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2018 | Buch

Praktiken der Selbstbestimmung

Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis

herausgegeben von: Dr. Ulf Bohmann, Stefanie Börner, Dr. Diana Lindner, Dr. Jörg Oberthür, André Stiegler

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Der Sammelband nimmt die multiplen Inanspruchnahmen eines selbstverantwortlichen, sich und seine Praxis reflektierenden und optimierenden Subjekts sowie die Folgen seiner potenziellen Überforderung in den Blick. Diese wachsende Inanspruchnahme resultiert dabei, so die These, aus dem Grundversprechen der Moderne, prinzipiell allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, welches offenbar nicht nur ein kulturelles Anspruchsmoment darstellt, sondern zur strukturellen Funktionsvoraussetzung zentraler Basisinstitutionen westlicher Gesellschaften geworden ist. Eindrucksvoll führt der Band empirische Befunde und theoretische Überlegungen, welche die Beziehungen, Veränderungen und potenziellen Spannungen zwischen autonomer Handlungspraxis und institutionellen Handlungsanforderungen in konkreten gesellschaftlichen Teilbereichen und Organisationen thematisieren, zusammen. So entsteht ein beeindruckendes Gesamtbild gegenwärtiger Krisendynamiken, die sich unter dem Begriff der Autonomiekrise versammeln lassen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Arbeit & Wohlfahrt

Frontmatter
Sinnvolle Arbeit unter Druck? Markterfordernisse, Widerständigkeit und die Verteidigung von Handlungsautonomie im Gesundheitssektor
Zusammenfassung
Gegenwärtig findet eine neuerliche Reflexion darüber statt, welche Wünsche nach einer selbstbestimmten und sinnvollen Arbeit von Beschäftigten adressiert werden und wann es Beschäftigten gelingt, ihre Arbeit als sinnvoll zu erleben. Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund der aktuell diskutierten Zunahme sozialer Pathologien in der Arbeitswelt: Danach sei es für Beschäftigte immer schwieriger, eine gelingende Verbindung zur eigenen Arbeit aufrecht zu erhalten und die eigene Arbeit als sinnvoll interpretieren zu können. Diese nicht gelingende Verbindung zur eigenen Arbeit wird als Grund für Erschöpfungssymptome diskutiert und mit psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht.
Friedericke Hardering
Paradoxien der Selbstbestimmung. Überlegungen zur Analyse zeitgenössischer Subjektivität
Zusammenfassung
Niklas Petersen diskutiert in seinem Beitrag die Idee der Selbstbestimmung in ihrer Bedeutung für zeitgenössische Subjektivität. Er argumentiert, dass eine soziologische Subjektivierungsanalyse, die der widersprüchlichen Verfasstheit individueller Subjektivität Rechnung tragen will, nicht nur institutionalisierte Anforderungen und hegemoniale Leitbilder gelungener Subjektivität untersuchen, sondern auch tradierte Wertvorstellungen, Bedürfnisstrukturen, sowie eingeschliffene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster der Alltagshandelnden in den Blick nehmen muss. Der Autor schlägt vor, Subjektivität auf den Ebenen des ‚gesellschaftlichen Sollens‘, des ‚subjektiven Wollens‘ und des ‚individuellen Könnens‘ zu beschreiben, und zu untersuchen, wie mögliche Widersprüche zwischen diesen Momenten im ‚praktischem Handeln‘ bearbeitet werden. Mittels der entwickelten Heuristik führt er Befunde aus arbeitssoziologischen Studien sowie kultur- und gouvernementalitätstheoretischen Zeitdiagnosen und erste Ergebnisse aus dem DFG-Forschungsprojekt ‚Handlungsautonomie in der Spätmoderne‘ zusammen, und nähert sich dem Verhältnis von Anforderungen, Ansprüchen, Möglichkeiten und Praktiken der Selbstbestimmung an.
Niklas Petersen
Relationale Autonomie und Sozialpolitik – eine Soziologie der Kritik
Zusammenfassung
Aus einer Perspektive einer Soziologie der Kritik wird in diesem Beitrag ein autonomietheoretischer Blick auf den Zusammenhang aktivierender Sozialpolitik und ihrer Aneignungsprozesse geworfen. Die These des Beitrags ist, dass es sich bei dem Autonomiekonzept, welches aktivierender Sozialpolitik zugrunde liegt, um eines handelt, welches einer absolutistischen Logik folgt, da es die Ermöglichungsbedingungen für die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht berücksichtigt. Anhand von Fallrekonstruktionen aus einer Studie zu den Aneignungsprozessen aktivierender Sozialpolitik werden die Antinomien und Relationen von Autonomie diskutiert und dabei gezeigt, dass es eine empirische Frage ist, welche Kontexte die konkreten Relationen der Autonomie bestimmen. Die gesellschaftlichen Klassifikations- und Stigmatisierungsprozesse sowie die biographischen Pfadabhängigkeiten und Handlungsspielräume der im konkreten Fall relevanten Institutionen spielen hierbei eine dominante Rolle.
Claudia Globisch

Demokratie & Politik

Frontmatter
Demokratie bewältigen. Politische Akteure zwischen Repräsentationsanforderungen und Gestaltungsautonomie
Zusammenfassung
Professionelle demokratische AkteurInnen stehen vor einem Dilemma: auf der einen Seite müssen sie gesellschaftlichen Repräsentationsanforderungen genügen, also in Stellvertretung die Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft instand setzen. Auf der anderen Seite erfordert die komplexe politische Praxis professionelle Gestaltungsautonomie, die sich gerade nicht unmittelbar aus einem präexistenten Volkswillen ableiten lässt. Die These des Textes lautet nun: Um diesem Dilemma analytisch beikommen zu können, darf die Tätigkeit der Repräsentation nicht länger als theoretischer Hohlraum behandelt werden. Eine empirische Analyse auf der Basis einer ethnografischen Parlamentsstudie lässt erkennen, was sichtbar wird, nimmt man Repräsentation als spezielle Form von Arbeit ernst: Die Abgeordneten erarbeiten sich Autonomiespielräume zur Gestaltung symbolischer Ordnungen der Gesellschaft, indem sie gerade das in Anspruch nehmen, was aus klassisch demokratietheoretischer Perspektive als äußerst problematisch erscheint - nämlich Bindungen in personellen Beziehungen.
Jenni Brichzin
Autonomie in der Postdemokratie. Politische Selbstbestimmung unter den Bedingungen der Ökonomisierung
Zusammenfassung
Während normative Analysen der Konstitution und Relevanz von BürgerInnenschaft ebenso wie empirische Untersuchungen des Verhaltens und der Einstellungen der BürgerInnen in den letzten Jahren im Mittelpunkt vieler politikwissenschaftlicher Forschungsarbeiten standen, fanden sie im Kontext des Diskurses über Postdemokratie nur selten Berücksichtigung. Und dies, obwohl der individuellen Autonomie der BürgerInnen besondere Bedeutung zukommt, wenn postdemokratische Entwicklungstendenzen erklärt und die Perspektiven der Demokratie diskutiert werden sollen. Denn mit dem von VertreterInnen des Postdemokratie-Diskurses konstatierten wachsenden Einfluss ökonomischer Rationale auf die Gesellschaft geht gemäß der theoretischen Erwartungen eine maßgebliche Veränderung der Selbstbestimmung der/des Einzelnen einher.
Claudia Ritzi

Wissenschaft & Bildung

Frontmatter
Leistungsbewertung als Identitätsbedrohung? Wie ProfessorInnen Evaluationen erfahren können
Zusammenfassung
Leistungsbewertungen von Forschung und Lehre, wie sie im Rahmen von „new public management“ an deutschen Hochschulen als Maßnahmen der Deprofessionalisierung eingeführt worden sind, können auch als Identitätsbedrohungen erfahren werden – in mindestens fünf Hinsichten: Inkompetenz und Desinteresse der Bewertungsinstanzen; Inadäquanz der Bewertungskriterien; Zwang zur fachlich „schlechten“ Arbeit; Zweck-Mittel-Verkehrung; Kultur des Misstrauens. Allerdings kann man eine Varianz der subjektiven Erfahrung von Leistungsbewertungen ausmachen, die sich in folgender Typologie erfassen lässt: der Gelassene; der Verschonte; der Sympathisant; der Profiteur; der Zuversichtliche; der Wehrhafte; das Opfer.
Uwe Schimank
Wissenschaft und Autonomie: Wissenschaftliche Identitätspolitik auf dem Prüfstand partizipativer Wissensproduktion
Zusammenfassung
Lange Zeit konnte sich Wissenschaft auf die institutionell abgesicherte Zuerkennung von Autonomie verlassen. Gleichwohl wird in der Gegenwart diese grundsätzliche Zuerkennung von Autonomie durch die Anforderung partizipativer Wissensproduktion voraussetzungsvoll. Im Rahmen dieses Beitrags wird deshalb auf der Basis einer groß angelegten Untersuchung von Projekten mit „Co-Research-Strukturen“ zwischen WissenschaftlerInnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) nicht nur ein feldtheoretisches Instrumentarium zur Untersuchung solcher Interaktionsprozesse entworfen, sondern zudem anhand dreier konkreter Projekttypen spezifische Muster wissenschaftlicher Identitätspolitik exploriert. Im Mittelpunkt der hier präsentierten feldtheoretischen Überlegungen steht die Entwicklung eines Akteursmodells, das Aktivitätsformen differenziert. Interaktionsprobleme entstehen bei partizipativer Forschung, weil die Aktivitätsmotive von WissenschaftlerInnen und CSOs mehr oder weniger stark divergieren und deshalb partizipative Forschung von der Abfederung dieser Spannungen, gar einem Motivwandel eingelebter Aktivitätsmotive abhängt.
Stefan Böschen
Erschöpfte Selbst-Bildungen
Zusammenfassung
Das klassische Bildungsverständnis, in dem Bildung vorrangig als Selbst-Bildung gedacht wird (vgl. Pleines 1989, S. 46), ist spätestens seit den poststrukturalistischen Einschnitten des 20. Jahrhunderts radikal infrage gestellt, wenn nicht gar unbrauchbar geworden. Die mit dem Poststrukturalismus vollzogenen Dezentrierungen des Selbst und Fokussierungen des Anderen ermöglichten neue Perspektiven auf den Bildungsbegriff. In „Erschöpfte Selbst-Bildungen“ soll an diese Dezentrierungsbewegungen mit einer dekonstruktiven Lektüre von Alain Ehrenbergs „Das erschöpfte Selbst“ und einer anschließenden bildungstheoretischen Einbettung angeschlossen werden. Anlass dieser Bewegung ist der Verdacht (vgl. Wimmer 2016, 355–371), dass in diversen Publikationen zunehmend an sehr klassische Selbst-Bildungs-Verständnisse oder (jedenfalls in den hier verwendeten Texten) auch an Humboldtsche Kraft-Rhetoriken angeschlossen wird, ohne dies in irgendeiner Weise zu problematisieren. Dieser Verdacht wird hier exemplarisch in Bezug auf den Sammelband „Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung“ von Alkemeyer, Budde und Freist aus dem Jahre 2013 konkretisiert, indem der nicht ‚fiktiven‘ ‚Selbst-Bildung‘ als ‚reale [und schaffende] Kraft‘ Alkemeyers eine Ehrenbergsche ‚fantasmatische‘ Selbstbildung mit ‚erschöpfender‘ Wirkung gegenüber gestellt wird: eine Selbstbildung, in der jeder (notwendige) Autonomieanspruch zum Problem wird und paradoxerweise jede gestörte Autonomie zur Ermöglichung wie aber auch zum Verlust von Handlungsfähigkeit beitragen kann.
Robert Wartmann

Fazit/Ausblick

Frontmatter
Von Sinnschmarotzern und widerwilligen Wirten: Institutionskrisen und subjektive Anpassungsmuster unter spätmodernen Ökonomisierungsbedingungen
Zusammenfassung
Welche Erkenntnisse lassen sich aus der zusammenführenden Betrachtung der in diesem Band versammelten Beiträge für die Stabilität und Wandlungsfähigkeit von Institutionen gewinnen? Wie sich zeigt, leisten die Subjekte Arbeit an den Institutionen und binden sich freiwillig in Folge einer bewussten Identifikation an bestimmte institutionelle Leitbilder. Es wird dargelegt, wie sich die Subjekte mit neuen – in der Spätmoderne typischerweise durch Ökonomisierung, Neoliberalisierung, Beschleunigung und Postdemokratisierung bedingten – Anforderungen arrangieren, die offenbar typischerweise als externe Bedrohungen wahrgenommen werden und im Widerspruch zu den individuellen Identifikationen stehen. Die charakteristische Reaktion der Subjekte scheint zu sein, so die Hypothese, dass es zu ‚widerwilligen Anpassungen‘ an die neuen Anforderungen bei gleichzeitiger Reproduktion des alten Leitbildes der jeweiligen Institution kommt. Dadurch werden die externen Bedrohungen, welche die autonome Sinnproduktion der Subjekte vereinnahmen, nicht offensiv und effektiv bekämpft. Daraus wird die Diagnose abgeleitet, dass das Institutionenarrangement, das mit Beginn der Moderne die Ausweitung von individueller Handlungsautonomie bewirkte, tatsächlich in eine Krise gerät, weil bestehende Autonomiespielräume nur noch für den Erhalt des Status Quo eingesetzt werden und nicht mehr – im Sinne eines Anspruchsdrucks – selbstgewählte Veränderungen herbeiführen, die den Subjekten eine eigenwillige Nutzung ihrer Selbstbestimmung erlauben könnte.
Ulf Bohmann, Diana Lindner
Autonomie in der Krise?
Zusammenfassung
Verfolgt man die Fragestellung der institutionellen Einbettung von Autonomieansprüchen unter einem rekonstruktiv-genetischen und gegenwartsanalytischen Blickwinkel, fällt bei allen Differenzen zwischen Paradigmen und unterschiedlichen Befunden im Detail eine allgemeine Konvergenz der hierfür einschlägigen ‚Standardtheorien‘ ins Auge: Unter dem Blickwinkel des normativen Charakters von Modernität haben diese deren prägendes Moment übereinstimmend als Institutionalisierung des Autonomieversprechens bestimmt. Die darin angelegte Spannung zwischen einer sich (teil-)autonom entwickelnden Gesellschaft auf der einen und Subjekten, die sich spätestens seit Beginn der Neuzeit im zunehmenden Maße als selbstbestimmt verstehen, auf der anderen Seite, verweist dabei auf eine zentrale Triebkraft für die Entwicklung moderner Gesellschaften und den kontinuierlichen Wandel eben dieser. Dass das Versprechen auf individuelle wie kollektive Selbstbestimmung und seine zumindest teilweise Einlösung, neben den unbestrittenen Möglichkeiten der Menschen zur Emanzipation, auch eine manifeste Zumutung darstellt, wurde dabei bereits von den „Gründungsvätern“ der Soziologie immer wieder in den Fokus gerückt. Der Beitrag schließt mit der These, dass in der derzeitigen, in diesem Band beobachteten Konstellation, die Subjekte selbst zu „KlempnerInnen“ der krisenhaften Institutionen avancieren.
Stefanie Börner, Jörg Oberthür, André Stiegler
Metadaten
Titel
Praktiken der Selbstbestimmung
herausgegeben von
Dr. Ulf Bohmann
Stefanie Börner
Dr. Diana Lindner
Dr. Jörg Oberthür
André Stiegler
Copyright-Jahr
2018
Electronic ISBN
978-3-658-14987-1
Print ISBN
978-3-658-14986-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-14987-1