Die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung stellt das Fundament einer demokratischen Gesellschaft und eine zentrale Voraussetzung zur Bewältigung der Klimakrise dar. Die Schärfung eines entsprechenden Problembewusstseins sowie die Befähigung zur Beteiligung der Bürger*innen an einem umfassenden und konflikthaften gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess ist insofern essenziell, gar existenziell. Urteilen ist jedoch angesichts der Komplexität der nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellungen ein notwendigerweise prekäres Unterfangen (siehe Abschn. 2.4), welches auch die politische Bildungspraxis in der Schule herausfordert. Dieses Kapitel zur politischen Urteilsbildung gibt einen Überblick über theoretische Grundlagen, fachdidaktische Überlegungen zu ihrer Förderung und empirische Befunde, die für den Kontext komplexer Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung relevant sind.
Die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung stellt das Fundament einer demokratischen Gesellschaft und eine zentrale Voraussetzung zur Bewältigung der Klimakrise dar. Die Schärfung eines entsprechenden Problembewusstseins sowie die Befähigung zur Beteiligung der Bürger*innen an einem umfassenden und konflikthaften gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess ist insofern essenziell, gar existenziell. Urteilen ist jedoch angesichts der Komplexität der nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellungen ein notwendigerweise prekäres Unterfangen (siehe Abschn. 2.4), welches auch die politische Bildungspraxis in der Schule herausfordert. Dieses Kapitel zur politischen Urteilsbildung gibt einen Überblick über theoretische Grundlagen, fachdidaktische Überlegungen zu ihrer Förderung und empirische Befunde, die für den Kontext komplexer Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung relevant sind. Zunächst wird die politische Urteilsbildung als Kernanliegen der Politischen Bildung vorgestellt (3.1). Nachfolgend werden Begriffsverständnisse von (politischer) Urteilsbildung in psychologischer sowie politikdidaktischer Perspektive dargelegt (3.2), mit dem Ziel zu einer tragfähigen Arbeitsdefinition zu kommen. In Abschnitt 3.3 werden Erkenntnisse über die Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit präsentiert: In einem ersten Schritt werden Modelle zur soziomoralischen Entwicklung (Kohlberg, 1976; Piaget, 1973; Selman,1984, 3.3.1) vorgestellt, die bis heute ein wichtiges Fundament in der politikdidaktischen Modellierung der politischen Urteilsfähigkeit darstellen, wie sich in Abschnitt 3.3.2 zeigen wird. Hier werden „entwicklungslogische Niveaus“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 185) als Realisierungsstadien und Niveaus der politischen Urteilsbildung betrachtet sowie didaktische und unterrichtsmethodische Förderperspektiven aufgezeigt (3.3.3), die später als theoretische Bezugspunkte für die Intervention fungieren werden. Im Abschnitt 3.4 werden für die vorliegende Arbeit relevante theoretische Bezüge wie empirische Befunde zu verschiedenen Dimensionen, Prozessen und Herausforderungen politischer Urteilsbildung im Kontext nachhaltigkeitsbezogener Fragen skizziert, mit dem Ziel den Forschungsbedarf zu identifizieren. Dabei wird auch auf die Schwierigkeiten in der empirischen Erforschung eingegangen. Die Darlegung der Studienlage mündet in eine Differenzierung zweier Forschungsperspektiven auf Prozesse politischer Urteilsbildung (Urteilen als Expansion oder Sinnbildung; 3.5), aus der sich die Anlage der Forschungsarbeit ergeben wird. Abschließend wird eine Arbeitsdefinition politischen Urteilens vorgestellt und über die Implikationen der vorliegenden empirischen Studien der Forschungsbedarf hergeleitet (3.6).
3.1 Politische Urteilsbildung als Kernanliegen Politischer Bildung
Politische Bildung ist eine genuin normative Praxis, indem sie an das Leitbild der Mündigkeit und demokratischen Werten orientiert ist (Besand, 2019). Die bis in den zeitgenössischen Fachdiskurs richtungsweisend gewesenen und relevant gebliebenen klassischen didaktischen Theorieansätze eint die Auffassung, Politische Bildung solle zur Verwirklichung von Mündigkeit, politischer Selbstbestimmung und Emanzipation beitragen. So spricht Hermann Giesecke von der Mitbestimmung zum Zwecke der Gestaltung der Gesellschaft (1974, S. 140 ff.), Schmiederer von der Befreiung der Menschen aus der Unmündigkeit zur Gewährleistung des Strebens nach einer Gesellschaft, die die Interessen aller wahrnimmt (1977, S. 90–93), und Kurt Gerhard Fischer von Emanzipation im Sinne einer Kritikfähigkeit an den gesellschaftspolitischen Verhältnissen zum Zwecke der Selbstbestimmung und der Gestaltung einer gesellschaftlichen Emanzipation (1972, S. 83–91; siehe auch 1993).1 Aufklärung als Bildungsziel ist daher sowohl als „pädagogisch-persönliches“ als auch „gesellschaftlich-politisches Projekt“ zu verstehen (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 14). Politische Bildung findet also immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und Integration statt: Die lernenden Subjekte werden in eine gesellschaftliche Ordnung integriert und müssen sich gleichwohl von dieser emanzipieren (Oeftering, 2013, S. 243).
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Um jene übergreifenden Bildungsziele zu erreichen, werden die Förderung und Kultivierung politischer Urteilsfähigkeit als die wesentlichen Aufgaben des Politikunterrichts verstanden. Die politische Urteilsbildung stellt also das zentrale Ziel des Politikunterrichts dar (Sutor, 1971) und die politische Urteilsfähigkeit die zentrale, durch den Politikunterricht zu fördernde Kompetenz (Juchler, 2005a). Entsprechend steht nicht die Wissensvermittlung, „sondern der offene und diskursive Umgang mit Wissen“ im Zentrum des Politikunterrichts (Oeftering, 2013, S. 251). Mit Blick auf das Anliegen einer fächerübergreifenden Nachhaltigkeitsbildung und einer fachspezifischen Ausrichtung ebendieser (siehe Abschn. 2.5.2) lassen sich vor allem zwei Herausforderungen herausstellen:
a.
Das Wissensproblem. Um Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung zu verstehen, sind stets interdisziplinäre Zugriffe angezeigt. Die Politikdidaktik bezieht sich traditionell auf verschiedene gesellschaftswissenschaftliche Bezugsdisziplinen (Politikwissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Recht), die auf Lernendenseite in verschiedenen basalen Sinnbildern des Bürgerbewusstseins Ausdruck finden: Vergesellschaftung, Wertbegründung, Bedürfnisbefriedigung, Gesellschaftswandel und Herrschaftslegitimation (Lange, 2008). Nachhaltigkeit als Konzept tangiert alle Sinnbilder des Politischen. Darüber hinaus spielt im Kontext nachhaltigkeitsbezogener gesellschaftlicher Problemstellungen häufig auch naturwissenschaftliches Wissen eine Rolle, beispielsweise um Maßnahmen überhaupt beurteilen zu können. Interdisziplinäre Wissensbestände didaktisch aufzubereiten und zu reduzieren bzw. zu elementarisieren, stellt eine Herausforderung dar. Das Bildungsziel, zu einem evaluativen, handlungsleitenden Urteil zu befähigen, ist hierbei im Blick zu behalten.
b.
Das Leitbildproblem. Die normative Prämisse, politische Bildungsprozesse ergebnisoffen, diskursiv und kontrovers zu gestalten, kann zuweilen einer Erziehungzum Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung entgegenstehen und das Ziel politischer Urteilsbildung vereiteln (siehe Abschn. 2.3). Da das Was und Wie umstritten bleibt, verzichtet der sozialwissenschaftliche Unterricht darauf, „für Leitbilder politischer, ökonomischer oder sozialer Art zu missionieren“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 15)2. Gleichwohl transportiert das Konzept der Nachhaltigkeit gemeinwohlorientierte Werte wie (Generationen-) Gerechtigkeit, Menschenwürde, Frieden und Sicherheit, die als nicht zu verhandelnder Werterahmen zu begreifen sind. Professionelles Handeln in Lehr-Lern-Situationen zeichnet sich durch einen reflexiven Umgang damit aus.
Die Politische Bildung steht im Zusammenhang mit nachhaltigkeitsbezogenen Themenstellungen daher vor der Aufgabe, interdisziplinäres Wissen zu integrieren, ohne einen unpolitischen Politikunterricht zu erwirken (Henkenborg et al., 2008; Oeftering, 2013), ohne lediglich Einzelinformationen zu transportieren oder politische Sachverhalte unangemessen zu reduzieren und zu moralisieren (Grammes, 1998; siehe auch Besand, 2019). Im Hinblick auf das Leitbildproblem besteht zudem die Gefahr, dass ein kontroverser Unterricht von den zunehmend sensibilisierten und teilweise zivilgesellschaftlich engagierten Lernenden als relativierend aufgefasst wird und sich als inkompatibel zu den Sorgen und Ängsten der Schüler*innen erweisen kann (Grund & Brock, 2019; 2022; siehe Abschn. 2.4.3). Politische Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern, bedeutet daher umso mehr, den Umgang mit Ungewissheit, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität einzuüben (siehe Abschn. 2.4).
3.2 Begriffsverständnisse von (politischer) Urteilsbildung
3.2.1 Urteilsbildung aus psychologischer Perspektive
Urteilen kann als der psychologische Prozess beschrieben werden, „der zugrunde liegt, wenn Menschen einem Urteilsobjekt einen Wert auf einer Urteilsdimension zuordnen und das daraus resultierende Urteil explizit zum Ausdruck bringen“ (Plessner, 2011, S. 12). Urteilsobjekte können beispielsweise Situationen, Personen oder Objekte sein; Urteilsdimensionen sind Eigenschaften, die dem Urteilsobjekt zugewiesen werden können: etwa das Gewicht eines Gegenstandes oder die Gefährlichkeit einer Situation (Bröder & Hilbig, 2017, S. 621). Urteile gelten als subjektiv, „weil sie die individuellen Überzeugungen und Lernerfahrungen der Person widerspiegeln“ (Betsch et al., 2011, S. 2).
Empirische Untersuchungen zur Urteilsbildung sind den Forschungsfeldern Judgment and Decision Making in der Allgemeinen Psychologie und der Social Cognition in der Sozialpsychologie zuzuordnen (Plessner, 2011, S. 13). Urteilen (judgment) besteht aus Bewertungs- bzw. Einschätzungsprozessen (Hardman, 2009, S. 3), während sich Entscheiden (decision making) auf die Wahl „zwischen mindestens zwei möglichen (Handlungs-)Optionen“ bezieht (Bröder & Hilbig, 2017, S. 621). Soziale Kognition (social cognition) bezeichnet den Forschungsbereich der Sozialpsychologie, der „sich damit beschäftigt, zu verstehen, wie wir über uns selbst und über andere Menschen denken und wie die beteiligten Prozesse unsere Urteile und unser Verhalten in sozialen Kontexten beeinflussen“ (Pendry, 2014, S. 108).
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Die empirischen Befunde richten sich vornehmlich auf kognitive Verarbeitungsprozesse im Lichte eines Kosten-Nutzen-Ansatzes und betreffen die Informationsverarbeitung und -integration sowie die Risikoabschätzung, die Strategiewahl, Heuristiken und Urteilsfehler/-verzerrungen (biases) (Bröder & Hilbig, 2017; Nolte et al., 2019, S. 183–187). Unterschieden werden Urteile im Hinblick auf die Struktur in induktive und deduktive Urteile oder auch im Hinblick auf die Inhaltsbereiche in prädiktive Urteile (die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten betreffend), Wahrheitsurteile (den Wahrheitsgehalt betreffend), soziale Urteile (andere Personen betreffend) und evaluative Urteile (Plessner, 2011, S. 14–15).
Politische Urteile sind zudem vorwiegend evaluative Urteile. Evaluative Urteile nehmen eine Bewertung auf einer evaluativen Dimension vor (z. B. positiv-negativ, aber auch z. B. dem politischen Ziel der Gleichstellung der Geschlechter un-/angemessen oder vor dem Hintergrund der Klimaschutzes [nicht] gerechtfertigt). In der Sozialpsychologie werden sie unter dem Terminus der Einstellung (attitude) untersucht. Eine Einstellung wird definiert als „eine Gesamtbewertung eines Objekts, die auf kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Informationen beruht“ (Maio & Haddock, 2010, S. 4), wobei „das Äußern einer Einstellung ein wertendes Urteil über ein Stimulusobjekt beinhaltet“ (Haddock & Maio, 2014, S. 199).
Das Urteilen stellt einen schwer einzugrenzenden Gegenstandsbereich dar (Plessner, 2011, S. 13). Wie sich zeigt, beziehen sich verschiedene Ansätze der Psychologie auf Prozesse der Urteilsbildung; eine einheitliche Teildisziplin der Urteilspsychologie gibt es streng genommen nicht. Die Grenzen zwischen Wahrnehmen und Urteilen sowie Urteilen und Entscheiden sind fließend, da die zugrundeliegenden kognitiven Operationen ineinander übergehen (ebd.). Das Urteilen stellt insofern eine Klammer für verschiedene urteilsrelevante Denkprozesse dar. Das Rahmenmodell für den Prozess des Urteilens nach Plessner (2011) betrachtet den Prozess der Urteilsfindung als Informationsverarbeitung: Einzelne Informationen bilden die Urteilsgrundlage – sie entstammen den Vorstellungen oder Erinnerungen des Individuums oder der Umwelt. Entsprechend ist der Kontext des Urteils zentral, etwa die „Art der Informationsdarbietung oder der Einbettung der Urteilsaufgabe“ sowie auch die „Einflüsse[…], die sich beispielsweise aus der Motivation oder Stimmung der urteilenden Person ergeben“ (ebd., S. 22).
Für die urteilspsychologische Forschung ist sowohl der Prozess des Sammelns von Informationen als auch die Informationsintegration von Interesse, die in der Formulierung eines Urteils Ausdruck finden kann (ebd., S. 21). In dieser Perspektive stellen das Vorwissen, die Motivation, das Interesse und Emotionen (etwa Betroffenheit) relevante Größen für den Urteilsprozess dar.
Eine Grundannahme informationsverarbeitender Modelle besteht in der Vorstellung, dass die kognitive Kapazität zur Informationsverarbeitung begrenzt ist und die Urteilsfähigkeit meist aufgrund zeitlicher Beschränkungen und unvollständiger Informationen eingeschränkt ist (bounded rationality, Simon, 1991). Aufgrund dessen wird oft auf Heuristiken zurückgegriffen, die als mentale Abkürzungen fungieren und die Urteilsbildung in alltäglichen Entscheidungssituationen vereinfachen (Gigerenzer & Gaissmaier, 2011; Nolte et al., 2019, S. 183). Während eine heuristische Urteilsbildung unbewusst verläuft und analysearm ist, ist eine systematische Urteilsbildung dadurch gekennzeichnet, dass sie bewusst verläuft und datengeleitet ist, da alle vorhandenen Informationen auf ihre Relevanz geprüft und in das zu fällende Urteil integriert werden (siehe das duale Prozessmodell der Informationsverarbeitung: Heuristic-Systematic Model nach Chen & Chaiken, 1999; Plessner, 2011, S. 43 f.). Eine systematische Urteilsstrategie ist folglich mit einem hohen kognitiven Aufwand verbunden und erfordert entsprechende Motivation und Fähigkeiten (ebd.). Die Motivation stellt dabei die zentrale Determinante in der Art der Informationsverarbeitung dar (Stroebe, 2014, S. 241 f.): Je stärker Personen einem Thema bzw. Argument eine persönliche Relevanz beimessen, desto motivierter sind sie, den anspruchsvollen Prozess der Informationsabwägung und -integration systematisch zu bestreiten, d. h. Fähigkeiten anzuwenden (Petty et al., 1981). Es kann entsprechend angenommen werden, dass wahrgenommene persönliche Relevanz (hohe Betroffenheit), die Verarbeitungsmotivation und somit auch die Tiefe der Verarbeitung (Elaboration) positiv beeinflusst (Stroebe, 2014, S. 242). Im Bereich einer nachhaltigkeitsbezogenen Urteilsbildung ist daher zu erwarten, dass Personen, die die Dringlichkeit der Klimakrise wahrnehmen, eine höhere motivationale Bereitschaft zur elaborierten Urteilsbildung haben. Vor dem Hintergrund des Heuristic-Systematic Model sind damit Bildungsprozesse anzubahnen, die die Motivation und Verarbeitungsfähigkeiten fördern.
Urteile werden darüber hinaus aber auch durch Motive, die in Urteilssituationen verfolgt werden, beeinflusst. Menschen verfolgen etwa ein soziales Anschlussmotiv, das eine Neigung zur Konformität evozieren kann (Plessner, 2011, S. 58). Des Weiteren besteht eine Tendenz zu selbstwertdienlichen Attributionen, nach denen Menschen sich selbst eher positiv beurteilen (ebd., S. 59). Außerdem ist das Streben nach Konsistenz prägend für die Urteilspraxis: Inkonsistente Kognitionen werden als unangenehme motivationale Zustände erlebt; es gilt entsprechend, die Dissonanz abzubauen (Festinger, 1957). Es kann daher angenommen werden, dass jene Motive zu Urteilsverzerrungen führen und einer systematischen Urteilsbildung angesichts einer komplexen Problemstellung, die einen reflektierten Umgang mit Komplexität erfordert, entgegenstehen können und im Rahmen von Bildungsprozessen – fachdidaktisch gesprochen: in subjektorientierter Absicht – berücksichtigt werden müssen.
3.2.2 Normative Anforderungen an eine politische Urteilsbildung
Die Frage danach, was ein politisches Urteil als solches qualifiziert und was politische Urteilsbildung forschungsgegenstandsspezifisch auszeichnet, wird politikdidaktisch mit Blick auf die Überlegungen von Immanuel Kant und Hannah Arendt verhandelt (Juchler, 2005a; 2005b). In dieser politisch-philosophischen Tradition wird die Urteilskraft als „die Verbindung von Besonderem und Allgemeinem“ bestimmt (Negt, 2010, S. 21). Kant (2000) unterscheidet die subsumierende und die reflektierende Urteilskraft. Während die erstgenannte das Besondere unter dem gegebenen Allgemeinen (Gesetz, Regel, Prinzip) einordnet bzw. subsumiert, kommt die reflektierende Urteilskraft zum Tragen, „wenn das Besondere gegeben ist, zu dem das Allgemeine noch gefunden werden soll“ (Pavlik, 2015, S. 150). Dies ist beim ästhetischen und politischen Urteilen der Fall; Arendt transformierte den Kant'schen Begriff der reflektierenden Urteilskraft für das politische Urteilen (Meints-Stender, 2011, S. 78 ff.). Das Besondere bezieht sich bei Arendt auf die konkrete Erfahrungssituation menschlicher Existenz, an die das politische Denken stets „gebunden bleiben muß“ (Arendt, 2000, S. 18); das Allgemeine stellt das Begriffliche dar. Negt (2010) erläutert: „Wahrnehmungen und Empfindungen sind etwas Besonderes; was man sieht, was man fühlt, den Blick auf die Straße, wo vielleicht Menschen gequält oder gedemütigt werden, auf die Gesellschaft zu beziehen, die das offiziell zulässt, wäre Ausdruck von Urteilsvermögen“ (ebd., S. 21).
Unhintergehbarer Bezugspunkt des politischen Urteilens ist nach Arendt die Pluralität der menschlichen Existenz (Arendt, 2007, S. 9; Arendt, 2016b). Entsprechend ist in der Urteilsfindung nicht nur das Eigeninteresse zu berücksichtigen, sondern auch die Perspektiven, potenziellen Interessen, Voraussetzungen und Bedingungen anderer in die persönliche politische Urteilsbildung miteinzubeziehen (Meints-Stender & Lange, 2020, S. 35). Das Überschreiten und Abstrahieren von privaten und gegebenenfalls partikularen Interessen und damit das Praktizieren einer „erweiterten Denkungsart“ (Kant, 2000, S. 26 f.) bedeutet „für das Individuum, sich die Perspektive des oder der anderen bewusst zu machen, mit dem eigenen Standpunkt zu vergleichen beziehungsweise zu konfrontieren und schließlich in das eigene Urteil einzubeziehen“ (Juchler, 2005a, S. 68). Jene politische Einbildungskraft stellt eine Voraussetzung dafür dar, am politisch-öffentlichen Leben teilzuhaben. Im Umkehrschluss stellt der Unwillen oder die Unfähigkeit zu urteilen – wie sie Arendt in der Figur Adolf Eichmann veranschaulicht findet – die größte Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben dar (Arendt, 2016a, S. 299):
Die durch die erweiterte Denkungsart qualifizierte politische Urteilsbildung ermöglicht in der politischen Öffentlichkeit eine intersubjektive Verständigung, welche sowohl die wohlverstandenen Eigeninteressen der Individuen als auch die der anderen berücksichtigt und in das politische Urteil integriert. (Juchler, 2005a, S. 69)
Die Perspektivenübernahme stellt damit die zentrale Verstehensoperation dar, die das politische Urteil als solches auszeichnet:
Wird dagegen der Standpunkt der anderen bei der eigenen Urteilsbildung nicht mit einbezogen, bleibt der gebildete eigene Standpunkt die Vertretung des subjektiven Partikularinteresses und kann schlechterdings nicht als politisches Urteil bezeichnet werden. (Juchler, 2005a, S. 69)
Wie in Abschnitt 3.2.1 aufgezeigt, sind politische als evaluative Urteile nicht auf Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit ausgerichtet, sondern sie nehmen eine Bewertung vor, die potenziell anerkennungswürdig ist oder nicht: „Durch seinen normativen Gehalt kann ein solches Urteil eines Individuums weder »wahr« noch »falsch« sein, sondern muss sich im Prozess der Verständigung mit anderen als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erweisen“ (Juchler, 2005b, S. 117).
Eine weitere normative Anforderung an das politische Urteilen besteht in der Begründung vor dem Hintergrund rationaler Urteilsmaßstäbe. In Anlehnung an die Unterscheidung von Max Weber zwischen Zweck- und Wertrationalität zielt der Urteilsmaßstab der Zweckrationalität auf die Kategorie der Effizienz und die Wertrationalität auf die Kategorie der Legitimität (Weber, 1988, S. 551 ff.). Analog dazu wird zwischen Sach- und Werturteil unterschieden. Die sachbezogene Dimension bezieht sich auf Fragen der Zweck-Mittel-Relation, etwa inwieweit politische Zwecke und Ziele als angemessen und Mittel zur Gestaltung oder Problemlösung als wirksam zu beurteilen sind. Dies betrifft auch Fragen nach der Korrektheit der zugrunde liegenden Fakten und Prämissen. Die wertebezogene Dimension hingegen orientiert sich an Wertevorstellungen, Grund- und Menschenrechten und fragt nach der Legitimität eines Sachverhalts. Dies betrifft etwa Fragen nach der Sozial- und Umweltverträglichkeit politischen Handelns (May, 2019, S. 42). Massings (2003) viel rezipierte Definition eines politischen Urteils bezieht sich auf jene Kategorien und lautet folgendermaßen:
Ein politisches Urteil ist die wertende Stellungnahme eines Individuums über einen politischen Akteur oder einen politischen Sachverhalt unter Berücksichtigung der Kategorien Effizienz und Legitimität mit der Bereitschaft sich dafür öffentlich zu rechtfertigen. (Massing, 2003, S. 94)
Die mögliche Verknüpfung zwischen Urteilsmaßstäben und Perspektiven integriert Massing in einer Begründungsmatrix, die zeigt, wie die Beurteilung sach- und wertbezogene Aspekte aus verschiedenen Perspektiven erfolgen kann (siehe Tab. 3.1).
Tabelle 3.1
Begründungskriterien eines politischen Urteils nach Massing (2003), S. 97
Grund- und Menschenrechte, Demokratie, rechtsstaatliche Prinzipien, sozialstaatliche Prinzipien, Alternativen
Im fachdidaktischen Konsens darüber, dass die zentrale Aufgabe der Politischen Bildung darin besteht, zur politischen Urteilsbildung zu befähigen, verankerte die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) die politische Urteilsfähigkeit als einen von drei Kompetenzbereichen neben dem sogenannten konzeptuellen Deutungswissen, welches „sich auf grundlegende Konzepte für das Verstehen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht bezieht“ (GPJE, 2004, S. 14). In der Definition des Kompetenzbereichs findet sich die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteilen wieder. Unter politischer Urteilsfähigkeit wird die Fähigkeit verstanden, „[p]olitische Ereignisse, Probleme und Kontroversen sowie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unter Sachaspekten und Wertaspekten [zu] analysieren und reflektiert beurteilen [zu] können“ (ebd., S. 13). Die Autorengruppe Fachdidaktik hingegen greift die Trennung in Urteilstypen nicht auf, sondern stellt die Herausbildung des persönlichen Werturteils im Zuge eines Abwägens der sachlichen Aspekte und die längerfristige politische Identitätsentwicklung in den Mittelpunkt.3 Sie verstehen unter politischer Urteilsbildung die „Fähigkeit, kontroverse Wertvorstellungen, individuelle und kollektive Interessen, politische Positionen und gesellschaftstheoretische Konzepte selbstreflexiv und kritisch abzuwägen, um ein persönliches Werturteil und eine orientierungsstiftende, kritikfähige politische Identität zu finden, zu begründen und zu reflektieren“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 146).
In den verschiedenen Definitionen zeichnen sich auch Überschneidungen zu anderen Kompetenzbereichen wie dem Analysieren und Handeln ab. Während die Definition der GPJE die Analyse- und Urteilsfähigkeit stärker zusammendenkt, differenziert die Fachgruppe Sozialwissenschaft diese beiden sowie auch die Perspektivenübernahme voneinander (Behrmann et al., 2004, S. 336 ff.): Unter politischer Urteilsbildung wird die „Einschätzung und Bewertung gesellschaftlicher Problemlagen, politischer Forderungen“ verstanden, während sich die sozialwissenschaftlichen Analysefähigkeiten auf die „problemorientierte Analyse struktureller Bedingungen und institutioneller Ordnungen“ beziehen (ebd., S. 388). Gleichwohl ist die Urteilskompetenz gewissermaßen auch eine Handlungskompetenz, da es auch darum geht, sich „in einem Möglichkeitsraum politischen Denkens begründet zu positionieren“ und dies auch vertreten zu können (Petrik, 2012, S. 32).
Die normativen Ansprüche an eine gelingende politische Urteilsbildung sind zentral, um die Anbahnung politischer Lernprozesse an fachlichen Kriterien zu orientieren und die lernenden Subjekte dahingehend zu unterstützen, ihre Urteilspraxis zu elaborieren und eine selbstbestimmte politische Identität zu entwickeln. Vor dem Hintergrund der hier dargelegten normativen Bestimmungen vollzieht sich die Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit in einer zunehmenden Ausweitung ihres Geltungsanspruchs bzw. ihrer potenziellen Zustimmungsfähigkeit durch andere und damit „Gerichtetheit auf das pluralistische Gemeinwesen“ (Juchler 2005b, S. 121). Wie sich diese Entwicklung in moral- und entwicklungspsychologischer Perspektive darstellt, wird im nachfolgenden Abschnitt dargelegt.
3.3 Entwicklung und Förderung politischer Urteilsfähigkeit
Welche fachlichen Vorstellungen und Modellierungen gibt es darüber, wie sich die politische Urteilsbildung idealtypisch entwickelt, worin sich Urteilsniveaus unterscheiden und welche Förderperspektiven sich daraus ableiten lassen? Im folgenden Kapitel werden in einem ersten Schritt auf Forschungsergebnissen basierende Modelle zur soziomoralischen Entwicklung (in Chronologie ihrer Erscheinung: Piaget, 1973; Kohlberg, 1976; Selman, 1984) vorgestellt, die bis heute ein zentrales Fundament für die fachdidaktische Modellierung der politischen Urteilsfähigkeit bilden. Dass die Erkenntnisse zur moralischen Urteilsbildung auch für die politische Urteilsbildung relevant sind, ergibt sich daraus, dass politische Urteile wertbezogen sind. Entsprechend konnte der Zusammenhang zwischen moralischer und politischer Urteilsfähigkeit auch empirisch belegt werden (Van Ijzendoorn, 1980, S. 158 ff.). Im Rahmen von Abschnitt 3.3.2 werden Realisierungsstadien und Niveaus der politischen Urteilsbildung in politikdidaktischer Perspektive betrachtet und nachfolgend Förderperspektiven für die Gestaltung politischer Bildungsprozesse abgeleitet (Abschn. 3.3.3). Die Erkenntnisse stellen die Grundlage für die Gestaltung der Intervention sowie der Datenauswertung und -interpretation dar.
3.3.1 Modelle der soziomoralischen Entwicklung
Die Entwicklung des politischen Selbst wird bis in die Gegenwart auf der Grundlage verschiedener soziomoralischer Entwicklungsmodelle beschrieben, die auf kognitiven, sozial- und entwicklungspsychologischen Befunden beruhen. Ab wann sind junge Menschen in der Lage, „Regeln und Werte unabhängig von eigenen Interessen wahrzunehmen und umzusetzen“ (Burdewick, 2010, S. 352), wie es für nachhaltigkeitsbezogene Fragestellungen erforderlich ist?
Piaget (1973) differenziert in seinen Arbeiten zur moralischen Entwicklung zwischen dem Stadium der Heteronomie, in der Autoritäten über die Regeln des Zusammenlebens verfügen, und dem Stadium der Autonomie, in dem Regeln als gemeinsam vereinbart und insofern nicht unumstößlich gelten (etwa ab dem 10. Lebensjahr) (Burdewick, 2010, S. 353). In seinen Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung unterscheidet Piaget drei Stufen. Auf die sensomotorische Entwicklungsphase (0–2 Jahre) folgt die Stufe der konkreten Operation (2–11/12 Jahre), woran sich die Phase der formalen Operation im Jugendalter anschließt: „Auf der Stufe der formalen Operation sind Jugendliche in der Lage, logische Schlüsse zu ziehen. Sie können sich vom konkreten Gegebenen lösen und das Mögliche und Zukünftige antizipieren“ (ebd.). Folgt man Piaget „lässt sich also festhalten, dass Kinder etwa ab zehn bzw. elf Jahren die kognitiven und moralischen Voraussetzungen zur politischen Mitsprache erfüllen“ (ebd.). Auch Hurrelmann (1998, S. 17) schlussfolgert, dass bereits in der Präadoleszenz von einer Reife der Urteilsfähigkeit zu sprechen ist. Neuere Forschungen betonen dabei den entscheidenden Einfluss der Schulbildung und stellen die Domänenspezifik der kognitiven Operationen heraus (Oerter, 2016, S. 71) sowie die heute früher einsetzende politische Sozialisation (Soßdorf, 2021).
Kohlberg (1976) knüpft an die Arbeiten von Piaget an und entwickelt ein Modell zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit. Untersucht wurde die Argumentation zu moralischen Dilemmata, die mit zunehmendem Alter an Komplexität gewinnt. In seinem ontogenetischen Stufenmodell beschreibt er drei Stufen der moralischen Entwicklung, wobei jede zwei Unterstufen umfasst. Auf dem prämoralischen Niveau werden Regeln aufgrund äußeren Drucks durch Autoritäten befolgt (Stufe 1) oder um Belohnung zu erhalten bzw. Strafe oder Missachtung zu vermeiden (Stufe 2). Argumentationen auf konventionellem Niveau zeichnen sich dadurch aus, dass soziale Beziehungen berücksichtigt werden (Stufe 3) oder übergreifende Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einbezogen werden (Stufe 4) – dies „kann bei Jugendlichen im Alter von elf Jahren erreicht sein“ (Burdewick, 2010, S. 355). In Kohlbergs Untersuchungen argumentierten nur ein Viertel der 16- bis 18-Jährigen auf der Stufe 4. Auf dem postkonventionellen Niveau werden übergeordnete Gerechtigkeitsvorstellungen integriert (Stufe 5) oder universelle Gerechtigkeitsprinzipien herangezogen (Stufe 6). Auf dem post-konventionellem Niveau argumentieren Jugendliche selten; auch Erwachsene argumentieren überwiegend auf dem konventionellen Niveau. Damit kann festgehalten werden, dass „ein Teil der jungen Menschen bereits mit dem zwölften Lebensjahr ebenso urteilsfähig wie die meisten Erwachsenen“ ist und „sich stellvertretend für die Interessen anderer [einsetzen]“ kann (ebd.). Im Zuge der moralpsychologischen Arbeiten von Kohlberg etablierte sich die Methode der Dilemmadiskussion, deren Wirksamkeit zur Förderung moralischen Lernens belegt werden konnte (Lind, 2000; mit Blick auf den Vergleich affektiv und kognitiv orientierter Konzeptionen: Krause & Stark, 2016). Auch wirkt sich Partizipation im Schulkontext positiv auf die moralische Entwicklung aus (Higgins, 1987, S. 69 ff.). Insgesamt kann hieraus abgeleitet werden, dass die Ermöglichung von Lernerfahrungen zentral ist und diese damit einen wichtigen Befund für die Politische Bildung darstellen.
Selman (1984) untersucht in sozialpsychologischer Perspektive die Entwicklung der sozialen Perspektivenübernahme und -koordination, also das Vermögen, die Gedanken und Gefühle anderer zu erschließen und unterschiedliche Perspektiven miteinander in Beziehung setzen zu können. Sie stellt ebenfalls eine Grundbedingung politischer Kompetenzen dar und ist auch mit Blick auf die außerschulischen Begegnungen in dieser Arbeit von Interesse. Auch Selmans Theorieansatz gründet auf der Theorie zur kognitiven Entwicklung nach Piaget, wobei in seiner Arbeit aber das Soziale und zwischenmenschliche Interaktion im Fokus steht (Dimitrova & Lüdmann, 2014, S. 6). Dem Ansatz zufolge ist im Alter zwischen dem 3. und 8. Lebensjahr die egozentrische bzw. undifferenzierte Perspektive vorherrschend (Niveau 0) (ebd.). Zwar werden auf dieser Entwicklungsebene bereits Perspektiven anderer erkannt; es kann jedoch noch nicht erfasst werden, dass Wahrgenommenes unterschiedlich interpretiert wird. Die eigene Perspektive kann von den Perspektiven anderer nicht deutlich unterschieden werden. Etwa zwischen dem 5. und 9. Lebensjahr entwickelt sich die subjektive bzw. differenzierte Perspektive (Niveau 1) und das Kind wird sich zunehmend der Subjektivität von Perspektiven bewusst; etwa werden Gründe und Motive von Handlungen erkannt (ebd.). Im Zeitraum zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr entwickeln sich selbstreflexive bzw. reziproke Perspektiven (Niveau 2). Das Kind ist fähig, „die eigenen Gedanken und Gefühle aus der Sicht einer anderen Person zu reflektieren“ (ebd.). Zwischen zehn und 15 Jahren werden mehrere Perspektiven gleichzeitig repräsentiert, sodass auch Beziehungen zwischen Sichtweisen erfasst werden (Niveau 3). Ab dem 12. Lebensjahr kann allmählich die sogenannte tiefenpsychologische und gesellschaftlich-symbolische Perspektivenübernahme stattfinden (Niveau 4): „Die Heranwachsenden erkennen, dass Individuen Perspektiven aufgrund mehrerer und sehr verschiedener Informationsquellen (Erfahrungen, Aussagen, Gedanken, Gefühle, Meinungen, Werte) teilen können. Als Abschluss der Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme wird die Herausbildung von einem (z. B. gesellschaftlichen) Perspektivensystem betrachtet“ (ebd.). Die Befunde sind etwa mit Blick auf das Diskussionsverhalten von Schüler*innen, die Fähigkeit zur Rollenübernahme und auf die Fähigkeit zum abstrahierenden Denken, etwa wenn zwischen Person und Interessengruppe zu differenzieren ist, von Bedeutung. Das Vermögen von Schüler*innen zur Perspektivenübernahme ist vor dem Hintergrund dieser Befunde einzuordnen.
Die vorgestellten Modelle wurden für die Koppelung der Entwicklungsstufen an konkrete Altersangaben kritisiert. So belegen mittlerweile viele Studien, dass bereits jüngere Heranwachsende über die Fähigkeit verfügen, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen (Oerter, 2016). Auch in den Studien von Keller (1996) und Nunner-Winkler (2005) wurde gezeigt, dass Unter-Zehnjährige auf Grundlage von Empathie und Normen urteilen statt zur Abwendung von Strafe. „Entgegen Kohlbergs Beschreibung des präkonventionellen Niveaus verfügen bereits Kinder über ein differenziertes moralisches Wissen“ (Nunner-Winkler, 2009, S. 534). Zugleich können auch Erwachsene auf niedrigster Studie urteilen (Beck & Parche-Kawik, 2004). Die Befunde belegen, dass Urteilsbildung häufig in hohem Maße inkonsistent und kontextspezifisch ist. Mit Blick auf das politische Urteilen sind zudem die Untersuchungen zum dialektischen Denken von Interesse. Dieses wird definiert als Vermögen „bestehende Widersprüche, die sich logisch nicht aufheben lassen, zu bearbeiten und einer Synthese zuzuführen“ (Oerter, 2016, S. 72). Oerter (2016) macht darauf aufmerksam, dass das dialektische Denken empirischen Studien zufolge „erst mit zunehmendem Alter auftritt und im Jugendalter noch kaum beobachtet wird“ (ebd., S. 72).
Die Annahme einer kongruenten Stufenabfolge ist fragwürdig geworden. Auch wenn der ontologische Erklärungsanspruch heute zunehmend infrage gestellt wird, stellen die Modelle in veränderter Ausrichtung weiterhin wichtige theoretische Bezugspunkte für die Vorstellung einer idealtypischen Entwicklung der Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung dar (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017; May et al., 2020). Einen empirischen Zusammenhang zwischen moralischen und politischen Urteilen wurde bereits durch Van Ijzendoorn (1980, S. 158 ff.) nachgewiesen:
Vorkonventionelle Moralstufen korrelieren demnach mit einem ‚regressiven‘, d. h. autoritätsfixierten, ontologisierenden, personalisierenden und harmonisierenden politischen Bewusstsein. Konventionelle Moralstufen korrelieren mit der Einbeziehung formaler demokratischer Prinzipien und Verfahren. Postkonventionelle Moralstufen korrelieren mit einem ‚kritischen‘, d. h. flexibleren, menschenrechtsorientierten und kontingenzbewussten politischen Bewusstsein. (Petrik, 2012, S. 39)
Insgesamt zeichnen sich in den Modellen Entwicklungslinien ab, bei denen der kindliche Egozentrismus durch die Fähigkeit zur Dezentrierung überwunden wird. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bezieht sich im Kindesalter noch auf sich selbst und die direkten Bezugsgruppen und erweitert sich sukzessive auf Vorstellungen von Gesellschaft.
3.3.2 Die Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit
Korrespondierend zu den skizzierten Entwicklungsmodellen verlaufen politikdidaktische Vorstellungen zur Entwicklung des politischen Bewusstseins und damit verbundenen Fähigkeiten. Politisches Lernen verläuft jedoch hochgradig individuell und ist abhängig von gesellschaftlichen Einflüssen – Stufenmodelle sind daher stark umstritten. Dennoch ermöglichen Annahmen über die idealtypische Abfolge von Entwicklungsstadien, ein Verständnis darüber zu entwickeln, wie politische Bildungsgänge verlaufen und Lernfortschritte angeregt werden können. In Abgrenzung zur altersbedingten Stufung werden die einzelnen Realisierungsstadien als „entwicklungslogische Niveaus“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 185) verstanden.
Politische Urteilsbildung kann nach Weinbrenner als „Teil eines langfristigen individuellen Entwicklungs- und Sozialisationsprozesses“ verstanden werden (1997, S. 86). Je nach lerntheoretischem Ansatz unterscheiden sich die Annahmen darüber, wie die „Zonen der nächsten Entwicklung“ erreicht werden (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 180). Dem Kognitivismus (Brunner) zufolge finde Lernen statt, wenn „[i]n einem Besonderen, also einem politischen Fall, Problem oder Konflikt, […] ein Allgemeines entdeckt [wird], das als Schlüsselkategorie an einem neuen Besonderen wiedererkannt werden kann“ (ebd.). Der Aufbau kognitiver Strukturen verläuft, so beschreibt es das Pulsschlagtheorem nach Hilligen, als „ein Wechselspiel von Konkretion und Abstraktion“ (ebd.). Kognitive Konflikte werden ausgelöst und evozieren Lernprozesse, wenn bisherige Vorstellungen auf neue Vorstellungen treffen. In der Perspektive des Konstruktivismus (Piaget) ist der Prozess der Informationsverarbeitung und Problemlösung weniger zentral – im Mittelpunkt steht
die Eigenleistung des lernenden Subjekts, dessen Problemgenerierung in Entdeckungssituationen. Neues wird demnach zunächst an vorhandene Sichtweisen assimiliert, um in produktiven Lernkrisen an neue Vorstellungen akkommodiert zu werden. Dann sprechen wir von Konzeptwechsel oder -wandel. Eine solche Perturbation (also Störung) benötigt Momente starker Enttäuschung oder Überraschung […]. (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 180)
Längsschnittstudien zur Entwicklung des politischen Bewusstseins (Fend, 1991; Grob, 2009) sowie Jugendstudien (Gille & Krüger, 2000; Torney-Purta et al., 2012) liefern Befunde über die mögliche und anzuregende Entwicklung politischer Kompetenzen. In Anlehnung an das Modell der moralischen Urteilsfähigkeit nach Kohlberg hat die Fachgruppe Sozialwissenschaften (Behrmann et al., 2004) ein entwicklungslogisches Graduierungsmodell entwickelt, das keine Zuordnung zu Altersgruppen vornimmt. In der folgenden Variante der Autorengruppe Fachdidaktik (siehe Tab. 3.2) werden die Kompetenzen Analysefähigkeit, Urteilsbildung und Handlungsfähigkeit mit den Niveaus Person, Institution und System der Fachgruppe Sozialwissenschaften, ergänzt durch die Ebene der Teil-Öffentlichkeit durch Petrik (2013a, S. 340–350), zusammengebracht. Jene Niveaus können auch als politische Urteilsniveaus verstanden werden, um über die formal-argumentative Performanz auf das politische Werturteil zu schließen (Petrik, 2012, S. 39 f.). Als zentrale Prämisse liegt zugrunde, dass sich die schulische Beurteilungspraxis „allenfalls auf formale Anforderungen – wie die innere Widerspruchsfreiheit – und auf den Grad der Komplexität in der Begründung, nicht aber auf die inhaltliche Position selbst beziehen“ darf (GPJE, 2004, S. 15).
Tabelle 3.2
Entwicklung politischer Kompetenzen, aus Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 186
Privat:
Mikro-Ebene
Teil-öffentlich:
Meso-Ebene
Institutionell:
Makro-Ebene
Systemisch:
Meta-Ebene
Analysefähigkeit
Personalisierung, Ontologisierung
Unterscheidung von Werten, Interessen, Ursachen
Vergleich der policy-, polity- und politics-Dimension
Explizite und kritische Anwendung sozial-wissenschaftlicher Theorien, Befunde und Methoden
„Diskursbürger“, aktive verständigungs-orientierte Einmischung in Gesellschaftsgestaltung
Kompetenzzuwächse manifestieren und offenbaren sich an einer zunehmenden Ausdifferenzierung sowie Erweiterung des antizipierten Personenkreises und Bezugshorizonts. Inhaltlich verläuft der Bildungsgang von subjektiv-privaten hin zu systemisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweisen von Gesellschaft: „Ein konsensuelles didaktisches Minimum geht also von einer idealtypischen Entwicklung von situationsgebundenen, konkreten, unreflektiert-egozentrischen und autoritätsbezogen zu reflexiven, transpersonal-verfahrensorientierten, pluralistischen, eigene Interessen abwägenden politischen Einsichten aus“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 182). Für die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung lassen sich unbegründete Meinungen (privates Niveau) von begründeten Urteilen unterscheiden, in denen andere Sichtweisen berücksichtigt (teil-öffentliches Niveau), der institutionelle Ordnungsrahmen einbezogen werden (institutionelles Niveau) und vor dem Hintergrund der eigenen politischen Identität – also auch im Bewusstsein eigener Werte und Interessen – systemische Schlussfolgerungen gezogen werden: „Urteile beschränken sich zunächst auf affektive, selbstbezogene Kriterien wie Sympathie und persönlicher Nutzen, Moralisieren herrscht vor. Erst nach und nach ist eine kritische Distanz möglich, die Urteilskriterien wie Legitimität, Effizienz, Pluralismus und Gemeinwohl erlaubt“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 181). Inhaltlich und formal steigert sich sukzessive die Komplexität der politischen Urteilsbildung.
Auf die Frage nach dem Komplexitätsniveau eines politischen Urteils nehmen Massing und Schattschneider (2005, S. 30) eine andere Perspektive ein. Aussagen über das Entwicklungsniveau werden mit Bezug auf die getätigte Bewältigung einer konkreten Aufgabe getroffen. Dies diente einer Operationalisierung politischer Urteilsfähigkeit im Rahmen einer Testreihe an Schulen mit standardbezogenen Aufgaben. Unter Bezugnahme auf die EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung) und die Stufen der scientific literacy nach Bybee (1997) werden Anforderungsbereiche und Anforderungsstufen unterschieden. Wie die Tabelle 3.3 zeigt, werden die Stufen nicht inhaltlich definiert, sondern nach Zunahme an formaler Komplexität betrachtet.
Tabelle 3.3
Anforderungsbereiche der Kompetenz Urteilsfähigkeit, aus Massing & Schattschneider, 2005, S. 30
Eine oder mehrere ausdrücklich angegebene politische Informationen identifizieren
Den Hauptgedanken des Textes oder die zentrale Kontroverse erkennen
Eine eigene Meinung formulieren
Stufe 2
Aus konkurrierenden Informationen die richtigen auswählen
Die Begründung den Positionen in der Kontroverse zuordnen
Eine eigene Meinung mit Bezug auf die Informationen der Texte und der eigenen Schlussfolgerungen äußern und begründen
Stufe 3
Beziehungen der Informationen untereinander herausfinden
Die Informationen/ Positionen des Textes erkennen und sie auf vergleichbare Probleme anwenden
Ein eigenes Urteil fällen; mit Hilfe der Informationen, der Schlussfolgerungen und darüberhinausgehenden Überlegungen begründen
Ein Vorteil des Modells nach Massing und Schattschneider (2005) besteht in seiner operationalisierenden Funktion in forschungspragmatischer Absicht. Es erlaubt eine konsequente Konzentration auf die aufgabenbezogene Performanz der Urteilsfähigkeit. Genau hierin besteht auch ein wesentlicher Nachteil, da nicht sicher ausgeschlossen werden kann, ob nicht lediglich Textverstehen überprüft wird.
Abschließend kann festgehalten werden, dass die soziomoralischen Theorieansätze weiterhin auch für die fachliche Vorstellung von fachspezifischen Kompetenzzuwächsen von Bedeutung sind – wenn auch die Annahme einer zu durchschreitenden Stufenfolge überholt ist. Urteilsprozesse sind meist stark kontextspezifisch und erweisen sich insofern auch als inkonsistent. Verallgemeinerbare Aussagen über den möglichen Transfer in andere Kontexte können daher nicht getroffen werden (Lempert, 1990). Der empirischen Erforschung politischer Urteilsbildung sind damit deutliche Grenzen gesetzt; untersucht werden kann letztlich nur die Performanz in spezifischen Kontexten und zu spezifischen Themen. In der vorliegenden Arbeit wird daher Urteilsbildung im Kontext einer konkreten Lerneinheit und zu einem spezifischen Thema (Landwirtschaft und Ernährung als Problemstellung einer nachhaltigen Entwicklung; siehe Kap. 5) betrachtet. Sowohl das domänenspezifische Entwicklungsmodell der Autorengruppe Fachdidaktik (2017) als auch die forschungspragmatische Graduierung nach formaler Komplexität nach Massing und Schattenschneider (2005) stellen wichtige Bezugspunkte für die Auswertung der Erhebung im Rahmen der Interventionsstudie dar, wenn es darum geht, die Entwicklung von Schüler*innenurteilen zwischen zwei Messzeitpunkten nachzuvollziehen (siehe Abschn. 7.1.1 und 7.1.4).
3.3.3 Zur Förderung politischer Urteilsfähigkeit
Wie in Abschnitt 3.1 beschrieben, besteht das primäre Ziel politischer Bildung in der Förderung der politischen Urteilsfähigkeit. Sie „stellt nicht nur ein besonderes Merkmal, sondern eine wesentliche Voraussetzung von politischer Mündigkeit“ dar (Achour, 2020, S. 244). Entsprechend besteht die wesentliche Aufgabe des Politikunterrichts darin, Lerngelegenheiten zu schaffen, die dem lernenden Subjekt dazu verhelfen, das politische Urteilen mit dem Anspruch zunehmender Komplexität und Differenziertheit einzuüben. Im Folgenden werden sowohl didaktische als auch methodische Prinzipien dargelegt, die politische Urteilsbildung anzubahnen vermögen.
a.
Die didaktische Aufbereitung des Lerngegenstands: Als gesellschaftlich eingebundene Subjekte verfügen die Schüler*innen in der Regel über Vor-Urteile zu gesellschaftlichen Problemstellungen, die implizit oder explizit vertreten werden (Petrik, 2012, S. 58). Jene gilt es im Politikunterricht „durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven (z. B. von verschiedenen Akteur*innen und von Politik Betroffenen), durch die Konfrontation mit anderen Sichtweisen aus der Öffentlichkeit sowie mit Ergebnissen und Perspektiven der Sozialwissenschaften zu erweitern, zu differenzieren und einen Komplexitätszuwachs in der Begründung des Urteils zu ermöglichen“ (GPJE, 2004, S. 15 f.). Wie in Abschnitt 3.2.2 aufgezeigt, ist in einer normativen Bestimmung der Modus der ‚erweiterten Denkungsart‘ der politischen Urteilsbildung inhärent (Juchler, 2005b, S. 107 f.). Die Sichtweisen anderer zu antizipieren und in das eigene Urteil zu integrieren, setzt voraus, dass jene in der Inhaltsauswahl, der thematischen Aufbereitung und materiellen Darbietung repräsentiert werden. Diese Aspekte finden Ausdruck in den didaktischen Prinzipien der Kontroversität und Exemplarität. Die politikdidaktischen Makromethoden (wie die Problemstudie, die Konfliktanalyse, die Dilemma-Methode) haben allesamt das Ziel, politische Urteilsbildung anzubahnen (Reinhardt, 2022).
b.
Zugänge gestalten und Erfahrungsräume aufspannen: Mit dem Einbezug multipler Perspektiven im Sinne einer konflikt- und problemorientierten Didaktik werden Räume für diverse innere Repräsentationen und komplexe Bewertungen aufgespannt. Juchler (2005a) verweist auf Erkenntnisse der Neurobiologie und Gehirnforschung:
Danach lässt sich der orbitofrontale Kortex, ein über den Augen gelegener Bereich der Großhirnrinde, als Sitz der höchsten moralischen Instanz im menschlichen Gehirn ansehen, der für die Unterscheidung von Gut und Böse, die Verfolgung von Zielen und das Sich-in-andere-Hineinversetzen zuständig ist. Hier findet mithin die Bewertung von Objekten und Geschehnissen statt, welche durch die Erziehung stark beeinflusst werden und in der Regel in Vorstellungen über gesellschaftliche Normen und Moral einmünden (…). (Juchler 2005a, S. 72)
Dementsprechend „ist die Varianz der frühen Erfahrungen von entscheidender Bedeutung“ (ebd.) – jene führt Spitzer (2014) zufolge zu einer differenzierten und komplexeren Urteilsbildung:
Durch viele unterschiedliche Erfahrungen, durch unser Reiben an den Vorstellungen anderer und durch unser damit verbundenes dauerndes Bewerten werden Räume für Repräsentationen eröffnet, oder besser: aufgespannt. Je differenzierter diese Räume angelegt werden (und dies geschieht noch bis nach der Pubertät), desto eher ist der Erwachsene später zu Bewertungen komplexer Sachverhalte in der Lage. (Spitzer, 2014, S. 346)
Die dargelegten Einsichten konturieren das didaktische Potenzial eines erfahrungsorientierten politischen Unterrichts. Insbesondere außerschulische Lernformen vermögen in besonderer Weise jenes Prinzip in der Unterrichtspraxis zu realisieren. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel 4 weiter eingegangen. Ebenso knüpfen diese Erkenntnisse der Neurobiologie und Gehirnforschung auch an die Vorstellungen der sozialkonstruktivistischen Lerntheorie an. Es gilt die sozialkonstruktivistische Annahme, dass eine Konfrontation mit unterschiedlichen Sichtweisen Menschen dabei unterstützt, sich ein Urteil zu bilden (Doise & Mugny, 1984; Doise et al., 1998; Perret-Clermont, 1980; 1993; Piaget, 1989; Vygotsky, 1978). Kontroversität und Pluralität erfahrbar zu machen, begründet sich nicht nur als fachlich relevant für politische Lernprozesse, da sie Wesensmerkmale des demokratisch Politischen darstellen, sondern ist auch für die didaktische Gestaltung von politischen Lernprozessen in motivationaler und emotionaler Hinsicht von Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Standpunkten kann sozio-kognitive Konflikte evozieren und zur Weiterentwicklung oder Reorganisation der eigenen kognitiven Strukturen führen (Perret-Clermont et al., 2004).
c.
Urteilendes Probehandeln durch Kontroversverfahren und spezifische Lehr-Lern-Arrangements: Bereits Kant wies auf den Umstand hin, dass die Urteilskraft „ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ (2010, S. 166). Die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung im Politikunterricht zu fördern, setzt eine diskursive, kontroverse Unterrichtsgestaltung voraus. Gezielt Perspektivenübernahme und -wechsel anzuregen, kann durch Diskussionsverfahren und Simulationen wie beispielsweise Pro-Contra-Debatten, Talkshows oder Plan- und Entscheidungsspiele sowie auch durch das Schreiben von Leserbriefen oder Kommentaren angeregt werden (Achour, 2020; Juchler, 2005a, S. 72 f.), wie auch in zahlreichen Studien belegt werden konnte (bspw. Lutter-Link & Reinhardt, 1993; Rodriguez-Dono & Hernández-Fernández, 2021). Dabei können verschiedene Urteilsarten (Werturteile, Entscheidungsurteile und Gestaltungsurteile) (Detjen, 2013a) in spezifische Aufgabenstellungen münden. Die Lernenden können sich im urteilenden Probehandeln auf eine handlungsorientierte Weise als politisch Sprechende und Urteilende wahrnehmen und ausprobieren.
Dies bedeutet, dass Lernarrangements der politischen Bildung so zu inszenieren sind, dass erstens im Diskurs der Teilenehmenden [sic] eine Vielfalt von möglichen Perspektiven auf die behandelten Gegenstände sichtbar wird, dass zweitens den Lernenden die Möglichkeit gegeben wird, sich in dieser Perspektivenvielfalt selbst zu verorten und sie drittens ihren Standpunkt im Gespräch mit den Anderen prüfen, verteidigen und durchsetzen oder gegebenenfalls auch revidieren können, um sich so an der Gestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten zu beteiligen. (Oeftering, 2020, S. 69 f.)
Das Gelingen urteilsfördernder Bildungsprozesse setzt voraus, dass sie im Politikunterricht stattfinden. Tatsächlich wird häufig bilanziert, dass der unterrichtspraktische Stellenwert von Urteilsphasen in der alltäglichen Unterrichtspraxis als gering eingeschätzt wird (Petrik, 2012, S. 32). Der Primat einer reinen Wissensvermittlung statt eines ergebnisoffenen Diskurses (Oeftering, 2013, S. 70 ff.) sowie ein beliebiger Umgang mit scheinbar gleichwertigen Meinungen (Behrens, 2014, S. 70 ff.) steht dem Ziel, politische Urteilsfähigkeit zu fördern, entgegen. Entsprechend hängt die Qualität der unterrichtlichen Urteilspraxis neben dem Raum, den sie benötigt, auch von der Orientierung an Urteilskriterien ab, die eigene und fremde Argumente vergleich- und beurteilbar macht: „Was soll uns bei der Urteilsbildung leiten? Welche Rolle sollen Fakten und welche Rolle sollen Wertmaßstäbe spielen? Können wir die Tatsachen ignorieren, welche Werte sind uns am wichtigsten? Wie wollen wir mit ‚beteiligten‘ Emotionen oder abweichenden Positionen umgehen?“ (May, 2019, S. 53). Somit ist die Metareflexion über das Urteilen selbst ein zentraler Bestandteil einer urteilsfördernden Unterrichtspraxis.
3.4 Studien zur politischen Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung
Im Folgenden wird ein Blick auf Forschungsarbeiten gerichtet, die sich mit Urteilsbildung als Forschungsgegenstand auseinandersetzen. Da empirische Studien zur politischen Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung kaum vorhanden sind, erfolgt die Darstellung des empirischen Forschungsstandes in einem Prozess der Annäherung, indem auch benachbarte Forschungsdiskurse rezipiert werden. Somit sind nicht nur die Erkenntnisse selbst, sondern auch die verschiedenen forschungsmethodischen Zugänge zur Urteilsbildung für die vorliegende Arbeit relevant. In einem ersten Schritt werden Forschungsperspektiven und Befunde zu verschiedenen Dimensionen politischer Urteilsbildung im Kontext der Politikdidaktik skizziert (Abschn. 3.4.1). In einem zweiten Schritt werden weitere Zugänge zur Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung erläutert: Zum einen wird das im BNE-Bereich prominente naturwissenschaftsdidaktische Konzept der Bewertungskompetenz dargelegt und zum anderen werden die Befunde rekonstruktiver Studien vorgestellt, die Charakteristika in der Urteilspraxis im Umgang mit Komplexität aufzeigen und wiederum für Untersuchungen zur politischen Urteilsbildung von Interesse sind (Abschn. 3.4.2).
3.4.1 Politikdidaktische Forschungsperspektiven auf politische Urteilsbildung
Die Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und Offenheit sind konstitutiv für das Politische und stellen je nach methodologischem Zugang spezifische Herausforderungen für die empirische Erforschung politischer Bildungsprozesse dar. Darüber hinaus herrscht in der Politikdidaktik ebenso nur bedingt Einvernehmen über die Bestimmung und Operationalisierung zentraler Konzepte und Kompetenzen. Im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen ist die empirische Forschungslage insgesamt weniger stark ausgeprägt – dies gilt insbesondere für „[d]as Herzstück der politischen Bildung […]: die politische Urteilskompetenz“ (Biedermann & Reichenbach, 2009, S. 879).
Obwohl die politische Urteilsbildung das primäre Anliegen der Politischen Bildung darstellt, existieren kaum empirisch ausgerichtete Forschungsarbeiten (May et al., 2020; Sander, 2012). Dies ist wenig verwunderlich, wenn an einem vielschichtigen und theoretisch belastbaren Begriff von Bildung und individueller Urteilsbildung festgehalten werden soll, der die Themen- und Kontextspezifika eines immer nur vorläufigen politischen Urteils berücksichtigt. Die forschungspraktischen Schwierigkeiten bestehen primär darin, der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden und jene empirisch einzufangen. Biedermann und Reichenbach (2009) sehen den Grund dafür vor allem in einem Theoriedefizit und Mangel „an überzeugenden Versuchen“, ein „kompetenztheoretisch gefasste[s] Modell des politischen Urteils zu präzisieren und zu überprüfen“ (ebd., S. 879). Manzel und Weißeno bilanzieren auch im Jahr 2017, dass es „noch kein Modell der Politikdidaktik“ gäbe, „das den Anforderungen systematischer Forschung“ genüge (2017, S. 61). Vor dem Hintergrund der fehlenden Operationalisierung des Konzepts politischer Urteilskompetenz sind nach aktuellem Stand zwei Vorschläge zu verzeichnen: Das Modell nach Manzel und Weißeno (2017), welches aus dem Modell zur Politikkompetenz (Detjen et al., 2012) entwickelt wurde, sowie der Vorschlag zur Operationalisierung der Werturteilskompetenz von May et al. (2020), welcher an die Arbeiten zur moralischen Urteilsfähigkeit von Georg Lind anschließt. Beide Vorschläge konnten jedoch (noch) nicht zufriedenstellend validiert werden (siehe Schmidt, 2022 hinsichtlich des Modells nach Manzel & Weißeno, 2017). Im Falle des Modells von May et al. (2020) steht die Entwicklung und Validierung eines theoretischen und operationalisierbaren Konstrukts, in dem sowohl die wert- als auch sachbezogene Dimension politischer Urteilskompetenz integriert ist, aus. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass es keine experimentellen und quasi-experimentellen Interventionsstudien gibt, in der die politische Urteilskompetenz die abhängige Variable darstellt und die Wirksamkeit einer Intervention auf die Urteilskompetenz untersucht wird (ebd.). Vor dem Hintergrund der Schlussfolgerungen aus Abschnitt 3.3.2 stellt sich die Frage, inwieweit Validität bei diesem Forschungsgegenstand überhaupt erreicht werden kann. Für die vorliegende Arbeit folgt daraus, dass auf kein operationalisiertes und validiertes Konstrukt zurückzugreifen ist.
Die bisherige Forschung ist daher vornehmlich der qualitativen Forschung zuzuordnen, die sich überwiegend auf einzelne Unterrichtsstunden oder -methoden bezieht. Zentral sind dabei die Arbeiten von Massing, in denen gezeigt werden konnte, dass die angemessene Integration von Wert- und Sachurteil eine Schwierigkeit im Urteilsprozess vieler Lernenden darstellt (Massing, 1997; 2003; 2006). Die nach wie vor viel rezipierte Untersuchung mit Jugendlichen des 13. Jahrgangs eines Gymnasiums zum Thema ‚Entwicklungsländer‘ ergab, dass die Argumente lediglich dem Urteilsmaßstab der Effizienz zuzuordnen waren (Massing, 1997, S. 127). Selbst die vorherige schüler*innenseitige Anwendung eines Kategorienrasters, das die Kategorien Effizienz und Legitimität umfasst, führte nicht zur Berücksichtigung jener bei der Formulierung eines eigenen Urteils (ebd., S. 131). Auch in der Analyse von Lach (1997) zu einer Unterrichtsstunde zum Thema Castor-Transporte wurde geschlussfolgert, dass sich politische Urteilskompetenz nur ansatzweise zeige.
Diese früheren Studien zeigen zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass Urteilen eine anspruchsvolle kognitive Operation darstellt. Dies unterstreichen auch Befunde aus der pädagogisch-psychologischen Forschung, die zeigen, dass Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen eher Schwierigkeiten haben, verschiedenen Perspektiven zu koordinieren und die Aufmerksamkeiten etwa auf zwei widerstreitende Positionen zu richten (Kuhn & Udell, 2007). Zum anderen sensibilisieren die Befunde von Massing und Kuhn aber auch für die Probleme einer deduktiven Vorgehensweise, die die hohen normativen Ansprüche an die politische Urteilsfähigkeit zum Ausgangspunkt macht und somit Gefahr läuft, den Blick auf die Besonderheiten der konkreten Urteilspraxis zu versperren. Gerade im Lichte der Schüler*innenvorstellungsforschung wird in didaktischer Perspektive eine defizitorientierte Betrachtung von alltagsweltlichen Vorstellungen und Urteilspraktiken abgelehnt (Klee, 2008, S. 266).
Forschungsmethodisch wurde sich in vielen politikdidaktischen Forschungsarbeiten von einer starren Ausrichtung auf das Sach- und Werturteil im Urteilsprozess verabschiedet und die Perspektive mit Blick auf weitere urteilsrelevante Phänomene erweitert. In neueren fachdidaktischen Studien gerät damit etwa die begründende und abwägende Praxis des Argumentierens auf der Basis der Argumentationstheorie nach Toulmin (1975) in den Fokus (Gronostay, 2019; Petrik, 2013b; Richter, 2012; Schmidt, 2022). Dabei wird das Argumentieren entweder als eigenständig zu fördernde Teilkompetenz begriffen (Richter, 2012) oder aber als Schlüssel zur Rekonstruktion der politischen Urteilsbildung genutzt (Petrik, 2013a).
Petrik (2013a) rekonstruiert politische Bildungswege und Politisierungstypen von Schüler*innen vor dem Hintergrund latenter und manifester politischer Werthaltungen mithilfe einer Argumentationsanalyse und einem vierstufigen Kompetenzmodell (ähnlich zu Tab. 3.2). Der Forschungsrahmen stellt das genetische Lehr-Lern-Arrangement eines Dorfgründungsszenarios dar, welches „als Projektionsraum für kontroverse Gesellschaftsbilder“ fungiert (Petrik, 2012, S. 35). Analysiert werden die Urteilsprozesse im Rahmen einer spezifischen Lerneinheit mit Blick darauf, wie sie sich argumentativ manifestieren und wertebezogen weiterentwickeln. Der politische Kompass in Anlehnung an das Modell des Parteienforschers Kitschelt (2003) fungiert als Wertehorizont zur politischen Urteilsbildung und macht die Urteilsprozesse im Hinblick auf die zugrundeliegende Werteorientierung analysierbar (siehe Abb. 3.1): Das Koordinatensystem ist von zwei Konfliktlinien durchzogen, deren Pole zentrale Grundwerte illustrieren. Die horizontale Achse zeigt die wirtschaftspolitische bzw. distributive Konfliktlinie und spannt ein Kontinuum zwischen den Werten ‚Soziale Gleichheit‘ und ‚Wirtschaftsfreiheit‘ auf: „Wie sollen Güter hergestellt, wie die AkteurInnen damit ausgestattet werden“? (Petrik, 2013b, S. 164). Die vertikale Achse stellt hingegen die gesellschaftspolitische, soziokulturelle Konfliktlinie zwischen den Polen ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Autorität‘ dar: „Wer sind die demokratisch relevanten AkteurInnen und welche zentralen Umgangsregeln sollen auf welche Weise durchgesetzt werden“? (ebd.).
×
In dieser Forschungsperspektive wird der Urteilsprozess von der unbegründeten Meinung zum politischen Urteil nicht nur als sachlich-analytische Klärung verstanden, sondern vielmehr als Freilegung von und Arbeit an zugrundeliegenden subjektiven politischen Wertorientierungen:
Ging die Politikdidaktik bisher davon aus, dass vor allem sachlich-analytische Klärungen zu einem angemessenen Werturteil befähigen würden, so drängt sich nun der Verdacht auf, dass die Beschäftigung mit eigenen und fremden Wertesystemen eine wesentliche Voraussetzung für adäquate Sachurteile ist. (Petrik, 2012, S. 32)
Politische Werteorientierungen von Individuen spielen für die Urteilsbildung eine entscheidende Rolle. Sie können in ihrer Genese in erster Linie auf die sozioökonomische Lage und die damit verbundenen Handlungsspielräume (action resources) zurückgeführt werden (Welzel & Inglehardt, 2009; vgl. Petrik, 2013b). Hieraus ergeben sich auch milieu- und damit habitusspezifische Zugänge zum politischen Feld (Bourdieu, 1982; Bremer, 2010). Dennoch zeigt sich, dass gesellschaftliche Ereignisse zu kollektiven Verschiebungen der ansonsten relativ stabilen Werteorientierungen führen können: Studien konnten belegen, dass materialistische Wertorientierungen sich etwa in Folge terroristischer Anschläge und postmaterialistische nachhaltigkeitsbezogene Werteorientierungen in Folge von Umweltkatastrophen verstärken (Dietmaier-Jebara, 2005, S. 332 f.). Entsprechend können gegenwärtig auch kollektive Verschiebungen durch soziale Bewegungen wie „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“ oder die „Letzte Generation“ gerade unter Jugendlichen angenommen werden. Die empirischen Untersuchungen politischer Orientierungen decken die Voraussetzungen für bzw. Einflussfaktoren auf die individuelle Urteilsbildung auf und sensibilisieren gleichermaßen für ihre assimilatorische Bedeutung in der alltäglichen Urteilspraxis, insbesondere im Kontext heuristischer und unsystematischer Urteilsbildung (siehe Abschn. 3.2.1).
Neben der Bedeutung politischer Werteorientierungen erhält auch der Einfluss von Emotionalität auf die politische Urteilsbildung in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit (Schröder, 2020). Im Sinne eines emotionssensiblen Politikunterrichts geht es dabei vor allem um einen kritischen und bewussten Umgang mit Emotionen, die als subjektive Gewissheiten zur Begründung in Urteilsbildungsprozessen herangezogen werden (Besand, 2015, Eis & Metje, 2019; May, 2020; Petri, 2018, S. 267; Weber-Stein, 2019). Der Fülle an theoretischen Arbeiten stehen kaum empirische Untersuchungen der Politikdidaktik gegenüber (Schröder, 2020, S. 45).
Das Wissen betrifft eine weitere Dimension politischer Urteilsbildung, die in der Didaktik der Politischen Bildung hinsichtlich der Bedeutung domänenspezifischer Basis- und Fachkonzepte diskutiert wurde (Autorengruppe Fachdidaktik, 2011; Weißeno et al., 2010). Im Hinblick auf die Urteilsbildung ist aus der Conceptual-Change-Forschung (Stark, 2002; Vosniadou, 2007) bekannt, dass konfligierende Informationen nicht notwendigerweise zur Übernahme neuer Vorstellungen und zu einem Konzeptwechsel führen, wie es theoretisch angenommen wird (Chinn & Brewer, 1998). Wenn neue Informationen alten Vorstellungen widersprechen, werden die neuen Informationen häufig ignoriert, zurückgewiesen, als irrelevant ausgeschlossen oder reinterpretiert. Zwar nicht aus dem Kontext der Politikdidaktik, aber dennoch politikdidaktisch relevant ist der Befund zum Urteilen im Chemieunterricht zu gesellschaftlichen Themen: Menthe (2012, S. 161) konnte feststellen, dass „erworbenes Wissen nicht notwendig zur Veränderung des Urteilens und Bewertens führt“. Bereits in älteren Studien konnte gezeigt werden, dass Lernende unterrichtlich erworbenes Fachwissen kaum in ihre lebensweltlichen Urteile integrieren und sich bestehende Meinungen trotz Lernerfolg als stabil erweisen (Günkel & Münzinger, 2002; Menthe & Parchmann, 2004). Die Tendenz, an einem einmal gefällten Urteil trotz neuer Informationen festzuhalten, verdeutlicht, dass eine rein kognitivistische Betrachtungsweise für die politische Urteilsbildung nicht angemessen ist. Stattdessen spielen emotionale und motivationale Aspekte sowie Interessen und konkrete Kontexte eine elementare Rolle, wie Pintrich et al. (1993) in ihrem Aufsatz mit dem Titel Beyond Cold Conceptual Change herausstellen. Hieraus lässt sich mit Blick auf die politische Urteilsbildung nicht nur ableiten, dass ein Lernen in authentischen Kontexten und situiertes Lernen lernförderlich sind, sondern auch, dass „durch die Kontextualisierung Überzeugungen aktiviert werden“ könnten, „die so stabil sind, dass der Unterricht seine Wirkung verfehlt“ (Menthe, 2012, S. 175).
Wie kann der Weg von der „Alltagsmeinung zum politischen Urteil“ didaktisch geebnet werden, damit eine Entwicklung von monokausalen zu komplexen Begründungen, von egozentrischen zu multiperspektivischen Betrachtungsweisen, von der Bindung an tradierte Werten der sozialen Gruppe zu abstrakten demokratischen Grundwerten gefördert werden kann (Klee, 2011)? Die empirischen Erkenntnisse über die Schwierigkeiten und Einflussfaktoren im Urteilsprozess tragen dazu bei, politische Urteilsbildung als mehrdimensionalen Prozess zu verstehen, in dem wert- und sachbezogen Informationen verarbeitet, Perspektiven übernommen und koordiniert, Argumente begründet und Schlüsse vor dem Hintergrund von politischen Wertorientierungen und Emotionen gezogen werden. Sie stiften zugleich den Anlass, lebensweltorientierte Zugänge wie das außerschulische Lernen kritisch und empirisch zu prüfen (siehe Kap. 4). Die dargelegten Befunde sind insbesondere für die Urteilsbildung zu nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellungen von zentraler Bedeutung. Die Kombination der kognitiv anspruchsvollen Tätigkeit des Urteilens und der Komplexität des Lerngegenstandsbereichs stellt eine Herausforderung dar, die es in der Konzeption von Lehr-Lern-Situationen zu bewältigen gilt.
3.4.2 Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung
Im Kontext der Politischen Bildung ist der Begriff des Urteilens bzw. Beurteilens (sowie der Urteilskraft und der Urteilsfähigkeit) maßgebend, wobei die geisteswissenschaftliche Tradition zur Aufklärung – auch in der Bindung an das Leitbild der Mündigkeit – ein relevanter theoretischer Bezugspunkt ist (siehe Abschn. 3.2.2). Wie in Abschnitt 2.2 bereits deutlich wurde, dominiert im Kontext einer BNE in verschiedenen Kompetenzmodellen hingegen der Begriff des Bewertens (KMK & BMZ, 2016; de Haan, 2008), wie dies auch in den naturwissenschaftsdidaktischen Fachbeiträgen der Fall ist (Bögeholz et al., 2018).
Auf den ersten Blick scheinen sich Bewertungskompetenz und politische Urteilsfähigkeit dahingehend zu unterscheiden, dass das Bewerten ein Bewerten im Sinne des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung anstrebt, während das Urteilen in politikdidaktischer Perspektive einen vermeintlich offeneren Prozess beschreibt, der keine bestimmte Positionierung anstrebt und dessen Qualität nur im Hinblick auf formale Anforderungen zu bestimmen ist (Berücksichtigung von Perspektiven, logische Argumentation; GPJE, 2004; Autorengruppe Fachdidaktik, 2017). Jedoch ist einerseits festzuhalten, dass die Bezogenheit auf demokratische Werte, Menschenrechte und eben auch auf Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz für politische Werturteile konstitutiv ist. Andererseits sehen auch die nachhaltigkeitsbezogenen Modelle keine eindimensionale Leitbild-Staatsbürgerkunde vor (siehe Abschnitt 2.2). Eine differenzierte Sichtweise muss vielmehr die zugrundeliegenden Verständnisse von Urteilen und Entscheiden betrachten (siehe Abschn. 3.2.1; siehe Sander, 2017). Im Folgenden wird exemplarisch der naturwissenschaftliche Forschungsdiskurs zur Bewertungskompetenz mit dem Ziel skizziert, Erkenntnisse für die Spezifika nachhaltigkeitsbezogener Urteilsprozesse zu generieren.
Im naturwissenschaftsdidaktischen Forschungsdiskurs um Urteilsbildung im Kontext einer BNE ist das Konzept der Bewertungskompetenz systematisch erarbeitet und empirisch untersucht worden (Bögeholz et al., 2018). Im Zuge einer BNE erhalten gesellschaftliche, politische, ökonomische und ethische Fragen neben den fachlichen, naturwissenschaftlichen Schwerpunkten vermehrt Aufmerksamkeit (Sadler, 2011). Vor dem Hintergrund entscheidungs-, moral- und entwicklungspsychologischer Bezugstheorien widmen sich eine Reihe von biologiedidaktischen Forschungsarbeiten der Modellierung und Förderung von Bewertungskompetenz (Bögeholz et al., 2017; Hößle, 2007; Hostenbach et al., 2011). Das Modell zur Bewertungskompetenz nach Bögeholz et al. (2017) bezieht sich explizit auf „Gestaltungsaufgaben Nachhaltiger Entwicklung“, wobei es darum geht, Handlungsoptionen abzuwägen und zu bewerten. Vier empirisch fundierte Teilkompetenzen werden unterschieden: Beschreiben und Entwickeln von Handlungsoptionen, das Vollziehen eines Perspektivwechsels sowie das qualitativeund quantitative Bewerten von Handlungsoptionen.4 Die Forschungsarbeiten, die in diesem Kontext entstanden sind, verstehen den Terminus des Bewertens – auch vor dem Hintergrund entscheidungspsychologischer Theorieansätze – als ein systematisches Entscheiden zwischen konkreten Handlungsoptionen (Bögeholz, 2007; Bögeholz & Barkmann, 2014; siehe Abgrenzung in Abschn. 3.2.1).
In verschiedenen Interventionsstudien erwiesen sich das kooperative Lernen (Eggert et al., 2010; 2013), spezielle Entscheidungsstrategietrainings (Gresch et al., 2013) sowie eine kritische und wertebasierte Reflexion bioethischer Dilemmata im Unterricht (Hößle, 2001; Hößle & Alfs, 2014) als wirksam in Bezug auf die Förderung einzelner Teilkompetenzen der Bewertungskompetenz. Nichtsdestotrotz werden die verschiedenen Versuche, Bewertungskompetenz zu messen, kritisch diskutiert, da die Validität – wie auch für den politikdidaktischen Kontext (siehe Abschn. 3.4.1) – infrage gestellt wird. „[B]ildungswirksame Aspekte“ wie der Subjektbezug und die Reflexion werden in einigen Modellierungen „aus modelltheoretischen oder forschungspragmatischen Gründen“ nicht berücksichtigt (Dittmer et al., 2016, S. 104). Denn die Urteilsbildung wird in vielen Forschungsarbeiten nicht als sozial eingebettete Praxis verstanden, sondern als ein Bewertungsprozess des rationalen Abwägens und logischen Schlussfolgerns im Sinne der Rational-Choice-Theorie (Braun & Gautschi, 2011). Hößle und Menthe (2013) betonen, dass jenes Verständnis von Bewertung durch die Nationalen Bildungsstandards (KMK, 2004) nahegelegt wird. Hößle und Menthe stellen heraus (2013, S. 35):
Die Schwierigkeiten liegen dabei nicht nur in der Problematik, die Qualität von Urteilen in angemessener Weise Kompetenzstufen zuzuordnen und so messbar zu machen, sondern beginnen einen Schritt früher, nämlich in der in den Bildungsstandards nahe gelegten verbindlichen Festlegung auf eine bestimmte Art und Weise des Urteilens und Entscheidens in Anlehnung an die Rational-Choice-Theorie.
Die von Hößle und Menthe (2013) beschriebene Problematik ist in einem größeren Zusammenhang mit der forschungsmethodischen Herausforderung verbunden, durch standardisierte Testverfahren nicht nur Wissen zu erheben, sondern eben auch die potenzielle Anwendung in realen Anforderungssituationen (Sander, 2017, S. 8). Die vielfach empirisch belegte Erkenntnis, dass Wissen nicht zwangsläufig entsprechenden Handeln führt (value-action gap; knowledge-action gap; siehe Abschn. 2.4.2), ist für den Kontext nachhaltigkeitsbezogener Fragestellungen besonders bedeutsam. Vor diesem Hintergrund ist, insbesondere aufgrund der Domänenspezifika der Politischen Bildung, eine qualitativ und rekonstruktiv ausgerichtete Kompetenzdiagnostik möglicherweise sinnvoller, die eine explizitere Perspektivierung auf die Verstrickung des politischen Subjektes ermöglicht (Martens & Asbrand, 2009, S. 203; Sander, 2017, S. 8).
Eine rekonstruktive Perspektive auf die Bewertungskompetenz, in der Urteilen als sozial eingebettete Praxis aufgefasst wird, richtet Sander (2017) im Rahmen einer Interviewstudie mit Jugendlichen, in der der Umgang mit Komplexität fokussiert wird. Es zeigte sich unter anderem, dass die Befragten die Komplexität von Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung zurückwiesen oder gar leugneten. Er rekonstruiert aus dem Material drei Idealtypen (zit. nach Sander & Höttecke, 2016, S. 94 f.): den „Zukunftsgestalter“, den „Gegenwartsfokussierten“ und den „pessimistischen Fatalisten“. Den Zukunftsgestaltern gelingt ein konstruktiver, positiver Umgang mit Komplexität. Die Zukunft wird als gestaltbar erlebt. Die Gegenwartsfokussierten konnotieren Komplexität eher negativ; sie sind am Hier und Jetzt interessiert und scheinen im Hinblick auf den Klimawandel in resignierter oder hedonistischer Orientierung unbeteiligt. Die pessimistischen Fatalisten blicken negativ in die Zukunft und antizipieren eine weitere Verschlechterung der Lage; komplexe Zusammenhänge werden detailliert analysiert, aber eben als unabänderlich aufgefasst, „eine Gestaltung der Rahmenbedingungen [erscheint] als unmöglich“ (Sander & Höttecke, 2016, S. 95). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass das Urteilen und Entscheiden in Fragen einer nachhaltigen Entwicklung von kollektiv geteilten Werteorientierungen sowie sozialisatorisch und biografisch erworbenen Deutungsmustern stark beeinflusst wird:
Wenn ein Mensch sich selbst in Bezug auf eigenes Handeln gar nicht als wirkmächtig erlebt oder wenn er über sich und die Welt allein in Begriffen der Gegenwart nachdenkt oder wenn sein Nachdenken über die Zukunft wesentlich von ökonomischen Kategorien strukturiert wird, dann besteht die Gefahr, dass der Aufbau von Bewertungskompetenz faktisch scheitert. (Sander & Höttecke, 2016, S. 95)
Diese Erkenntnisse korrespondieren mit den Befunden der rekonstruktiven Studien zur Diskrepanz von nachhaltigkeitsbezogenem Wissen, Werten und Handeln von Jugendlichen, die im Abschnitt 2.4.2 vorgestellt wurden. Überzeugungen, nach denen der individuelle Handlungsspielraum als gering eingeschätzt wird und eine Nahbereichs- und Gegenwartsorientierung überwiegt, prägen und erschweren die für die nachhaltigkeitsbezogene Urteilsbildung relevanten Lernprozesse.
Eine tiefgreifende Analyse von Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf nachhaltigem Konsum gelingt Marchand (2015). Aufgrund der besonderen Relevanz für das vorliegende Forschungsvorhaben wird diese Studie in ausgewählten Aspekten ausführlicher dargestellt. Marchand (2015) setzt sich in ihrer erziehungswissenschaftlichen Dissertation über Urteilskompetenzen für einen nachhaltigen Konsum bei Jugendlichen mit der Frage auseinander, wie
Schüler/innen darauf vorbereitet werden [könnten und sollten], dass ihr Konsum in einem Kontext von komplexen, teils undurchsichtigen Zusammenhängen stattfindet, gekennzeichnet von diversen Zielkonflikten, Verantwortungszuschreibungen und dem diffusen Gefühl, den Anforderungen und Erwartungen nicht gerecht werden zu können. (Ebd., S. 18)
Im Rahmen von Interviews mit Schüler*innen und engagierten jungen Erwachsenen sowie teilnehmenden Beobachtungen rekonstruiert sie das „Urteilen über nachhaltigen Konsum […] als ein[en] Prozess des Bewältigens einer zugeschriebenen individuellen Verantwortung“ (ebd., S. 251). In der Interviewsituation wurden die Befragten mit einer hypothetischen Konsumentscheidungssituation einer Person konfrontiert (Polylemmata zum Thunfisch essen und Handy kaufen). Es werden Informationen zu komplexen Zusammenhängen gegeben – der Impuls lautet daraufhin: „Was würden Sie [der Person] raten?“. Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordert von den Befragten in erster Linie einen Umgang mit einer Fülle an Informationen – darin weniger Geübte erleben Unsicherheit (ebd., S. 252; S. 260 f.). Eine Besonderheit beim Urteilen über nachhaltigen Konsum rekonstruiert Marchand (2015) darin, dass zusätzliche Informationen (etwa über die Produktionsprozesse, die ökologischen Folgen oder die Arbeitsbedingungen) das Problem der Konsument*innen zunächst eben nicht lösen, sondern dieses überhaupt erst entstehen lassen (ebd., S. 255 ff.). Es zeigen sich verschiedene Strategien der Komplexitätsreduktion, wie das Ausblenden oder Uminterpretieren von Informationen:
Das Bestreben, die Komplexität zu reduzieren, lässt – kombiniert mit der Herausforderung zu einer moralischen Bewertung – die Urteilenden zurückgreifen auf Vor(aus)urteile. Diese Strategie macht es möglich, zügig einzelne Verhaltensweisen den Moralkategorien ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zuzuordnen […]. Dabei lässt die subjektiv wahrgenommene Übermacht des Bösen bei einigen ein Ohnmachtsgefühl entstehen, das die ohnehin empfundene Hilflosigkeit angesichts der unentwirrbar scheinenden Komplexität der Polylemmasituationen zusätzlich verstärkt. (Ebd., S. 252)
Die Überforderung angesichts der komplexen Zusammenhänge potenziert sich durch die moralische Dimension – und kann in eine zuspitzende und insofern verkürzende „Identifikation von Gut und Böse“ (ebd., S. 268) münden. Darüber hinaus interpretieren die Befragten Konsumentscheidungen letztendlich als persönliche Angelegenheit (ebd., S. 256). Der moralische Gehalt wird erkannt, aber zur Einstellungssache des Einzelnen degradiert. Die Analyse interpretiert die vielfältigen Komplexitätsreduktionen der Befragten als Strategien der Entlastung. Die Tendenz, Eindeutigkeiten herzustellen, auf bereits getroffene Urteile zurückzugreifen, um so „möglichst zügig den unangenehmen Zustand der Offenheit und Unsicherheit zu beenden“ (ebd., S. 265), durchzieht die Ergebnisse der Studie.
Im Hinblick auf den Umgang mit Informationen konnten drei Typen rekonstruiert werden: „Informationsvermeidende“, „Informationssuchende“ und „Überzeugte“ (ebd., S. 282): Informationsvermeidende urteilen auf Basis vorhandener Informationen – durch die empfundene Sicherheit, auch im Urteilen, findet keine Informationsaufnahme statt. Informationssuchende erhoffen sich mehr Sicherheit im Urteil durch mehr Informationen. Überzeugten gelingt eine Aufnahme zusätzlicher Informationen nur bedingt, da „der Einfluss der Informationen schon geklärt zu sein scheint“ (ebd., S. 283). In den Begründungen der favorisierten Konsumentscheidungen zeigt sich deutlich die Relevanz für das Selbstbild: Während die einen mit der eigenen Nicht-Nachhaltigkeit hadern, kommunizieren die anderen ihre Konsumentscheidung stark distinktiv (ebd., S. 288).
Die Ergebnisse von Marchand (2015) zeigen eindrücklich, dass Urteilsbildung zu nachhaltigkeitsbezogenen Fragestellungen kognitiv anspruchsvoll mit Blick auf die Informationsverarbeitung und emotional anspruchsvoll mit Blick auf das Verantwortungszuschreibung und das Selbstbild ist. Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus den unbewussten Strategien der Komplexitätsreduktion. Marchand sieht in der Schulpraxis in erster Linie die Ökonomische und Politische Bildung in der Pflicht, das „Spannungsfeld von Konsumfreiheit und Nachhaltigkeit“ (ebd., S. 293) aufzugreifen und Handlungsmöglichkeiten der Konsumierenden kritisch zu reflektieren. Als zentral erweist sich dabei eine mehrperspektivische Auseinandersetzung, damit Jugendliche dazu befähigt werden, die Perspektivität von Informationen zu erfassen und dabei lernen, „zwischen sachlichen und wertenden Aussagen [zu] unterscheiden“ (ebd., S. 294).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Forschungsarbeiten dahingehend unterscheiden, dass Urteilsbildung entweder eher als Bewertungs- und Entscheidungsprozess des rationalen Abwägens und logischen Schlussfolgerns oder als sozial eingebettete Praxis und in ihrer Bedingtheit in lebensweltlichen Kontexten verstanden wird. Zweiteres ist dem Gegenstandsbereich sowie dem subjektorientierten Anspruch der Politischen Bildung angemessener und im Hinblick auf reale Anforderungssituationen, in denen Fragestellungen offenbleiben und keine eindeutigen Lösungen geboten werden können, aussagekräftiger (Asbrand, 2014, S. 12). Die Befunde verschiedener rekonstruktiver Studien weisen auf die enormen Schwierigkeiten hin, die die Urteilspraxis von Lernenden angesichts der Komplexität nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen begleiten und erschweren – hierin liegt die Spezifik nachhaltigkeitsbezogener Urteilsprozesse. Die Praxis der Urteilsbildung ist im Lichte empirischer Forschung oftmals inkohärent, inkonsistent und von verzerrenden Komplexitätsreduktionen geprägt, die als kognitive Bewältigungsstrategien im Umgang mit komplexen Informationen und wertebezogenen Ansprüchen fungieren (Marchand, 2015 sowie die präsentierten Forschungsergebnisse in Abschn. 2.4.2). Die lerngegenstandsbezogene Komplexität erhöht die Unsicherheit in der eigenen Urteilsbildung – Komplexität anzuerkennen und wahrzunehmen, kann im ungünstigsten Falle dazu führen, sich nicht positionieren zu können. Diese Befunde zeigen, dass die theoretische Vorstellung von Urteilen und Entscheiden im Sinne des Rational-Choice-Ansatzes, wie sie in einigen naturwissenschaftsdidaktischen Modellierungsversuchen der Bewertungskompetenz zugrunde liegt, die Urteilspraxis von Jugendlichen nicht ausreichend zu erfassen vermag (siehe auch die Kritik von Hößle & Menthe, 2013). Komplexität charakterisiert nachhaltigkeitsbezogene Fragen und fordern die Urteilsbildung heraus. Sie ist nicht nur in einer Vielzahl von Variablen im Verstehensprozess zu erfassen (siehe Abschn. 2.4.1), sondern in ihrer Perspektivgebundenheit, Sozialität, Kontingenz, Ambiguität, Ambivalenz und potenziell öffentlichen Gestaltbarkeit zu verstehen. Trotz der Komplexität handlungsfähig zu sein, d. h. sich dennoch ein Urteil bilden zu können, stellt jedoch das Ziel einer politischen Nachhaltigkeitsbildung dar. Für die bildungswissenschaftliche und politikdidaktische Forschung ergibt sich daraus die Aufgabe, didaktische Zugänge daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie eine elaborierte Urteilsbildung im Umgang mit Komplexität unterstützen.
3.5 Zwei Forschungsperspektiven auf Prozesse politischer Urteilsbildung: Urteilen als Expansion oder Sinnbildung
Die Einblicke in die interdisziplinären Forschungsdiskurse haben gezeigt, dass Urteilsbildung als Forschungsgegenstand auf verschiedene Weisen beleuchtet werden kann. Die theoretischen Perspektiven verhalten sich komplementär zueinander, da sie jeweils unterschiedliche Dimensionen erfassen – sie sollen auch im Rahmen des vorliegenden Forschungsvorhabens hinsichtlich des Forschungszugangs und der jeweils immer nur eingeschränkten Erklärungskraft in einem Ergänzungsverhältnis stehen.
Einerseits wird die Entwicklung der Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung als ein Prozess der Expansion beschrieben. Die Ausdehnung der eigenen, anfangs egozentrischen Perspektive ermöglicht es, zunehmend verschiedene Akteur*innen in ihren Interessen und Absichten sowie die Folgen politischer Maßnahmen zu antizipieren. In einer idealtypischen Vorstellung differenzieren sich Vorstellungen des lernenden Subjekts weiter aus. In konkreten politischen Bildungsarrangements zeigt sich die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung, indem auf unterschiedlich elaborierte Art und Weise und damit auf unterschiedlichen Urteilsniveaus argumentiert wird (siehe Abschn. 3.3.2). In dieser Perspektive stellt die potenzielle Komplexitätszunahme in der Begründung des Urteils einen Indikator für einen entsprechenden Lernzuwachs dar (GPJE, 2004, S. 15 f.). Jene Perspektive wird im Rahmen der Interventionsstudie verfolgt (siehe Kap. 7).
Andererseits haben die empirischen Befunde um den Forschungsgegenstand der nachhaltigkeitsbezogenen Urteilsbildung verdeutlicht, dass Urteilen in realen Anforderungssituationen nach anderen Logiken als der der rationalen Abwägung erfolgt. Urteilsbildung ist vielmehr als sozial eingebettete und kontextgebundene Praxis zu verstehen. Urteilsbildung kann nicht nur formal als ein Zugewinn und eine Ausdifferenzierung der für den Sachverhalt relevanten Kenntnisse und Beurteilungen verstanden werden, sondern stellt im Kern einen Prozess der Sinnbildung dar. Jene Betrachtungsweise trägt einer sozialkonstruktivistischen Sicht auf Lernen (siehe Abschn. 3.3.3) stärker Rechnung:
“Meaning making” designates the process by which people interpret situations, events, objects, or discourses, in the light of their previous knowledge and experience. “Learning as meaning making” is an expression emphasizing the fact that in any situation of learning, people are actively engaged in making sense of the situation – the frame, objects, relationships – drawing on their history of similar situations and on available cultural resources. It also emphasizes the fact that learning involves identities and emotions. (Zittoun & Brinkmann, 2012, S. 1809)
Die Perspektive auf Lernen als Sinnbildung ist besonders im Kontext politischer Urteilsbildung interessant: Lernen wird als Prozess verstanden, in dem Lernende die Objekte der sie umgebenden Welt vor dem Hintergrund ihrer Vorerfahrungen, ihres Vorwissens sowie ihrer soziokulturellen Prägung deuten. Urteilen stellt nicht nur in deduktiver Hinsicht „die Zuordnung eines Wertes auf einer Urteilsdimension zu einem Urteilsobjekt“ dar (Betsch et al. 2011, zit. nach Bröder & Hilbig, 2017, S. 621; siehe Abschn. 3.2.1), sondern ist immer auch ein induktives Schlussfolgern – eine Perspektive, die vor allem auch in der geisteswissenschaftlichen Betrachtung des Urteilens nach Kant und Arendt bedeutsam ist (siehe Abschn. 3.2.2).
Die Betrachtungsweise eines Lernens auf der Basis bestehender mentaler Repräsentationen, auch mentale Modelle genannt (Seel, 1991), die dem Individuum die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit sinnhaft machen und wiederum die Voraussetzungen zum Urteilen darstellen, wird in der Schüler*innenvorstellungsforschung zum lerntheoretischen Ausgangspunkt gemacht. Der Ansatz des Bürgerbewusstseins (Lange, 2008) begreift die Vorstellungen der Individuen als Sinnbildungen:
Jeder Mensch baut mentale Vorstellungen auf, durch die er sich die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit sinnhaft macht. Die Gesamtheit dieser Vorstellungen lässt sich als Bürgerbewusstsein begreifen. Zum einen orientiert sich das Individuum mittels dieser Sinnbildungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zugleich stellen sie die kognitive Grundlage dar, um diese Phänomene zu beurteilen und zu kritisieren. Und schließlich produziert das Bürgerbewusstsein den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene handelnd – also durch „subjektiv sinnhaftes Tun“ – zu beeinflussen. (Kenner & Lange, 2020, S. 186)
Die Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins ermöglichen es, „die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen“ (Lange, 2008, S. 432), „bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber, 1988, S. 180) und „bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus [zu] beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung [zu] nehmen“ (ebd., S. 180 f.). Die vorliegende Arbeit untersucht keine Schüler*innenvorstellungen, sondern ist bestrebt, die angebahnten Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen des Unterrichtsprojektes mit außerschulischen Begegnungen zu einem konkreten Lerngegenstand in den Blick zu nehmen. Dies wird im Rahmen der Interviewstudie ex post stattfinden (siehe Kap. 8). Auf diese Weise soll das subjektive Schlussfolgern – im Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion, außerschulisch Besonderem und schulisch Allgemeinem – themen- und kontextspezifisch empirisch untersucht werden.
Während mit der Interventionsstudie (Studie 1) Urteilen stärker als Prozess der Expansion verstanden wird, fokussiert sich die Interviewstudie (Studie 2) stärker auf das Urteilen als Sinnbildung. Die jeweiligen Erkenntnisse der zwei Forschungsperspektiven auf Prozesse politischer Urteilsbildung werden am Ende der Arbeit in eine Synthese münden (siehe Kap. 9).
3.6 Implikationen für die vorliegenden Studien
Im vorangegangenen Kapitel wurde die politische Urteilsbildung als zentraler Kompetenzbereich der Politischen Bildung vorgestellt. Dabei wurde sowohl ein psychologisches als auch fachdidaktisches Verständnis differenziert. Die Spezifik des politischen Urteils liegt darin, dass das Urteilsobjekt einen politischen Sachverhalt, eine Kontroverse, einen Fall oder Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven (Akteur*innen, Interessengruppen und von Politik Betroffene) darstellt und in der Urteilsbegründung Sach- und Wertaspekte evaluiert werden. Trägt eine politische Maßnahme zu einem gewünschten Ziel bei? Ist etwas gerecht oder auch gerechtfertigt? Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme stellt in normativer Hinsicht die zentrale Verstehensoperation dar, deren kognitive Voraussetzungen im Zuge des Entwicklungs- und Sozialisationsprozesses entstehen. Jugendliche verfügen über jene Voraussetzungen, wobei Studien belegen, dass das dialektische Denken, welches für einen Umgang mit Ambivalenz und Widersprüchen notwendig ist, noch nicht ausgeprägt und in der schulischen Bildung entsprechend pädagogisch und politikdidaktisch zu unterstützen ist (siehe Abschn. 3.3.1). Auch die Befunde zum Umgang von Jugendlichen mit komplexen Themenstellungen einer nachhaltigen Entwicklung (3.4.2: Marchand, 2015; Sander, 2017; siehe Forschungsstand in Kap. 2: Holfelder, 2018; Fischer et al., 2016) offenbaren einen didaktischen Forschungs- und Entwicklungsbedarf hinsichtlich effektiver und bildsamer Vermittlungs- und Aneignungsweisen.
Es stellt sich die Frage, wie der Umgang mit Komplexität und die Anbahnung politischer Urteilsbildung in konkreten Lehr-Lern-Arrangements unterstützt werden kann. Inwieweit eine problem- und konfliktorientierte Zugangsweise und die Integration außerschulischer Elemente die Fähigkeit zur mehrperspektivischen politischen Urteilsbildung gezielter fördern kann, ist bisher empirisch nicht untersucht. Die Skizzierung des theoretischen und empirischen Forschungsstandes hat gezeigt, dass die politische Urteilsbildung zwar das zentrale Anliegen der Politischen Bildung darstellt, empirische Studien hingegen kaum vorhanden sind (Biedermann & Reichenbach, 2009; Manzel & Weißeno, 2017; May et al., 2020; Sander, 2012).
In der vorliegenden Arbeit wird – vor dem Hintergrund des Forschungs- und Entwicklungsbedarfs sowie der forschungsmethodischen Grenzen – die Anbahnung von politischer Urteilsbildung zu einer konkreten Themenstellung (Landwirtschaft und Ernährung) im Kontext einer spezifischer Lerneinheit mit außerschulischen Begegnungen untersucht (die Darlegung der Konzeption erfolgt in Kapitel 5). Das Forschungsvorhaben erfolgt in einem zweistufigen Verfahren (siehe Abschn. 3.5 und Kap. 6): Die konzipierte Lerneinheit wird in einer ersten Studie im Rahmen einer Interventionsstudie evaluiert (Kap. 7). Hierbei wird die Forschungsfrage untersucht, inwiefern sich die Schüler*innenurteile unter dem Eindruck des Unterrichtsprojektes weiterentwickeln und inwieweit sich Auswirkungen auf das themenspezifische Interesse, die Motivation sowie nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen nachvollziehen lassen. Um auch längerfristige Reflexions- und Sinnbildungsprozesse der Jugendlichen im Rahmen des Unterrichtsprojektes zu explorieren, wird eine Interviewstudie ex post durchgeführt (Kap. 8). Die Interventionsstudie wird dadurch um einen verstehensorientierten Zugang zu den Sichtweisen der Jugendlichen ergänzt. Diese zwei Forschungszugänge stehen komplementär zueinander, indem einerseits formale und inhaltliche Komplexitätszunahmen in den Schüler*innenantworten ermittelt und anderseits Reflexionen untersucht und Sinnbildungen rekonstruiert werden.
Aufgrund der schmalen Befundlage wird ein explorativer Zugang gewählt. Im Rahmen der Interventionsstudie dienen die in den vorangegangenen Abschnitten präsentierten Theorieansätze und Graduierungsmodelle gewissermaßen als deduktive Hintergrundfolien, um die argumentative Performanz der Urteile vor und nach der Lerneinheit beurteilen zu können. Für dieses Anliegen wird ein weites Verständnis politischer Urteilsbildung als Arbeitsdefinition zugrunde gelegt, das offen für urteilsrelevante Aspekte (wie etwa auch Interesse, Motivation, Betroffenheit) ist. Politisches Urteilen wird in dieser Arbeit definiert als die Analyse, Einschätzung und Beurteilung politischer Sachverhalte (politische Ereignisse, Probleme, Kontroversen, Forderungen) unter besonderer Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven von verschiedenen Akteur*innen sowie Betroffenen. Die Urteilsqualität wird an der Sach- und Wertbezogenheit sowie der Berücksichtigung verschiedener, ggf. konfligierender Perspektiven in einer aufgabenbezogenen Stellungnahme bestimmt (siehe Abschn. 3.3.2). In der Interviewstudie wird das Anregungspotenzial des Unterrichtsprojektes und der außerschulischen Begegnungen in einer verstehensorientierten Perspektive empirisch untersucht, indem die induktiven und deduktiven Schlussfolgerungen der Jugendlichen analysiert werden.
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Für eine umfassende und kritische Analyse der Stationen der Politischen Bildung in der Bundesrepublik und einer Beurteilung gegenwärtiger Entwicklungen der Disziplin siehe Rößler (2019, S. 87–364 und 365–442).
„Politische Mündigkeit verlangt die eigenständige und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbereich Politik, in der sich Meinungen, Leitideen, Überzeugungen und Urteile der Lernenden frei sowie unabhängig von denen der Lehrenden und den in den Lehrplänen vorgegebenen entwickeln können und sollen (…).“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 14 f.)
Weitere zeitgenössische Überlegungen zur politischen Urteilsbildung problematisieren die idealtypische Trennung in Sach- und Werturteile, die in der alltäglichen Bildungspraxis die Schwierigkeiten einer kohärenten Urteilspraxis eher erschwert als zu fördern vermag und letztendlich lediglich rationales und subsumierendes Urteilen anvisiere, nicht aber zu einem reflektierten Umgang mit Unbestimmtheit und Kontingenz anrege und stattdessen eher die Indifferenz der Lernenden befördere (Rößler, 2019, S. 505–508).
Das Modell nach Hößle (2007) modelliert ebenfalls Bewertungskompetenz, allerdings im Rahmen bio- und medizinethischer Fragen, weshalb nicht näher darauf eingegangen wird. In Anlehnung an die moralpsychologischen Arbeiten von Kohlberg werden die grundlegenden Teilkompetenzen Perspektivwechsel und Argumentieren unterschieden, die durch die weiteren Teilkompetenzen Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Einstellung sowie der moralisch-ethischen Relevanz, Beurteilen, Folgenreflexion, Urteilen und ethisches Basiswissen ergänzt werden.
Metadaten
Titel
Politische Urteilsbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung