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2017 | Buch

Pegida als Spiegel und Projektionsfläche

Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Der Band behandelt erstmals systematisch die Wechselwirkungen zwischen Pegida und anderen gesellschaftlichen Instanzen. Denn die Bewegung lässt sich nicht hinreichend aus der sozialen Herkunft oder der Mentalität der Demonstrierenden verstehen.Die Analyse von Diskursen, Symboliken und Konfliktlagen zeigt widersprüchliche Abgrenzungen und Bezugnahmen zwischen Pegida, Parteipolitik, Bildungsträgern, Medien und Expert*innenkultur, die im Kontext weitreichender Krisenkonstellationen untersucht werden. Das Verhältnis der Entscheidungs- und Deutungseliten zu anderen Bevölkerungsteilen oder die strukturelle Krise der Repräsentativdemokratie spielen dabei ebenso eine Rolle, wie journalistische und sozialwissenschaftliche Reaktionen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Pegida als leerer Signifikant, Spiegel und Projektionsfläche – eine Einleitung
Zusammenfassung
Als der Herausgeber dieses Bandes am 5. und 6. Dezember 2014 ein Blockseminar an der Leuphana-Universität in Lüneburg zum Problemfeld von Rassismus und Wohlstandschauvinismus im Kontext jüngster gesellschaftlicher Transformationen mit besonders anschaulichen und aktuellen Beispielen beleben wollte, löste das nur Irritation aus, denn wer oder was war ‚Pegida‘? War im gewohnten Arbeits- und Lebensumfeld in Dresden eine zivilgesellschaftliche und akademische Auseinandersetzung mit den seit dem 20. Oktober 2014 jeden Montag in stetig wachsender Zahl demonstrierenden ‚Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ längst unvermeidbar geworden, gab es im Rest der Republik noch kaum mediale Resonanz für dieses lokale Phänomen.
Tino Heim
Pegida: Entwicklung einer rechten Bewegung
Zusammenfassung
„Guten Abend Dresden“ – pünktlich zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit und nach dem rituellen Abspielen der Pegida-Hymne schallen die Worte von der Bühne. Ab dem späten Nachmittag strömt es aus allen Himmelsrichtungen zum Demonstrationsort. Es sind vor allem ganze Gruppen schlecht gelaunter Männer zwischen 30 und 50, welche sich mit ausgerollten Fahnen und noch eingerollten Transparenten einfinden. Alles ist eingespielt, jeder weiß, wo er sich auf dem Kundgebungsplatz einzufinden hat.
Antifa Recherche Team Dresden
Demaskierung und Kontinuitäten
Pegida als Offenlegung und Entfesselung bestehender Dispositionen
Zusammenfassung
Dieser Beitrag verfolgt die These, dass der Zuspruch und die zeitweilig sehr hohen Teilnehmer*innenzahlen der Pegida-Demonstrationen für Rechtsextremismusforscher*innen wenig überraschend waren. Seit Jahren warnen Sie vor einem Personenpotential jenseits des demokratischen Wertekonsens, welches nun mobilisiert wird. Anhand einer Reihe sozialwissenschaftlicher Umfragen wird gezeigt, dass auf der Ebene der Meinungen und Einstellungen bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung kontinuierlich Abwertung und Hass gegenüber Minderheiten gemessen wurden. Pegida ist nach dieser Argumentation kein genuin neues Phänomen, sondern die öffentliche Manifestierung von ethnozentrischen Dispositionen, welche bereits seit Jahrzehnten regelmäßig konstatiert werden. Die eigentliche Veränderung ist, dass diese Einstellungen nicht mehr ‚nur‘ Meinungen und Werte sind, sondern sich in Handlungen niederschlagen. Beflügelt vom Anstieg der Asylanträge vollzieht sich ein Empowerment nationalistischer Kräfte. Pegida ist nur ein weiterer Schritt dieses sich aktivierenden Potentials, das seit langem da war und dessen Träger sich nun ermächtigt fühlen, mit Demonstrationen, offener Empörung und z. T. brennenden Flüchtlingsheimen ihren Positionen Ausdruck zu verleihen.
Stefan Fehser
Abstand halten
Zur Deutung gesellschaftlicher Krisen im Diskurs Pegidas
Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich mit Deutungen gesellschaftlicher Krisenphänomene und ihrer Verbindung mit der semantischen Konstruktion des ‚Volks‘ als kollektive Identität in den Reden des Orga-Teams Pegidas auseinander. Unter Verwendung des Methodenrepertoires der kritischen Diskursanalyse werden ökonomische, kulturalistische und politische Exklusionslinien nachgezeichnet und deren Verknüpfungen aufgezeigt. Diese Verfahren der Ein- und Ausschließung sind dabei keineswegs als Erfindungen der Bewegung zu betrachten, sondern schließen, wie deutlich gemacht wird, an hegemoniale Diskurse um sozialstaatliche Leistungen, ‚deutsche‘ Kultur oder politische Partizipationsrechte an. Pegida steht daher symptomatisch für einen radikalisierten Konformismus der ‚Mitte‘, der sich der Verteidigung der bestehenden sozialen Ordnung verschrieben hat.
Philipp Knopp
Weil die Mitte in der Mitte liegt
Warum Pegida mit dem Extremismus-Paradigma nicht zu erklären ist und es zur Verharmlosung der Bewegung beiträgt
Zusammenfassung
Die Debatte um die Verortung von Pegida wurde, besonders in Sachsen, vor dem Hintergrund des Extremismus-Paradigmas geführt, das in Sachsen ein dominantes Deutungsschema für den Umgang mit politischem Dissens darstellt. Allerdings bleiben Erklärungs- und Deutungsversuche von Pegida auf Basis der Extremismustheorie unzureichend – sie können nur wahlweise Extremismus attestieren oder eine diffuse Mitte beschwören. Pegida wird in Sachsen gegen „antidemokratische Extremisten“ als „normale demokratische Mitte“ definiert. Tatsächlich erfüllt solches Reden über Pegida die Funktion, rassistische und nationalistische Inhalte zu verharmlosen, zu normalisieren und damit unkritisch in das Feld des demokratischen Diskurses und des legitimen Handelns zu integrieren. Diese Funktionen erfüllt das Extremismus-Paradigma generell. Die Debatte zeigt erneut die Widersprüchlichkeit des Extremismus-Paradigmas sowie dessen etatistischen und elitären Demokratiebegriff.
Francesca Barp, Hannah Eitel
„So geht sächsisch!“
Pegida und die Paradoxien der ‚sächsischen Demokratie‘
Zusammenfassung
Der Aufsatz spürt den Ursachen nach, die dazu geführt haben, dass Pegida gerade in Sachsen derartige Mobilisierungseffekte verzeichnen konnte, während sich Landesregierung und Zivilgesellschaft schwer damit taten, einen adäquaten Umgang mit dem Phänomen zu finden. Der oft monierte Sachsenchauvinismus und die ultrakonservative Rhetorik, mit der die dauerregierende Landes-CDU auf die Einbindung entsprechender Wählermilieus setzt, erweist sich dabei nur als Teil eines komplexeren Problemgeflechts. Analysiert wird daher die widersprüchliche Verbindung des ausgeprägten, aber letztlich apolitischen Konservatismus mit einer postpolitischen neoliberalen Regierungspraxis, die durch Neutralisierung, Bürokratisierung und Marginalisierung bzw. Kriminalisierung politischer Konflikte und zivilgesellschaftlichen Engagements einerseits und durch chauvinistische und ethnozentrische Identitäts- und Exzeptionalitätsnarrative andererseits den Boden für Pegida bereitet hat.
Maria Steinhaus, Tino Heim, Anja Weber
„Die haben alle verstanden, dass die Zeiten des Abduckens und Abtauchens und ‚Wir wollen das alles friedlich haben‘ längst vorbei sind.“
Zusammenfassung
In unseren Diskussionen um das Phänomen Pegida im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes stellte sich uns die Frage nach dem Umgang sächsischer politischer Organe mit den Asyldebatten sowohl in den sächsischen Großstädten als auch im ländlichen Raum.
Justus H. Ulbricht
Mobile Beratung – ein Ansatz zur Demokratisierung im Gemeinwesen
Zusammenfassung
Mobile Beratung agiert in erster Linie nachfrageorientiert, aufsuchend, prozessorientiert, parteipolitisch unabhängig und setzt auf nachhaltige Lösungen statt kurzfristiger Erfolge. Die Beratung lokaler Akteur*innen im kommunalen Bereich ist dabei Kernarbeitsfeld. Hierbei werden Akteur*innen in Vereinen, Kirchen, Verwaltungen, Politik, Schule und Soziokultur aus Kommunen und Landkreisen dahin gehend beraten, wie sie im jeweiligen spezifischen Kontext menschenrechts- und teilhabeorientiert auf eine Demokratisierung im Gemeinwesen hinwirken können.
Petra Schickert, Markus Kemper
Postdemokratische Empörung
Ein Versuch über Demokratie, soziale Bewegungen und gegenwärtige Protestforschung
Zusammenfassung
Der Aufsatz führt in ausgewählte Problemstellungen der gegenwärtigen Forschung zu Sozialen Bewegungen und Protest, insbesondere in den Zusammenhang von sozialen Bewegungen und Demokratie ein. Zunächst wird der Begriff der sozialen Bewegung und der Bewegungsgesellschaft im Hinblick auf den Gesellschaftsbezug und die Selbstverhältnisse kollektiver Protestakteur*innen erläutert. Im zweiten Abschnitt wird die Bedeutung sozialer Bewegungen in der Diskussion um die ‚Krise der Repräsentation‘ und die ‚Demokratisierung der Demokratie‘ herausgearbeitet. Drittens wird anhand aktueller Bewegungen (Pegida, Occupy, Mahnwachen für den Frieden/Montagsmahnwachen) gefragt, ob sich in postdemokratischen Verhältnissen ein bestimmter neuer Bewegungstyp herausbildet, der von immenser politischer Entfremdung und spezifisch Web-2.0-geprägten Subjektivitäten gekennzeichnet ist. Diese Bewegungen werden als dreifacher Ausdruck postdemokratischer Verhältnisse begriffen: als Reaktion auf die Postdemokratie, als Kritik an der Postdemokratie und als Verkörperung postdemokratischer Strukturen. Viertens werden einige Herausforderungen für soziale Bewegungen analysiert, die sich aus autoritären Krisenbewältigungsstrategien und dem gegenwärtigen polizeilichen Umgang mit Protest ergeben. Im Fazit wird kurz auf weitere Forschungslücken und theoretische Herausforderungen für die Protestforschung eingegangen.
Peter Ullrich
Wie man bekämpft, was man selbst repräsentiert
Pegida – eine fundamentalistische Gruppierung
Zusammenfassung
Folgender Text weißt nach, dass es sich bei Pegida um eine fundamentalistische Gruppierung handelt. Dies wird an den verschiedenen Strukturmerkmalen des Fundamentalismus gezeigt, die in unterschiedlicher Gewichtung, Überschneidung und Überlagerung bei dem Dresdner Demonstrationszusammenhang vorkommen. Es sind Massenmobilisierungen mit autoritärem Charakter und absoluten Wahrheitsansprüchen, die sich auf eine Erzählung einer hergestellten Tradition kultureller Lebensführung stützen. Nach einer das Problemfeld eröffnenden Einleitung gehen wir auf Geschichte, Charakteristik und Systematik des Fundamentalismus ein, um dessen Besonderheiten anschließend konkret im Kontext der Pegida zu erörtern.
Marc Drobot, Martin Schroeder
Pegida entdemokratisiert – zur Instrumentalisierung von Angst im öffentlichen Raum
Zusammenfassung
Im Fokus der Auseinandersetzung mit den Demonstrationen von Pegida stehen meist die proklamierten ‚Ängste‘ und ‚Sorgen‘ der Teilnehmenden. Deren Äußerungen wurden sowohl medial wie auch politisch breit rezipiert und aufgegriffen. Im folgenden Beitrag geht es um die Frage, ob hierbei von Angst im Sinne einer subjektiven Empfindung gesprochen wird, oder ob die Kommunikation von Angst bei Pegida vielmehr als zentraler narrativer Topos mit ganz anders gelagerten Funktionen fungiert. Anhand der Protestbewegung soll diskutiert werden, welche Funktionen diese Artikulation von Angst im politischen Diskurs erfüllt und welche Folgen es hat, wenn behauptete oder zugeschriebene Empfindungen als politische Argumente behandelt werden.
Luisa Keller, David Berger
Politischer Fetischismus und die Dynamik wechselseitiger Projektionen
Das Verhältnis von Pegida, Politik und Massenmedien als Symptom multipler Krisen
Zusammenfassung
Der Beitrag arbeitet zunächst auf der Ebene von Diskursen und Kollektivsymboliken heraus, dass Pegida, Massenmedien und Politik bei allen wechselseitigen Abgrenzungen als ‚entfremdete Doppelgänger‘ und epistemologische Komplizen in der Reproduktion derselben Deutungsmuster und Konzepte von Demokratie, Nation, kultureller Identität, Migration, Ethnie etc. zusammenwirken (2). Die strukturellen Hintergründe dieses paradoxen Verhältnisses sind in den Formen und Konstellationen von liberaler Demokratie, Nationalstaat und ‚Volk‘ in der kapitalistischen Moderne (3.1) und den konsumgesellschaftlichen und sozialstaatlichen Modi gesellschaftlicher Teilhabe (3.2) angelegt. Die aktuell verschärfte Manifestation dieser latenten Widerspruchsdynamiken resultiert aus einer sich seit Jahrzehnten zuspitzenden multiplen ökonomischen, geopolitischen, politischen und soziokulturellen Krisenkonstellation (3.3). Kooperation und symbolische Abgrenzung zwischen Pegida, Medien und professioneller Politik erweisen sich in diesem Kontext als Formen politischen Übersprunghandelns, die sich aus einer Vertagung anstehender politischer Grundsatzentscheidungen und einer Verleugnung der Konsequenzen einer Aufrechterhaltung des Status quo ergeben (3.4). Pegida und ähnliche Bewegungen lassen sich nicht durch Abgrenzung bekämpfen, sondern nur, indem ihre Ursachen angegangen und der Raum des Politischen für die konfliktive Aushandlung globaler Alternativen zu den bestehenden Modi der Vergesellschaftung geöffnet wird (3.5).
Tino Heim
Backmatter
Metadaten
Titel
Pegida als Spiegel und Projektionsfläche
herausgegeben von
Tino Heim
Copyright-Jahr
2017
Electronic ISBN
978-3-658-13572-0
Print ISBN
978-3-658-13571-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-13572-0