auf Forschungsarbeiten im Rahmen meiner Dissertation (2023). Alle im Artikel enthaltenen Übersetzungen englischer Originalzitate sind von mir.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
1 Einleitung
In den 1960er-Jahren ließen die Lewin-Schüler Ronald Lippitt und Ralph K. White ihre Mitwirkung an den berühmten Demokratie-Experimenten Revue passieren: Zwischen 1936 und 1940 hatten sie gemeinsam mit dem deutsch-jüdischen Psychologen Kurt Lewin (1890–1946) an der University of Iowa die Auswirkungen eines „demokratischen“, eines „autokratischen“ und eines „laissez-faire“ Führungsstils auf das Verhalten und die Atmosphäre von Kindergruppen untersucht, die sich nachmittags trafen, um zu basteln. Bis heute werden die Ergebnisse dieser wegweisenden Experimente in Managementliteratur und Organisationsentwicklung, aber auch in Pädagogik und Beratung aufgerufen, um die Vorzüge „demokratischer“, d. h. partizipativer Verfahren in Gruppen zu belegen.
Lippitt und sein Kollege White problematisierten im Rückblick ihre Entscheidung, die Begriffe „Autokratie“ und „Demokratie“ zur Charakterisierung der unterschiedlichen Führungsstile zu verwenden, anstatt diese etwa ganz neutral „Rolle 1“ und „Rolle 2“ zu nennen. Immerhin würden alle drei Führungsstile in demokratischen Gesellschaften praktiziert. Zudem seien die Begriffe, deren Verwendung ihnen Ende der 1930er-Jahre – die USA standen kurz vor dem Kriegseintritt – so „natürlich und passend“ erschienen war, äußerst umstritten: So viele unterschiedliche Bedeutungen und Werte prägten das Verständnis von „Demokratie“ und „Autokratie“. Gerade aber die von ihnen konstatierte „Unbestimmtheit“ der Konzepte habe sie dazu bewogen, diese mit einem ganz spezifischen Führungsstil- und Gruppenverhalten zu assoziieren, um so wenigstens „eine konkrete Bedeutung von Demokratie“ zu erzeugen (White und Lippitt 1960, S. 8).1
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Seither ist eine hitzige Diskussion um die Pionierarbeiten Lewins auf dem Feld der experimentellen Sozialpsychologie und Gruppendynamik im Gange. Diese dreht sich um die Frage, ob der von ihm zwischen 1936 und 1946 geprägte gruppendynamische Ansatz im Sinne einer Erziehung und Befähigung zur Demokratie – als „demokratische Re-education“ – oder vielmehr als „pseudo-demokratische“ Fortführung autoritärer Formen der Machtausübung zu verstehen sei. Als pseudo-demokratisch und potenziell manipulativ verstandene Verfahren im Gefolge Lewins haben umso vehementere Kritik auf sich gezogen, wenn sie im Kontext der Arbeitsorganisation in Fabriken, Unternehmen und Organisationen zum Einsatz kamen, wie etwa seit Beginn der 1930er-Jahre von der Human Relations-Bewegung propagiert.
Stellvertretend haben diese Debatte Ende der 1980er-Jahre der amerikanische Historiker William Graebner und Lewins Tochter, die Sozialpsychologin Miriam Lewin, geführt. Während Lewins Tochter auf die demokratische Grundüberzeugung ihres Vaters verwies, die seinen gruppendynamischen Ansatz tiefgreifend geprägt habe (Lewin 1987), erkannte Graebner im „demokratischen Führungsstil“ Lewins ein „demokratisches Social Engineering“: Eine „Methode sozialer Kontrolle“, die ihren tatsächlichen Zwangscharakter verschleiere und sich dadurch auszeichne, dass weniger ihre Ziele denn ihre Mittel demokratischer Natur seien (Graebner 1986, S. 148). Wenn nämlich demokratische Gruppenmethoden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der allgemeinen Hochphase des Social Engineering in den westlichen Gesellschaften (Etzemüller 2017), angewendet wurden, seien die Ziele meist schon von Sozialingenieuren vorab festgelegt und im Anschluss lediglich vermittelt worden. In diesem Fall, so Graebners Plädoyer, sei doch zu bevorzugen, dass die Autorität sich in ihrer Entscheidungsgewalt offen zu erkennen gibt und damit auch für die Gruppenmitglieder kenntlich, adressier- und angreifbar wird.
Noch heute findet diese Kritik ihren Widerhall, wenn die Anwendung gruppendynamischer Verfahren in der gegenwärtigen Arbeitswelt diskutiert wird. Den „demokratiefördernden Erwartungen“, die mit der Einführung partizipativer Verfahren und Teamarbeit verknüpft waren, werden „neue Konfliktszenarien und Zwänge“ entgegengestellt, die vormals durch „hierarchische Strukturen abgefedert waren“. Insgesamt falle die „Distanzierung vom Arbeitsplatz“ dadurch schwerer, „informelle Rückzugsmöglichkeiten“ entfielen zunehmend (König und Schattenhofer 2022).
Dass sich gerade Lewin mit der Problematik einer demokratischen Steuerung sozialer Prozesse befasste, erstaunt indes nicht weiter. 1933 vor den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland geflohen, war für Lewin der Glaube an Demokratie gleichbedeutend mit dem Glauben an die Vernunft selbst (Lewin 1948b, S. 83). Schon bald nach der Emigration in die USA wandte sich der jüdische Psychologe der Erforschung drängender gesellschaftlicher Phänomene zu, um schließlich zu einer der wichtigsten Gründungsfiguren der Sozialpsychologie zu avancieren: als Pionier des sozialpsychologischen Experiments, der Feldtheorie sowie als Begründer der bis heute wirkmächtigen Gruppendynamik. Lewin etablierte die Gruppe als eigenständiges, nicht individualpsychologisch zu untersuchendes Phänomen – als „Gestalt“ – und eröffnete es im Zuge dessen als Interventionsfeld.
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Lewins ‚demokratische Gruppenpsychologie‘ wird im Folgenden ausgehend von den berühmten und bis heute viel zitierten Experimenten zum demokratischen und autokratischen Führungsstil in den Blick genommen. Dabei möchte ich weniger die Frage diskutieren, inwiefern ihre Methoden und Verfahren als demokratisch, pseudo-demokratisch oder autoritär zu verstehen sind. Vielmehr zeigt der Artikel in einer historischen Rekonstruktion des gruppendynamischen Demokratieverständnisses auf, dass beide heute mitunter als getrennt verstandenen Traditionslinien im lewinschen Werk koevolutiv waren: Einerseits die dezidiert demokratiepolitische Tendenz, wie sie in Plänen für eine Re-eduaction Nazideutschlands zum Ausdruck kam und in den 1960er-Jahren als Mittel einer demokratischen Selbstumerziehung in Deutschland aufgegriffen wurde (Tändler 2012); andererseits der auf Effizienz ausgelegte und tendenziell sozialtechnische Einsatz gruppendynamischer Verfahren, etwa in der Arbeitswelt, z. B. in Organisationsentwicklung und Beratungsindustrie.
Vor dem Hintergrund der Bedrohung demokratischer Gesellschaften durch Faschismus und autoritäre Regime sowie einer auch inneramerikanisch von der Great Depression gekennzeichneten und als krisenhaft empfundenen Zwischenkriegszeit musste sich, so die hier vertretene These, die Demokratie Lewins Überzeugung nach in direkter Konkurrenz zu autoritären Systemen behaupten. Daher durfte sie sich nicht in abstrakter Rationalität und hehren Idealen erschöpfen, sondern war wesentlich durch ihren Erfolg, ihre Bewährung in der Praxis definiert (Lewin 1943a).2 Sie musste sich als robust erweisen: „[W]hen is democracy tough, and when is democracy that soft and wordy affair Hitler has in mind?“ (Lewin 1944a)3 – brachte Lewin 1944 in einer Ansprache für die Commission on Community Interrelations die Herausforderung auf den Punkt, der sich die Demokratie ausgesetzt sah. So wurden die partizipativen Verfahren demokratischer Gruppendynamik, die von ihr konturierten Handlungsspielräume und Wahlmöglichkeiten in pragmatischer Weise von Anfang an mit Überlegungen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit verknüpft: Ganz im Sinne einer effizienten Demokratie war eine zielgerichtete, wenngleich partizipative und die Gruppenmitglieder aktivierende indirekte Steuerung von Gruppenprozessen damit von Beginn an angelegt.
2 Ein demokratischer Führungsstil: Die „Demokratie-Experimente“
Nachdem Lewin angesichts der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 noch von Berlin in die USA flüchten konnte, nahm das Forschungsprogramm zu Führungsstilen und Gruppendynamiken 1936 an der Child Welfare Research Station der University of Iowa seinen Anfang. Als Absolvent der YMCA Training School hatte der Lewin-Schüler Lippitt bereits während seines Bachelorstudiums einschlägige Erfahrungen in der Arbeit mit Gruppen gesammelt und sich im Zuge dessen gefragt, wie „autokratisch“ man sich verhalten musste und wieviel „Demokratie“ man sich als Leiter einer Pfadfindergruppe erlauben konnte (White 1960). Im Rahmen seiner Masterarbeit wurde das erste Gruppenexperiment im Forschungsteam Lewins durchgeführt, das sich der Frage nach den unterschiedlichen Charakteristika von demokratischem und autokratischem Führungsstil und Gruppenverhalten widmen sollte.
Indem sie gruppendynamische Phänomene erschlossen und einer zielgerichteten Steuerung zugänglich machten, markieren die sogenannten Demokratie-Experimente den Beginn einer neuartigen Stoßrichtung des lewinschen Experimentalprogramms, das sich mit der Emigration in die USA explizit der „Lösung sozialer Konflikte“ (Lewin 1948a) zu verschreiben begann. Als Action Research bekannt geworden, wurde diese Agenda zunächst an der Research Station in Iowa, ab 1944 am von Lewin gegründeten Research Center on Group Dynamics des Massachussetts Institute of Technology (MIT) vorangetrieben und in zahlreichen Feldexperimenten erprobt.
Die sogenannten Demokratie-Experimente der Lewin-Schule stehen sinnbildlich für das Programm der noch jungen Disziplin der Sozialpsychologie, die sich mit Nikolas Rose als wahre Science of Democracy verstehen lässt. Anknüpfend an die Foucault’schen Gouvernementalitätsstudien hat Rose gezeigt, wie die Sozialpsychologie der 1930er und 40er-Jahre einen veritablen Komplex aus Experten, expliziten und impliziten Wissensformen ausbildete, mittels derer eine demokratische Form der Regierung4 organisiert, ausgeübt und legitimiert werden konnte (Rose 1998). Als Ansatzpunkt für ein demokratisches Social Engineering wurde die Kleingruppe bereits in den späten 1910er-Jahren entdeckt und eroberte in den 1930ern die Sozialwissenschaften (Graebner 1986 und Rose 1998). So stand die neuartige intersubjektive Entität der Gruppe neben der Meinungs- und Einstellungsforschung im Zentrum der entstehenden Sozialpsychologie der 1930er und 40er-Jahre in den USA (Jahoda 2007).
Indem die Gruppe als „society in microcosm“ (Graebner 1986) zwischen Einzelnem und Gesellschaft, zwischen persönlichem Freiraum und Anpassung, zwischen Individuum und sozialer Ganzheit vermittelte, war sie prädestiniert für die experimentelle Erprobung dezidiert demokratischer Techniken der Menschenführung, wie sie Lewin in Iowa und ausgehend vom MIT durchführte. Im Gegensatz zu ihrem ideenhistorischen Vorläufer, der amorphen und irrationalen Masse, eröffnete die Gruppe aufgrund ihrer überindividuellen, aber dennoch überschaubaren Sozialstruktur neuartige Möglichkeiten der Steuerung.
In dem ersten Gruppenexperiment des Teams um Lewin bastelten zwei aus je fünf bis sechs Schulkindern bestehende Gruppen unter der Anleitung Lippitts Masken. Ziel war es, den Effekt verschiedener Atmosphären auf das Verhalten der Kinder zu untersuchen. Während die elf Zusammenkünfte der einen Bastelgruppe in einer „demokratischen“ Atmosphäre (D-Gruppe) erfolgen sollten, fanden die Treffen der zweiten Gruppe in einer „autokratischen“ (A-Gruppe) statt. Lippitt fungierte selbst als Leiter und legte in der einen Gruppe einen „demokratischen“ und in der anderen Gruppe einen „autokratischen“ Führungsstil an den Tag.
Folgendermaßen ging Lippitt vor: Als autokratischer Leiter bestimmte er das komplette Programm der Kindergruppe; in der demokratischen Atmosphäre entschied die Gruppe selbst über ihre Vorgehensweise, unterstützt und ermutigt durch den Leiter. Bei dieser Gelegenheit kamen demokratische Entscheidungs- und Kommunikationstechniken zur Anwendung. Als demokratische Leiter gab Lippitt während des ersten Treffens einen Ausblick auf das gesamte Bastelvorhaben und bot bei technischen Fragen nach Möglichkeit zwei oder drei alternative Prozeduren an. In der A‑Gruppe hingegen diktierte er die verschiedenen Arbeitsvorgänge Schritt für Schritt, so dass in der Gruppe große Unklarheit über den weiteren Fortgang der Tätigkeit herrschte. Auch verfügte Lippitt, welche Aufgaben die Kinder mit wem durchführten; in der D‑Gruppe hingegen lag die Entscheidung über Aufgabenverteilung und Gruppenbildung bei den Kindern (Lewin und Lippitt 1938).
Auf diese Weise erzeugte Lippitt im Laufe der dreimonatigen Studie zwei deutlich unterschiedliche Verhaltens- und Interaktionsmuster in den Kindergruppen. Während in der D‑Gruppe eine kooperative und freundliche Zusammenarbeit überwog, beobachtete er in der A‑Gruppe alsbald eine aggressive Stimmung. Ein Jahr später setzten Lewin und Lippitt, nun unterstützt durch White, ihre Untersuchung demokratischer und autokratischer Gruppen in einer weiteren Experimentalreihe fort. In diesem Rahmen kam der Laissez-Faire-Führungsstil hinzu. Zudem wurden die Atmosphären der nun drei Kindergruppen durch einen Wechsel des Führungsstils im Experiment planvoll variiert – etwa von demokratisch zu autokratisch oder von laissez-faire zu demokratisch etc. (Lippitt 1938 und 1940).
So interessant Lewin Lippitts Masterarbeitsthema gefunden haben mag, eine wirkliche Begeisterung Lewins scheint in dem Moment entfacht worden zu sein, als dieser einen Zusammenhang der Geschehnisse im Labor mit den weltpolitischen Ereignissen außerhalb zu erkennen meinte. „It wasn’t the boys’ clubs that interested him“, spekulierte White im Nachgang: „It was the world and what would happen to the world given the kind of thing that Hitler represented.“ (White 1960) Erste Ergebnisse zu den Auswirkungen der Atmosphären in den zwei Kindergruppen deuteten nämlich darauf hin, dass in der autokratisch geführten Gruppe ein stark erhöhtes aggressives Verhalten vorherrschte: Es waren zwei Fälle aufgetreten, in denen sich die Kinder gegenüber einem Mitglied so lange ausgesprochen feindselig verhalten hatten, bis dieses die Gruppe verließ. In der demokratisch geleiteten Gruppe war eine solche Ausgrenzung nicht vorgekommen. Sie war im Gegenzug von einer kooperativen, gar „objektiven“ Atmosphäre charakterisiert und erwies sich hinsichtlich der Zufriedenheit ihrer Mitglieder als klar überlegen.
In dem Verhaltensmuster der A‑Gruppe aber erkannten Lewin und Lippitt eine klassische „Sündenbock-Situation“, die sie auch in Nazideutschland am Werk sahen. Ihrer Interpretation zufolge rief die dominante Position des autoritären Gruppenleiters bei den Kindern Aggression hervor, die kanalisiert wurde, indem schwächere Sündenböcke angegriffen wurden. Das attackierte Kind fungierte in dieser Deutung wie die verfolgten Juden als „Blitzableiter“ für die Frustration der Gruppe angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit gegenüber einem dominanten Leiter bzw. Diktator (Lewin 2009). Unversehens bot das Verhalten der Kinder eine sozialpsychologische Erklärung für die Verfolgung der Juden in Nazideutschland. Mit der Gruppe im Experiment hielt so auch die Welt Einzug ins Labor. Als „soziale ‚Systeme‘ in Miniatur“ (Lewin 2009) schienen Gruppen gesamtgesellschaftliche Phänomene abzubilden und machten es daher möglich, die drängenden Fragen der Gegenwart im Labor zu adressieren. Diese Überzeugung habe den Beginn von Lewins sozialpsychologischem Interesse markiert (White 1960).
Vor dem Hintergrund der Bedrohung demokratischer Gesellschaften durch Faschismus und autoritäre Regime konnten Lewin und Lippitt im Labor nun einerseits untersuchen, wie sich demokratische Interaktionsformen kultivieren ließen und das Programm einer demokratischen Re-education entwerfen. Wenn der demokratische Führungsstil Lippitts eine solch durchschlagende Wirkung auf die Interaktionen und das Verhalten der Kinder gehabt hatte, lag dann der Schlüssel für eine demokratische Umerziehung der Nazis in Deutschlands nicht in der Ausbildung vieler kleiner demokratischer Führungsgestalten? Könnte nicht ganz Nazi-Deutschland mit sich exponentiell vermehrenden demokratischen Leadern kulturell wieder aufgebaut werden? „It seems to be possible by training democratic leaders and leaders of leaders to build up a pyramid which could reach large masses relatively quickly.“ (Lewin 1943a, S. 172) So zumindest lautete die pragmatische Hoffnung Lewins.
Andererseits und mindestens ebenso entscheidend konnten sie im Experiment den Nachweis führen, dass die Demokratie der Autokratie gegenüber nicht nur moralisch überlegen war, sondern auch praktisch. So erwies sich ein weiteres Ergebnis der ersten Experimentalreihe als prägend für die nachfolgende Auseinandersetzung mit demokratischen Atmosphären und Führungsstilen: Lippitt hatte nämlich beobachtet, dass die Kinder in der D‑Gruppe motivierter waren und kreativer arbeiteten: „[M]ore creative and constructive work products emerged from the higher unity of the democratic life with its greater amount of objectivity and cooperativeness of interpersonal relationships.“ (Lippitt 1938, S. 209) Wichtiger noch: Entgegen aller Befürchtungen war ihr Output dabei nicht geringer als in der straff organisierten, hierarchischen A‑Gruppe, in der die Gruppenleitung Vorgaben und Entscheidungen bezüglich der Arbeitsabläufe und ihrer Gestaltung alleine traf.
Dieser Befund mag nicht allzu überraschend gewesen sein, hatte Lippitt sich in seinem Experimentaldesign doch explizit auf die berühmte Hawthorne-Studie bezogen, die Elton Mayo gemeinsam mit William J. Dickson und Fritz J. Roethlisberger zwischen 1924 und 1932 in den Werken der Western Electric Company durchgeführt hatte und die den Beginn der Human Relations-Bewegung markierte. Auch die Befunde der Hawthorne-Studie deuteten darauf hin, dass ein positives soziales Klima den Output der Fabrikarbeiterinnen positiv beeinflusste. Ausgehend von der klassisch psychotechnischen Frage, wie sich verschiedene Beleuchtungsintensitäten auf die Produktivität der Arbeiterinnen auswirkten, kristallisierten sich in der wegweisenden Studie die am Arbeitsplatz vorherrschenden zwischenmenschlichen Beziehungen als ausschlaggebend für Leistung heraus. So rückte erstmals die komplexe emotional-soziale Natur menschlicher Interaktionen am Arbeitsplatz in den Fokus und ihre Qualität wurde zu einem eigenen Produktivitätsfaktor erklärt (Jahoda 2007, S. 211 und Mayo 1960). Die freundliche und rücksichtsvolle Beziehung zwischen den Verantwortlichen der Studie und den Arbeiterinnen im Experimental Room habe, so Mayos Fazit, bei gleichzeitig größerem Wohlbefinden die Leistungskraft der Arbeiterinnen gesteigert (Mayo 1960, S. 74).
Hatte die Aufmerksamkeit industriepsychologischer Expertise zuvor den äußeren Arbeitsbedingungen gegolten, wie etwa der Beleuchtung oder der optimalen Taktung von Arbeitsabläufen, begann sie sich nun für das Verhältnis von Arbeitgebern und -nehmern zu interessieren. An die Stelle der gängigen, von Ingenieuren geprägten „Rhetorik der Rationalität“ trat, so Eva Illouz, in der Unternehmenswelt mit dem bei C.G. Jung ausgebildeten Psychologen Mayo ein Reden über zwischenmenschliche Beziehungen, das in einer therapeutischen Tradition stand. Ein neuartiger „emotionaler Stil“ wurde etabliert, der das Selbst und seine vielfältigen sozialen Beziehungen zum Gegenstand erhob und als charakteristisch für den „emotionalen Kapitalismus“ gilt (Illouz 2007, S. 28).5 Basierend auf den Arbeiten Lewins fand dieser emotionale Stil etwa in den Managementtheorien Douglas McGregors (1960) und dem hier propagierten partizipativen Führungsstil seinen Niederschlag.
Auch Lewin und Lippitt stellten in ihrer ersten Versuchsreihe fest, dass der demokratische Führungsstil im Vergleich mit einem autoritären Führungsstil weitaus besser geeignet war, um die „inneren Schichten“ des Subjekts zu erreichen und im Zuge dessen auch eine höhere Produktivität zu erzeugen. Während allzu direkte Aufforderungen Widerstand evozierten und dazu führten, dass sich das Kind zurückzog, stellten sich konsensuelle und partizipative Verfahren als zielführender heraus, wenn es darum ging, ein gemeinsames Projekt wie die Herstellung von Masken durchzuführen. Dass die derart angeleiteten Kinder nachhaltiger motiviert waren, wurde im Experiment überprüft, indem der Versuchsleiter kurzzeitig den Raum verließ: Während die Kinder in der A‑Gruppe ihre Tätigkeiten relativ rasch niederlegten, setzen die Kinder in der D‑Gruppe ihre Bastelarbeit fort. Eine verheißungsvolle Erkenntnis begann sich in den Demokratie-Experimenten abzuzeichnen: Ließ sich möglicherweise der Nachweis erbringen, dass demokratische Verfahren der Menschenführung nicht nur gesellschaftlich wünschenswert und moralisch höherwertig waren, sondern auch mindestens ebenso effektiv wie ihre hierarchische und autoritäre Konkurrenz?
Die Gelegenheit, diese These außerhalb des Labors und unter realen Bedingungen zu erhärten, sollte sich für Lewin bald im Rahmen einer Studie zur Änderung von Ess- und Kochgewohnheiten ergeben, die er 1942 gemeinsam mit der Kulturanthropologin Margaret Mead in Iowa durchführte. Schon von den Zeitgenossen wurde gerade Lewins Food Habits-Studie als wegweisend erkannt (Murphy 1967) ebenso wie sie Anlass für lautstarke Kritik bot (Horkheimer 1996). Die Potenziale einer zugleich demokratischen und effizienten Steuerung von Gruppen mittels Partizipation, Diskussion und sorgsam von der Gruppenleitung gerahmten Entscheidungsprozessen erprobten Lewin und sein Team anschließend ebenfalls in verschiedenen Studien in den Harwood-Fabriken. Auf diese Weise hofften sie, Zweifel auszuräumen, dass demokratische Gruppenmethoden bloß in sehr begrenzten Situationen erfolgreich seien – etwa dem freundlichen Setting einer Kinderspielgruppe, wie in den Demokratie-Experimenten. Dass sie aber auch in einer „tough situation such as an industry requiring high efficiency“ (Lewin 1944b, S. 169f) zielführend eingesetzt werden konnten, zeigte die Food Habits-Studie erstmalig auf. Sie lässt sich damit als Markstein einer neuartigen sozialwissenschaftlich-praktischen Expertise verstehen, die versprach, sozialen Wandel kontrolliert herbeizuführen und zu lenken.
3 Demokratisches Change Management: Die Food Habits-Studie
„It was all a new, strange enterprise.“ (Mead 1967, S. 4) Mit diesen Worten erinnerte sich daher auch Mead an das bahnbrechende Change Experiment von 1942 zurück. Im Auftrag des National Research Council – einer während des Ersten Weltkriegs gegründeten Forschungseinrichtung, die der Regierung in Kriegsfragen beratend zur Seite stehen sollte – animierte sie in Kooperation mit Lewin eine Gruppe amerikanischer Hausfrauen dazu, ihren Konsum von Innereien signifikant zu steigern. Angesichts einer potenziellen kriegsbedingten Fleischrationierung galt es, Hausfrauen an eine alternative Diät heranzuführen: Indem mehr Innereien – hearts, kidneys und brains – ihren Weg auf Speisepläne und Küchentische fanden, sollte eine ausreichende Versorgung der Gesellschaft mit Proteinen sichergestellt werden (Lewin 1943b). Analog zu der Versuchsanordnung der Demokratie-Experimente führte das Team um Lewin den Versuch mit zwei getrennten Gruppen durch: Neben einer „demokratisch“ geleiteten Hausfrauengruppe, in der Gruppendiskussionen und -entscheidungen über die Integration von Innereien in den Speiseplan stattfanden, wurde eine weitere Gruppe untersucht, in der eine Expertin den Hausfrauen bloß einen Vortrag hielt.
Das Change Experiment von Lewin und Mead stellte einen Erfolg auf ganzer Linie dar. Im Gegensatz zu den Hausfrauen, denen ein Vortrag top-down gehalten worden war, steigerten die Hausfrauen der demokratisch geleiteten Gruppe ihren Nierenkonsum beträchtlich: 52 % der Teilnehmerinnen servierten in den Folgewochen Innereien gegenüber schwachen 10 % in der Vortragsgruppe. Über die Hälfte der Teilnehmerinnen der demokratisch geleiteten Gruppe bereiteten ihren Familien im Anschluss Innereien zu. Und besser noch: Sie taten dies aus eigenem Antrieb, wie Lewin betonte. Die Initiative zur Gewohnheitsänderung habe bei der Gruppe gelegen, kein Versuch „die Gruppe durch aufdringliche Verkaufsgespräche zu manipulieren“ sei durch den Gruppenleiter unternommen worden (Lewin 1943b, S. 63).
Die wegweisende Studie erfüllte damit das ambitionierte Ziel, wie es das Committee on Food Habits ausgegeben hatte, nämlich: „die wirksamsten Mittel und Wege zu finden, um die Gewohnheiten den Bedürfnissen anzupassen und die Menschen dazu zu bringen, sich das zu wünschen, was sie brauchen.“ (Guthe 1943, S. 10) Das Experiment verhieß insofern eine effiziente Form der Verhaltenssteuerung, als es Hausfrauen dazu brachte, die von dem Forschungsteam erwünschten Ziele als ihre eigenen zu verstehen, eben aus freien Stücken dasjenige kaufen und kochen zu wollen, was die amerikanische Gesellschaft im Krieg aus ernährungsphysiologischer Perspektive vermeintlich benötigte.
Wie genau aber war es in letzterem Fall gelungen, in Gruppen des Roten Kreuzes organisierte Hausfrauen davon zu überzeugen, Essen zuzubereiten, dem sie bisher zögerlich bis rundheraus ablehnend gegenübergestanden hatten? Das gute Resultat verdankte sich dem Umstand, dass Lewin das in den Demokratie-Experimenten entwickelte Repertoire demokratischer Gruppenmethoden entscheidend weiterentwickelt hatte. Ein neues Verfahren, und zwar die Democratic Group Decision Method, die die in den Demokratie-Experimenten erprobte Gruppendiskussion ergänzte, erwies sich dabei als zentral: Im Anschluss an einen „free interchange of ideas“ in der Gruppendiskussion sorgte nämlich erst die anschließende Entscheidung einer jeden Hausfrau in der Gruppe, ob sie den neuen Lebensmitteln zukünftig eine Chance geben werde, für einen „freezing effect“, der das neue Wissen verfestigte und in den Bereich der Handlungsrelevanz überführte (Lewin 1943b, S. 55, 62).
In einem genau konzertierten, einem Skript folgenden Zusammenspiel zwischen Expertenintervention und demokratischer Gruppenleitung kamen die Hausfrauen in der Diskussion allmählich an den Punkt, neue Essgewohnheiten in Erwägung zu ziehen. Nachdem eine Ernährungswissenschaftlerin über geeignete Zubereitungsweisen von Innereien aufgeklärt hatte, verteilte sie Rezepte, die die von den Haufrauen geäußerten Vorbehalte gegenüber diesen Lebensmitteln ausräumen sollten. Anschließend wurde die Gruppenentscheidung durchgeführt: Via Handzeichen waren die Frauen gebeten, verbindlich anzugeben, ob sie bereit seien, Innereien zu probieren, während die Gruppenleitung den Wunsch äußerte, dass sie wenigstens einem der Lebensmittel eine Chance geben sollten. Abschließend diskutierten die Hausfrauen verschiedene, auch von ihnen selbst bereits erprobte Zubereitungsmethoden der Innereien und entschieden, auf welche Art und Weise sie der Ernährungswissenschaftlerin ihre (Miss‑)Erfolge in der Einführung des neuen Essens zurückmelden wollten. Die Aussicht eines „follow-ups“ in den darauffolgenden Wochen fungierte nochmals als Ansporn für eine tatsächliche Umsetzung. Indem Gruppen „demokratisch“ geleitet wurden, Gruppendiskussionen führten und -entscheidungen fällten, erprobte das Experimentaldesign der Food Habits-Studie so erstmalig einen bis heute wirkmächtigen Change Management-Ansatz.
Da die Gruppenentscheidung den zuvor in der Diskussion geweckten Wunsch nach Ernährungsumstellung in eine klar formulierte Zielvorgabe mit bindendem Charakter für die Teilnehmerinnen überführte, war sie innerhalb des Programms einer Efficient Democracy so bedeutungsvoll: „Discussions without decisions do not make for efficient democracy“ (Lewin 1944b, S. 197), resümierte Lewin, denn erst „after a decision the person has committed himself to follow one path“ (1943b, S. 64). Die demokratische Technik der Gruppenentscheidung verhieß, jedwede Art von Expertenwissen reibungslos und konsensuell in Alltagshandeln zu übersetzen. Damit stellte sie einen Schlüsselmoment für Verfahren und Techniken eines dezidiert demokratischen Social Engineering dar. „Methods similar to this“, so Lewin hoffnungsvoll in einem internen Memo an das Committee on Food Habits, „may prove to be an efficient means for democratic action in various fields and may provide a better channel for the much needed translation of expert knowledge into social action.“ (Lewin 1942, S. 5)
Ausgehend von dem Experiment mit den Hausfrauen und der darin erprobten Gruppenentscheidung entwickelte Lewin das bekannte Drei-Phasen-Modell von Veränderung, welches bis heute in Change Management-Prozessen zur Anwendung kommt und am Anfang von Theorien zur Organisationsentwicklung steht (Burke 1987; Burnes 2007 und Cooke 2016). Das lewinsche Change Management-Modell etablierte den allgegenwärtigen Dreischritt Unfreezing, Moving und Freezing of Group Standards, den Lewin in seinem Eröffnungsartikel der ersten Ausgabe des soeben in Kooperation mit dem Londoner Tavistock Institute gegründeten Journal Human Relations einem größeren Publikum vorstellte. Mithilfe dieser Vorgehensweise sollte sozialer Wandel zukünftig planmäßig herbeigeführt und verstetigt werden können.
Bereits 1944 hatte Lewin dieses Modell dargelegt und das Gruppenleben dabei in Anlehnung an Wolfgang Köhler und dessen Übertragung des Konzepts aus der Physik als quasi-stationären Prozess aufgefasst. Gewohnheiten stellten in der feldtheoretischen Sichtweise das Resultat einer spezifischen Konstellation konfligierender Kräfte dar, die sich auf einem bestimmten Level eingependelt hatten (Lewin 1944c, S. 19). Solche sozialen Standards tendierten Lewins Auffassung nach dazu, sich nach einer Weile herauszubilden, zu verfestigen und dergestalt zu einer Quelle des Widerstands für Veränderungsprozesse zu werden (Lewin 1947a, S. 32). Sollte also in nachhaltiger Weise Wandel erzeugt werden, sollten soziale Prozesse langfristig in eine andere Richtung fließen, musste das quasi-stationäre Equilibrium zunächst verflüssigt werden, um dann auf einem neuen Level wiederhergestellt und fest etabliert zu werden (Lewin 1944c, S. 20).
Mit der experimentellen Kleingruppe und ihres Settings hatte die Action Research das passende „Flussbett“ gefunden, das es für Fragen des praktischen Social Steering zu formen suchte (Lewin 1947a, S. 14). Die Gruppe als soziale Figuration bildete aufgrund ihrer Überschaubarkeit sowie der engen Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander den bevorzugten Ansatzpunkt für Interventionen. Zum einen konnte das Individuum in der Kleingruppe direkt angesprochen und so aktiviert werden, zum anderen profitierte der Gruppenansatz von den angenommenen Verstärkungseffekten innerhalb von Gruppen, in denen die Ansteckungslogik der Massenpsychologie ihre Fortführung fand. Die Standards und Werte der Gruppe erhielten einen eigenständigen Wert, sie übten einen Konformitätsdruck aus und fungierten dergestalt als zentrales Kraftfeld, das die Einzelnen „im Einklang mit den Standards der Gruppe“ hält und so das erfolgreiche Change Management verhindern oder begünstigen kann (Lewin 1947a, S. 33).6
So erging es auch den Hausfrauen, die von der Group Decision Method explizit als Mitglied einer experimentellen Gruppe angesprochen wurden. Lewin nahm an, dass das Individuum ungern zu sehr von den „Standards der Gruppe“ abweiche und daher eher bereit sei, sein Verhalten zu ändern, sobald die Gruppe sich ändere (1947b, S. 337). Zwar entschied jede einzelne Hausfrau für sich, ob und welche Innerei sie probieren wollte, aber „die Gruppe gibt den Anreiz für die Entscheidung, erleichtert und verstärkt sie.“ (Lewin 1943b, S. 63) Change Experimente sind daher gut beraten, auf die Kultur der Gruppe zu zielen, statt bei der einzelnen Person anzusetzen.
Es erstaunt kaum, dass in einem Briefwechsel zwischen Adorno und Max Horkheimer der Vorwurf laut wurde, Lewin und sein Team würden mit ihrer neuartigen Gruppenpsychologie einer „rapide[n] Ausschaltung des Subjekts“ Vorschub leisten (Horkheimer 1996, S. 606). So mokierten sich die zwei führenden Köpfe der Frankfurter Schule im Exil, die mit Lewin in unterschiedlichen Projekten in Austausch standen, über das „konkrete[] Denken“ der modernen Psychologie, wie sie Lewin in der Food Habits-Studie begründet habe. „Fleischermeister“ hätten diese Art von Psychologie angeregt, die ihren Gegenstand, nämlich die Menschen, als „Viehherden“ begreife, die stets dem nächsten Leithammel hinterherliefen (Horkheimer 1996, S. 607). Und in der Tat, auch Lewin hielt in einem unveröffentlichen Manuskript von 1946 seine Überzeugung fest, wonach er langsam die Vorstellung aufgeben würde, dass Menschen „fixed entities with rigidly defined properties“ seien. Vielmehr begriff er sie zunehmend als „entities whose conduct may vary widely in line with the social atmosphere (situation) in which they are placed.“ (Lewin 1946, S. 9)
4 Schluss: Eine effiziente Demokratie
Dass sein pragmatischer Ansatz für ein demokratisches Management von Gruppen im Dienste einer effizienten Demokratie Anlass zu Kritik gab, war Lewin nicht entgangen. Der moralischen Ambivalenz solcher „efficient forms of democratic social management“ (Lewin 1947c, S. 153), wie sie mit den Hausfrauen in Iowa erstmalig erprobt wurden, war er sich bewusst. Nicht umsonst sah sich Lewin genötigt, mehrmals darauf hinzuweisen, dass die Hausfrauen nicht manipuliert worden seien. Nicht ohne Grund verwies der Sozialpsychologe auf die große Spanne zwischen Strafandrohung und „freier Wahl“, zwischen Manipulation und Aufrichtigkeit, auf der sich Techniken und Verfahren, Menschen zu beeinflussen, ansiedeln ließen. Hier die richtige Balance zu finden, sei eine komplexe Angelegenheit. Es sei keineswegs leicht, das von ihnen in der Food Habits-Studie erprobte Verfahren in der kurzen Zeit von 45 Minuten durchzuführen, ohne die Gruppe zu manipulieren. Gründlich müsse während der Durchführung darauf geachtet werden, dass die richtige Gruppenatmosphäre kreiert, ein klarer Führungsstil zur Anwendung komme und die Essensexpertin zum rechten Zeitpunkt eingesetzt werde (Lewin 1943b, S. 55).
Diese Ausführungen Lewins in der Veröffentlichung der Food Habits-Studie können jedoch nicht über eine fundamentale Neuerung hinwegtäuschen: Im Gegensatz zur demokratischen Gruppe in den Demokratie Experimenten, in der noch prinzipielle Offenheit über das zukünftige Vorgehen geherrscht hatte,7 existierten in der soziotechnischen Intervention mittels demokratischer Gruppen keine echten Wahlmöglichkeiten mehr. Ging es doch darum, wie Graebner (1986) 40 Jahre später anmerkte, eine vorab bestimmte Vorgabe – die Integration von Innereien in den Speiseplan – umzusetzen. Obwohl dabei dezidiert als demokratisch verstandene partizipative und aktivierende Techniken zum Einsatz kamen, verdankte sich deren durchschlagende Wirkung gleichzeitig der sorgfältigen Einrichtung sozialer Kräftekonstellationen innerhalb der Gruppen durch versierte Sozialingenieure bzw. Leitungsfiguren. Lewin betonte zwar, dass er keine „social science ‚technocracy‘“ vertrete (Lewin 1948b, S. 213). Den Psychologen war jedoch, ganz im Sinne einer leistungsstarken, widerstandsfähigen Demokratie, an einer möglichst wirkungsvollen soziotechnischen Steuerung gelegen.
Lewin selbst benannte den historischen Einsatz seines Plädoyers für eine effiziente Demokratie, als er 1944 in einem Aufsatz schrieb: „The gospel of inefficiency of democracies has been preached and believed not only in Nazi Germany. We ourselves are somewhat surprised to see the democratic countries execute this war rather efficiently.“ (1944b, S. 196) Wenn eine Demokratie sich im Krieg als effizient erweist, geht es in Lewins Augen also um nicht weniger als ihr Bestehen in direkter Konkurrenz mit autokratischen, faschistischen Regimen. Es läuft auf eine Frage des persönlichen und politischen Überlebens hinaus, dass Demokratien in der Lage sind, Kriege effizient und rational zu führen sowie zu organisieren.
Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass Lewin und Lippitt in den Demokratie-Experimenten Kindergruppen untersuchten, die einer arbeitsförmigen Tätigkeit nachgingen. Die demokratische Atmosphäre, so würden sie aufzeigen, entspricht der adäquaten Atmosphäre einer Leistungsgesellschaft. Dementsprechend hielt auch Lippitt fest, dass in der D‑Gruppe „Arbeitsfähigkeiten“ im Gegensatz zur autokratischen Gruppe „den eindeutigsten Weg darstellten, zu Status zu gelangen“. (Lippitt 1938, S. 197) Pragmatische Kategorien wie Leistung und Effizienz wären somit neben den Werten der Vernunft und der Gleichheit Komponenten einer demokratischen Gesellschaft, wie sie der Forschungszusammenhang um Lewin entwarf.
Lewin und sein Team machten sich ab Beginn der 1940er-Jahre vermehrt daran, sehr spezifische gruppendynamische Programme für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche zu entwerfen. Dabei boten sie eine ganz praktische Definition demokratischer Verfahren an: Was Demokratie technisch gesehen bedeute, so Lewin, müsse in jeder Organisation mit Blick auf deren spezielle Ziele bestimmt werden (Lewin 1944b, S. 200). Auch sein Schüler Alex Bavelas betonte, dass der von ihm angewandte demokratische Führungsstil nicht aus einer normativen Bestimmung oder theoretischen Herleitung, wie ein demokratischer Führungsstil aussehen solle, hervorgegangen sei, sondern indem Bavelas die besten Bedingungen für eine effiziente Gruppentätigkeit sowie für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitglieder berücksichtigt habe (Bavelas 1942).8 „Today, more than ever before, democracy depends upon the development of efficient forms of democratic social management“ (Lewin 1947c, S. 153) – so lautete das Credo des späten Lewin. Und genau hier durften auch einmal pragmatische Fleischermeister ans Werk gehen.
Interessenkonflikt
N. Binder erklärt, dass keine Interessenskonflikte bestehen und keine finanzielle Förderung, keine Anstellung/Beschäftigung, keine finanziellen oder nicht-finanziellen Interessen zu berichten sind.
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1960 benennen die Autoren immerhin vier Grundprinzipien der Demokratie – „people’s rule, freedom, responsibility to cooperate, and concern for the individual“ –, über die zumindest „on the verbal level“ ein ermutigender Konsens herrsche. Im Gegenzug konstatieren sie umso mehr Uneinigkeit, sobald es um die Umsetzung in demokratische Praxis gehe, vgl. S. 12.
So hätte man sich im Deutschland der Weimarer Republik zur „freiesten Verfassung der Welt“ gratuliert, aber dabei missachtet, dass eine starke Führung sowie Anwendung der politischen Macht durch die Mehrheit wesentliche Züge der Demokratie seien. Daher sei man letztlich gescheitert, vgl. ebd.
Für die CCI führten Lewin und sein Team ausgehend vom Research Center on Group Dynamics am MIT zahlreiche Studien durch und untersuchten, wie sich eine demokratische Integration angesichts von rassistischen Vorurteilen und diskriminatorischen Praktiken gegenüber religiösen und ethnischen Minderheitsgruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft gewährleisten ließ. Ausführlicher zu den Versuchen und Studien für die CCI siehe Marrow (1977) und Binder (2023, Kap. IV).
Mit dem Begriff der Regierung (gouvernement), wie er hier verwendet wird, sind ausdrücklich nicht der Aufgabenbereich staatlicher Administration oder die komplexen Beziehungen zwischen politischem Personal, Beamten, Bürokraten usw. bezeichnet. Er meint mit Michel Foucault vielmehr „das planvolle Einwirken auf das Verhalten anderer und das eigene Verhalten“. Regieren ist nach dem Vorbild frühchristlichen Pastoralmacht, wie sie Foucault in seiner Geschichte der Gouvernementalität untersucht, als indirekte Form der Menschenführung zu begreifen. Sie operiert nicht über Anordnung oder Strafmaßnahmen, sondern wirkt stimulierend, indem sie Handlungsspielräume konturiert und Wahlmöglichkeiten eröffnet (Bröckling 2017; Foucault 2004a, b).
Unter dem „emotionalen Kapitalismus“, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausbilde, versteht Illouz eine Kultur, „in der emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken sich gegenseitig formen“. Während Affekte und Gefühle einerseits zu einem „wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens“ würden, werde andererseits das emotionale Leben der „Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse“ unterstellt (S.13).
Aus diesem Grund traf sich die D‑Gruppe immer vor der A‑Gruppe. Die A‑Gruppe konnte dann die in der D‑Gruppe getroffenen, nicht antizipierbaren Entscheidungen übernehmen, um so die Vergleichbarkeit der Gruppenaktivitäten zu gewährleisten: „The democratic group chose its activities freely. Whatever they chose the autocratic group was then ordered to do.“ (Lewin 1948c, S. 75).
Diese Vorstellung einer sozialorganisatorisch funktionalen, effizienten Demokratie war gleichwohl ebenso normativ aufgeladen, was nicht zuletzt, wie Robert Sears anmerkte, in der „autokratischen Art, mit der Lewin auf der Demokratie beharrte“ (1967), zum Ausdruck kam.