Die industrielle Produktion ist in stetem Wandel begriffen, durch die Digitalisierung mehr denn je. Den Lernfabriken kommt zur Aus- und Weiterbildung von Personal eine zentrale Rolle zu, ebenso in der Forschung.
Im Jahr 1771 gründet der Textilunternehmer Richard Arkwright im mittelenglischen Örtchen Cromford eine Produktionsstätte, in der Menschen erstmals mit einer Maschine arbeiten, die über einen eigenen Antrieb verfügt. Waterframe heißt die Spinnmaschine, für den Antrieb sorgen Wasserräder. Damit nimmt die erste Fabrik des Planeten ihren Betrieb auf – ein Schlüsselmoment in der Geschichte der industriellen Revolution.
Zwei Jahrhunderte später erlebt die Industrie durch die Digitalisierung ihre vierte Revolution. Die Fabrik als Ort der industriellen Produktion ist derweil geblieben. Noch immer arbeiten dort Menschen mit Maschinen und produzieren in Masse. Fabriken haben sich über zwei Jahrhunderte hinweg jedoch drastisch verändert – immer mehr Maschine, immer weniger Mensch. Und mit der Digitalisierung drängen auch humanoide Roboter in die Fabrik. Kurzum ist es aus vielerlei Perspektive wichtig, Fabriken und ihre Prozesse so gut wie möglich zu verstehen. Lernfabriken helfen dabei.
Wie sind Lernfabriken entstanden?
Die Blaupause für Lernfabriken liefert ein Konsortium der Pennsylvania State University in den frühen 1990er Jahren. Auf einer Fläche von 2000 m2 wird damals mit Maschinen, Werkzeugen und Materialien eine realistische Produktionsumgebung geschaffen, um industrielle Projekte zu unterstützen. Es zeigt sich: Reale Probleme der Industrie können in einer realistischen Umgebung gelöst werden. Das Beispiel macht Schule. Lernfabriken dienen fortan zur Ausbildung von Studierenden, zur Weiterbildung von Personal und zur Forschung.
Eine der ersten europäischen Lernfabriken ist das 2007 gegründete Center für industrielle Produktion des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen der TU Darmstadt. Ebenfalls in Darmstadt wird 2011 die Initiative Europäische Lernfabriken gegründet, die seit 2017 eine globale Initiative ist. Zahlreiche Hochschulen haben mittlerweile Lernfabriken eingerichtet, Berufsschulen ebenso.
Was genau ist eine Lernfabrik?
Laut Definition der CIRP Encyclopedia of Production Engineering ist eine Lernfabrik eine Lernumgebung, die durch authentische, mehrstufige Prozesse spezifiziert ist und sowohl technische als auch organisatorische Aspekte umfasst. Sie bietet ein veränderbares, einer realen Wertschöpfungskette ähnliches Setting und stellt ein physisches Produkt her.
Auch stellt die Lernfabrik ein didaktisches Konzept mit formalem, informellem und nicht-formalem Lernen bereit, das durch eigenes Handeln der Lernenden vor Ort ermöglicht wird. Je nach Zweck der Lernfabrik findet das Lernen durch Studium, Weiterbildung oder Forschung statt. Die Lernergebnisse können daher Kompetenzentwicklung oder Innovation – oder beides sein.
Was macht eine Lernfabrik aus?
Um Orientierung bei der Gestaltung neuer Lernfabriken zu geben, hat die International Association of Learning Factories acht sogenannte Dimensionen wie folgt definiert:
- Das Betriebsmodell legt nicht nur das Konzept für die finanzielle bzw. wirtschaftliche Kontinuität der Lernfabrik fest, sondern auch für die personelle und die thematische.
- Die Ziele und Zwecke lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: Ausbildung von Studierenden, Weiterbildung von Personal und produktionsbezogene Forschung. Zu möglichen sekundären Zielen und Zwecken gehören Demonstration, Erprobung und Transfer von Technologie sowie die industrielle Produktion von Gütern.
- Der Prozess spezifiziert die Produktion. Dabei müssen die Grenzen des Systems anhand vier produktionsbezogener Lebenszyklen definiert werden: Produkt, Fabrik, Auftrag und Technologie.
- Das Setting beschreibt die Lernumgebung. Diese kann physisch, virtuell oder eine Kombination aus beidem sein. Wichtig: Sogenannte Change Enabler müssen sicherstellen, dass die Lernfabrik flexibel und veränderbar ist, sich also anpassen kann.
- Das Produkt beschreibt die Eigenschaften dessen, was in der simulierten Fabrikumgebung hergestellt wird. Es muss auf das übergreifende Konzept der Lernfabrik abgestimmt sein, insbesondere hinsichtlich der Forschungs- und Lernziele.
- Die Didaktik adressiert die Bildungs- bzw. Forschungsziele: Was soll gelernt werden? Wie soll gelernt werden? Wo soll gelernt werden? Wie wird der Lernerfolg evaluiert?
- Die Metrics stellen die quantitativen Merkmale von Lernfabrikkonzepten dar, etwa die Anzahl der Teilnehmer pro Lernmodul oder die durchschnittliche Dauer der einzelnen Lernmodule.
- Unter Forschung lassen sich analog zur Dimension Ziel und Zweck verschiedene Themen identifizieren, etwa Lean Management oder Ressourceneffizienz, und hinsichtlich des Gegenstands unterscheiden, etwa zwischen Technologien, Prozessen, Materialien und anderem.
Welche Lernkonzepte gibt es?
Die drei primären Ziele und Zwecke – Studium, Weiterbildung, Forschung – von Lernfabriken lassen sich methodisch verschiedentlich erreichen. In der Ausbildung von Studierenden kommen folgende Methoden zum Einsatz:
- Aktives Lernen bezieht die Lernenden in die Analyse von Situationen, die Bewertung ihrer eigenen Ideen und die Auswertung von Ergebnissen ein. Konkret soll ein umfassendes Verständnis von Problemsituationen und Konzepten vermittelt werden.
- Primäres Ziel des handlungsorientierten Lernens ist es, das konzeptionelle Wissen zu erweitern und die Lernenden in die Lage zu versetzen, Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen. Dabei gehen die Lernenden selbstständig komplexe Probleme an, während Lehrkräfte als Moderatoren im Hintergrund bleiben.
- Beim experimentellen Lernen übernehmen die Lernenden die simulierten Rollen von technischen Fachkräften. Im Kern handelt es sich also um den "Prozess der Schaffung von Wissen durch die Umwandlung von Erfahrungen".
- Beim spielbasierten Lernen wird zwischen zwei Arten unterschieden: Serious Games sind strukturierte Spielsituationen zur Förderung des Lernens. Die Gamifizierung zielt darauf ab, Nicht-Spiel-Situationen motivierender, unterhaltsamer und ansprechender zu gestalten – mittels spielerischer Elemente.
- Das problembasierte Lernen startet mit der Konfrontation mit dem Problem. Die Lernenden versuchen zunächst, per Brainstorming mögliche Gründe zu finden und diskutieren diese. Erst danach erhalten sie Informationen über den theoretischen Hintergrund oder die Grundsätze im Zusammenhang mit dem Problem.
- Beim projektbasierten Lernen arbeiten die Lernenden in Gruppen an realen Projekten in einer authentischen Produktionsumgebung. Ziel ist es, die Lernenden zu motivieren, sich mit dem Lerninhalt zu beschäftigen.
- Forschungsbasiertes Lernen geht auf den deutschen Philosophen Wilhelm von Humboldt zurück. Humboldt schwebte ein einheitlicher Ansatz für Lehre und Forschung vor, bei dem das Lernen im universitären Kontext mit forschungsähnlichen Aktivitäten zur Lösung ungelöster Probleme verbunden ist.
Welche Konzepte gibt es zur Weiterbildung von Personal?
Wenn Lernfabriken zur Weiterbildung von Personal eingesetzt werden, besteht ein Hauptzweck darin, Kompetenzen zu entwickeln, ein anderer in der Umsetzung von Change-Management. Aktuell werden solche Lernfabriken vor allem im Zusammenhang mit der Digitalisierung eingesetzt. Beispiele hierfür sind szenariobasierte Ansätze und der Einsatz von Fallstudien. Im Allgemeinen gibt es zwei Haupttypen zur Weiterbildung in Lernfabriken – einerseits die Assimilation von Information, andererseits das sogenannte Erfahrungslernen.
Bei der Informationsassimilation werden theoretische Lerninhalte zunächst abgeleitet und erklärt, dann angewandt und bewertet. Der Ansatz des Erfahrungslernens beginnt mit den eigenen Handlungen, die als Grundlage für das Verständnis der Lerninhalte dienen. Konkret bedeutet dies, dass die Lernenden zunächst praktische Erfahrungen in der Lernfabrik-Umgebung sammeln, die auf ihren eigenen Handlungen und Beobachtungen beruhen, und anschließend die zugrunde liegenden Prinzipien verstehen.
Welche Rolle spielen Lernfabriken in der Forschung?
Lernfabriken spielen in der Forschung eine doppelte Rolle: als Forschungsobjekte und als Enabler von Forschung. Die Forschung zu Lernfabriken als Objekte ist mannigfaltig. Sie umfasst ganzheitliche Beschreibungen, Klassifizierungen, die Gestaltung von Lernumgebungen, Modulen und Situationen. Auch werden Themen wie die Messung des Lernerfolgs, die Verbesserung von Lernfabriken auf der Grundlage von Reifegradmodellen und Qualitätssystemen und das Verständnis der Anforderungen von Interessengruppen behandelt.
Als Enabler von Forschung dienen Lernfabriken, indem sie eine Umgebung für die Integration praktischer Erfahrungen zu geringeren Kosten und mit reduzierter Komplexität bieten. Sie ermöglichen die Problemerkennung, die Abstraktion mit realen Daten, die Lösungsfindung auf der Grundlage der Theorie, den Transfer der Lösungen in der Praxis und die Überprüfung des neuen Wissens. Im Kontext der künstlichen Intelligenz in der Fertigung können Forscher Wartungsprobleme identifizieren, sie innerhalb der Lernfabrik abstrahieren, Simulationsmodelle entwickeln, theoretische Konzepte anwenden, Lösungen implementieren und ihre Wirksamkeit validieren.
KIT-Studie: Noch viel Luft nach oben
Was sogenannte Lernfabriken 4.0 für die Weiterbildung von Fachkräften leisten, hat das Karlsruher Institut für Technologie 2023 für Baden-Württemberg untersucht. Ergebnis: "Sehr viel – wenn Lehrkonzepte und Rahmenbedingungen stimmen." Da dies jedoch noch zu selten der Fall sei, sollten Berufsschulen und Unternehmen weitaus enger als bisher zusammenarbeiten, zum Beispiel bei der Passung der Angebote und bei deren Bewerbung. Zugleich fordern die Autorinnen und Autoren der Studie eine verbesserte Einbindung der Weiterbildungen in den Betrieb der Berufsschulen sowie die Öffnung der Kurse für betriebliche Ausbilderinnen und Ausbilder.
"Die Potenziale der beruflichen Lernfabriken werden bei weitem nicht ausgeschöpft, da die förderlichen Rahmenbedingungen an Berufsschulen fehlen und diese bisher von keiner Institution bei der Umsetzung von Weiterbildungsangeboten unterstützt werden“, sagte Studienleiter Professor Lars Windelband.