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2011 | Buch

Priorisierte Medizin

Ausweg oder Sackgasse der Gesundheitsgesellschaft?

herausgegeben von: Dr. Adele Diederich, Christoph Koch, MBA, Diplom-Humanbiologe (Theoretische Medizin) und Bachelor of Science (Soziologie, Politikwissenschaft), Dr. Ralph Kray, Dr. Rainer Sibbel

Verlag: Gabler

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Über dieses Buch

So unstrittig – aber unausgesprochen – Priorisierungsentscheidungen schon jetzt den Versorgungsalltag prägen, so strittig ist die explizite Diskussion über die Notwendigkeit und Strukturierung einer Priorisierung in der Medizin. Ein gewagter Band – ein spitzes Thema, differenziert

und übergreifend dargestellt von Empirikern, Medizinern sowie Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlern von Rang.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Priorisierte Medizin – Sachverhalt und konkrete Projektionen

Frontmatter
Einstellungen zu Priorisierungen in der medizinischen Versorgung
Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung
Zusammenfassung
Das Thema „Priorisierung in der Medizin“ wird in Fachkreisen sehr kontrovers diskutiert, was sich auch in den Beiträgen dieses Bandes widerspiegelt. Während einige Fachvertreter Priorisierung als unverzichtbares Mittel ansehen, begrenzte Ressourcen im Gesundheitswesen gerecht zu verteilen, stellen andere genau das in Frage. Wo liegt das Problem? Fortschritte in der Medizintechnik mit immer neuen, und oft sehr teuren, Diagnose- und Therapieverfahren sowie massive Veränderungen in Demografie und Epidemiologie, einhergehend mit wachsendem Bedarf an medizinischen Leistungen, werden für die angespannte finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit verantwortlich gemacht. Gerade jetzt wurden die Beiträge erhöht und Zusatzbeiträge erhoben, um den Finanzbedarf zu decken. Wenn wir den Etat für Gesundheitsausgaben ständig erhöhen können und wollen, sei es durch weiter steigende Beiträge, durch Steuern oder sonstige Abgaben, damit alles, was medizinisch machbar ist, auch finanziert werden kann, dann erübrigt sich eine Diskussion über Priorisierung.
Adele Diederich
Priorisierung in der Onkologie
Zusammenfassung
Die Onkologie beschäftigt sich mit der Entstehung, der Diagnostik und der Therapie bösartiger (= maligner) Erkrankungen. Auf dem Gebiet der Therapie sind die Chirurgie, die Strahlentherapie und die medikamentöse Tumortherapie sowie die enge Kooperation zwischen den genannten Disziplinen die wichtigsten Handlungsfelder. Die jüngere Entwicklung der Onkologie ist – nach einer langen Zeit nur langsamen Fortschritts – wesentlich durch die zunehmende Verfügbarkeit neuer Medikamente gekennzeichnet. Das Ausmaß der durch diese neuen Medikamente erzielbaren Verbesserungen ist dabei sehr unterschiedlich, wie wir im Folgenden weiter ausführen werden. Nahezu allen neuen Antitumormedikamenten gemeinsam ist jedoch ihr hoher Preis, von den Herstellern meist mit den enormen Entwicklungskosten begründet.
Matthias Bormann, Jörg Gröticke, Bernd Hertenstein
Palliativmedizin: ein Fall von Rationierung?
Ein anderer Blick auf die Debatte um Priorisierung in der Medizin
Zusammenfassung
Rationierung von medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen ist in Deutschland nach wie vor ein Tabuthema. Noch immer wird in der gesundheitspolitischen Diskussion häufig verkannt, dass man nicht nicht rationieren kann: Es gibt kein anerkanntes Maß für „genügende“ Leistungen, und es gibt vor allem eine gewissermaßen stillschweigend akzeptierte bis verkannte Hierarchie bezüglich der Durchsetzungsfähigkeit von Leistungen im Finanzierungssystem. Rationierung im engeren Sinne liegt einer Definition der zentralen Ethikkommission gemäß dann vor, „wenn aus medizinischer Sicht notwendige oder zweckmäßige medizinische Maßnahmen aus finanziellen Gründen offen oder verborgen vorenthalten werden.“ (Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) 2000).
Norbert Schmacke
Kostensensible Leitlinien als Priorisierungsinstrument
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag geht von der – zumindest in Fachkreisen – weithin geteilten Auffassung aus, dass Leistungsbegrenzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgrund der zunehmenden Diskrepanz zwischen medizinisch Möglichem und solidarisch Finanzierbarem unvermeidbar sind (Marckmann 2007; Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer 2007). Einem anhaltend steigenden Bedarf an Gesundheitsleistungen durch medizinische Innovationen und die Alterung der Bevölkerung stehen in der GKV nur begrenzte Finanzmittel gegenüber. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Schweden oder Norwegen ist in der deutschen Öffentlichkeit bislang nur ansatzweise diskutiert, wie die unvermeidbaren Leistungseinschränkungen durchgeführt werden sollen. Bereits im Jahr 2000 und erneut im Jahr 2007 forderte die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer einen fachlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs über Prioritäten in der Gesundheitsversorgung (Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin (Zentrale Ethikkommission 2000, 2007).
Georg Marckmann, Daniel Strech
Prioritäten, Programme, Prinzipien
Säulen rechtsstaatlicher Gesundheitsversorgung
Zusammenfassung
In populären Auseinandersetzungen um die Gesundheitsversorgung wird – nicht zuletzt von Ärzten – immer noch gefordert, dass man die Ressourcenallokation dem Urteil der behandelnden Ärzte überlassen solle. Die Ärzte würden durch „verantwortungsvolle“ Orientierung am medizinisch „notwendigen und nützlichen“ den Ressourceneinsatz „angemessen“ begrenzen. Ließe man sie nur ihre ethischen und medizinischen Standards anwenden, würden die Ärzte dafür Sorge tragen, dass die Patienten sowohl Ressourcen schonend, als auch nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft behandelt würden.
Hartmut Kliemt

Priorisierte Medizin – Reizthema des Diskurses

Frontmatter
Priorisierung im Gesundheitswesen: Positionspapier
Zusammenfassung
Die Ärzteschaft spricht sich uneingeschränkt dafür aus, Rationalisierungsreserven zu nutzen und die vorhandenen Mittel effizient einzusetzen. Rationalisierung hat zum Ziel, Effizienz- und Produktivitätsreserven in der Gesundheitsversorgung auszuschöpfen, um das Versorgungsniveau bei gleichem Mitteleinsatz zu erhöhen oder es mit weniger Mitteleinsatz zumindest zu halten. Rationalisierungsreserven sind allerdings in vielen Bereichen bereits ausgeschöpft. Diese Situation verlangt nach der Frage, wie aus ethischer und rechtlicher Sicht eine gerechte Zuteilung der begrenzten Ressourcen erfolgen kann. Die Ärzteschaft schlägt vor, Gesundheitsleistungen zu priorisieren. Priorisierung im Gesundheitswesen bedeutet die Festlegung einer Vorrangigkeit, damit die Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen erhöht werden kann. Priorisierung bedeutet nicht den Ausschluss von medizinisch notwendigen Leistungen, sondern eine Abstufung der Leistungsgewährung nach Vorrangigkeitsprinzipien.
Jörg-Dietrich Hoppe
Priorisierung versus Markt
Zusammenfassung
Die Ausgaben im deutschen Gesundheitswesen werden aufgrund der Demografie und des medizinisch-technischen Fortschritts weiter steigen. So sind beispielsweise die Gesundheitsausgaben in Deutschland von 1992 bis 2008 um 67 Prozent auf 263 Milliarden Euro angestiegen. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt zeigt sich eine eher moderate Entwicklung. Dabei konkurrieren die Ausgaben für Gesundheit mit den Ausgaben für Bildung, Infrastruktur etc., so dass hieraus auch zukünftig das medizinisch Machbare nicht voll finanzierbar sein wird. Hieraus leitet sich die entscheidende Frage nach einer gerechten Allokation zwischen den einzelnen Ressorts (Nutzungsmöglichkeiten) sowie innerhalb des Gesundheitswesens ab. Wer erhält warum welche Leistungen? Die Stichworte Solidarität und Sozialausgleich sind dabei von hoher Bedeutung. Diese Diskussion wird in Deutschland neben Politikern auch von Ethikern („Die Diskrepanz zwischen dem, was medizinisch möglich und sinnvoll ist, und dem, was wir solidarisch finanzieren können, wird immer größer werden.“) und Wirtschaftsvertretern („Der Hebel muss auf der Ausgabenseite angesetzt werden.“
Peter Oberender, Philipp Schwegel
„Die evidenzbasierte Medizin ist kein Priorisierungsinstrument“
Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Peter T. Sawicki
Zusammenfassung
Vokabeln wie „Rationierung“ sind negativ besetzt. Rationierung – das erinnert uns an Zeiten des Krieges, Zeiten des Mangels, Lebensmittelkarten. Es ruft Bilder von Hunger und Entbehrung hervor. Wahrscheinlich wollen Regierungen nicht, dass ihre Wähler bei diesem Wort denken, die Veranwortlichen hätten dabei versagt, das zum Leben Notwendige in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen. Auch Begriffe haben eine Geschichte, die die Konsistenz ihrer Inhalte mitbestimmt. Wir können dem widersprechen und den Begriff erklären und neu definieren, was schwierig sein kann. Oder aber: Wir würden andere Bezeichnungen für Verteilungsmethoden wählen, wie zum Bespiel „Allokation der Mittel“.
Christoph Koch, Ralph Kray
Das Gesundheitssystem an der „Kante Priorisierung“
Prof. Dr. iur. Dr. med. Alexander P. F. Ehlers über Priorisierung als Diskurs aus medizinrechtlicher Sicht
Zusammenfassung
Die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland oder auch vor 1940, anknüpfend an die Bismarck‘schen Sozialreformen, war und ist daran gewöhnt, einen Zugang zu einem gesetzlichen Krankenversicherungssystem zu haben, das dem gesetzlich Krankenversicherten bei vorliegenden Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht Ansprüche gewährleistet: Ohne Einschränkungen nach Alter, nach Krankheit, nach Hautfarbe oder Religionen, nach was auch immer. Dass dieses System der Gesetzlichen Krankenversicherung dual mit der Privaten Krankenversicherung für die gesamte Versorgung der Bevölkerung zuständig ist, dies garantiert heute auf der Basis des Fünften Sozialgesetzbuches – und das war auch impliziert in den Bismarck‘schen Sozialreformen – einen Anspruch auf eine Versorgung durch Leistung und Verordnung. Diese Versorgung hat dem sogenannten Wirtschaftlichkeitsgebot zu entsprechen, geregelt in den §§ 2, 12 und 70 SGB V. Die Leistungen der GKV müssen ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein – unter Berücksichtigung von Qualität, Humanität und Fortschritt in der Medizin.
Christoph Koch, Ralph Kray, Rainer Sibbel

Priorisierte Medizin – Anschlussreflexionen der Sozial- und Kulturtheorie

Frontmatter
Priorisierung/Posteriorisierung
Essay zum Problem des Vordringlichen und des Nachrangigen im Gesundheitssystem
Zusammenfassung
Der Ausdruck Priorisieren (und schlimmer noch: Priorisierung) ist sowohl sprachästhetisch als auch sprechtechnisch außerhalb wissenschaftlicher Sprachusancen keineswegs von überzeugender Eleganz. Da ist einmal die Misslichkeit einer deutsch-französisierenden Fassung eines eigentlich sehr kurzen lateinischen Wortes, dann aber auch der Umstand, dass es leicht ersetzt werden kann durch deutsche Wörter wie Bevorzugen, Vorziehen, Auswählen, Auslesen etc., Wörter, die allesamt sehr klar sagen, dass es um eine eigentümliche Selektivität geht, um eine Ökonomie des Einräumens von Vorrang und damit auch: um eine Ökonomie der Ungleichheitsproduktion.
Peter Fuchs
Gesundheitsökonomie und kulturelle Erfahrung
Zusammenfassung
Kulturwissenschaftliche Ansichten zur Gesundheitsökonomie – sind das tatsächlich ‘Außenansichten’? Das scheint falsch, gibt es doch massiv Evidenzen, die den engen Zusammenhang zwischen Gesundheitsökonomie (enger gefasst: Medizin) und Kultur (enger gefasst vor allem Literatur) eindrucksvoll belegen. Hervorragende Fachleute beider Seiten, etwa Medizinhistoriker, haben massenweise Studien zu Fragen vom Typ ‘Was treibt die Literatur zur Medizin?’ und umgekehrt vorgelegt. Es gibt seit einigen Jahren ein materialreiches Lexikon zu dem als Buchtitel schon öfter vergebenen Bereich „Literatur und Medizin“ (cf. Bettina von Jagow und Florian Steger, eds. Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, dies., Was treibt die Literatur zur Medizin? Ein kulturwissenschaftlicher Dialog, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009). Das weite Feld verträgt offenbar sogar ein Jahrbuch Literatur und Medizin (seit 2007). So genannte Ärzte-Schriftsteller hat es zuhauf gegeben, und es gibt sie weiterhin, auch in Verbänden organisiert.
K. Ludwig Pfeiffer
Das Priorisierte und das Wegpriorisierte in der abendländischen Tradition
Zusammenfassung
Platon schreibt über Sokrates. Sokrates verbringt seine Tage auf dem Marktplatz und spricht mit seinen Mitbürgern. Das ist sein Zeitvertreib und sein primäres Anliegen. Eine merkwürdige Mischung. Er versucht seine Mitbürger davon zu überzeugen, das Richtige und das Gute zu tun. Beides hat mit körperlichem Genuss und Triebbefriedigung wenig zu tun. Er selbst kann mühelos den sexuellen Verführungskünsten hübscher Jünglinge widerstehen. Allerdings ist er recht wohlbeleibt, wie auch Platon. Dieser mehr oder weniger als Makel angesehene Sachverhalt hindert beide nicht daran, körperliche Mäßigung und die Herrschaft über die innere Natur zu predigen.
Christoph Klotter
Die Ordnung der medizinischen Dinge
Zusammenfassung
Wen kümmert’s, ob wer was priorisiert? Priorisierung – der Begriff ist medizingeschichtlich und medizinsoziologisch wenig ausdifferenziert; er ist dafür umso mehr auf seine pejorativen Konnotationen festgelegt. Mit ihm verbinden sich, was die Vorbereitung auf diesen Band noch einmal deutlich gezeigt und nicht eben erleichtert hat, freie bis geradezu wilde Assoziationen sozialer Diskriminierung im weitesten Sinn – die mildeste Assoziation: strategisch-opake ‘Rationalisierung!’, die schärfste: strategisch-opake ‘Rationierung!’ im Gesundheitssektor (vgl. Adele Diederichs Beitrag in diesem Band). Priorisierung ist zweifelsohne die ‘Eiger-Nordwand’ der allzu brenzligen Themen im Gesundheitssektor dieser Tage. Einer Verpolitisierung und mithin Verwillkürlichung des Begriffs ist von beiden genannten Zugangs- und Assoziationspolen aus Tür und Tor geöffnet. Dabei hat alles, bedenkt man die Geschichte des Diskurses, mit vergleichsweise trocken Ableitbarem, Erklärbarem, begonnen.
Ralph Kray
Backmatter
Metadaten
Titel
Priorisierte Medizin
herausgegeben von
Dr. Adele Diederich
Christoph Koch, MBA, Diplom-Humanbiologe (Theoretische Medizin) und Bachelor of Science (Soziologie, Politikwissenschaft)
Dr. Ralph Kray
Dr. Rainer Sibbel
Copyright-Jahr
2011
Verlag
Gabler
Electronic ISBN
978-3-8349-6662-9
Print ISBN
978-3-8349-2793-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-8349-6662-9