Wahlkämpfe sind das Konzentrat des politischen Systems. In repräsentativen Demokratien sind sie die Methode, den Souverän in den politischen Prozess einzubeziehen, der Weg zur Erlangung von politischer Macht und Medienereignisse. Im Vergleich zum politischen Alltag verdichtet sich die öffentliche politische Kommunikation1, deren Charakter als Teil der politischen Kultur2 deutlicher erkennbar hervortritt: „In einer Wahlkampagne spiegelt sich die politische Kultur eines Landes förmlich im Brennglas wider.“3 Über Wahlkämpfe wird intensiver als über die politische Routine berichtet. Dies trifft besonders auf das Medium Fernsehen zu, in dem Prozesse des politischen Alltags nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht werden wie ein Bundestagswahlkampf. Die außerordentliche Bedeutung politischer Kommunikation für eine medial bestimmte Massendemokratie tritt in Wahlkämpfen sichtbar hervor. An der politischen Kommunikation und insbesondere an der verdichteten Wahlkampfkommunikation lässt sich die Fähigkeit der politischen Akteure ablesen, sich dem Souverän zuzuwenden. Die Beobachtung von Wahlkämpfen gibt daher Aufschluss über den Gesamtzustand des politischen Systems. An ihnen lassen sich „politische Gewichtsverschiebungen“ ausmachen.4 Wahlkämpfe beeinflussen auch die politische Partizipation und den Legitimitätsglauben der Bürger5 (siehe Kapitel 1.4.1.). Erwin K. Scheuch meinte daher: „Der Wahlkampf ist für die Politik, was Weihnachten für die Religion ist.“6
Die These des Wandels von der Parteien- zur Mediendemokratie führte zu der Beschäftigung mit der Frage nach einem neuen, medienorientierten Charakter der Wahlkämpfe, der möglicherweise eine veränderte politische Kultur widerspiegelt.90 Tatsächlich wird in vielen Untersuchungen betont, wie sehr die Wahlkämpfe innerhalb der letzten Jahre an Bedeutung gewonnen und sich verändert — modernisiert, amerikanisiert oder „professionalisiert“ — haben. Auch von „postmodernen Wahlkämpfen“ ist die Rede.91 Die Behauptung von der Neuartigkeit der Wahlkämpfe ist ein sehr häufig vertretener Standpunkt92, ein Großteil der Veröffentlichungen thematisiert ausschließlich diese angenommene neue Entwicklung, so dass die Annahme selbst Auslöser der Ausdehnung der Wahlkampfforschung zu sein scheint.
Um zu klären, inwieweit sich die Wahlkämpfe tatsächlich verändert haben, werden zunächst die Entwicklungen der wichtigsten Prämissen beleuchtet. Die variablen, für die Planung einer Wahlkampfstrategie relevanten Vorbedingungen liegen im politischen Verhalten der Wählerschaft und im Mediensystem207, über das der Wahlkampf an die Wählerschaft herangetragen und kommentiert wird.
Die Frage nach der Wahlkampfgestaltung in früheren Jahren wird in den Veröffentlichungen über modernisierte Wahlkämpfe nicht gestellt. Betrachtet werden lediglich die Wahljahre, anhand derer gezeigt werden soll, wie neuartig beziehungsweise „professionell“ Wahlkampfgestaltung geworden sei. Um die Behauptung, etwas habe sich signifikant verändert, aufrechterhalten zu können, müsste aber das frühere Pendant zum Vergleich herangezogen werden. Zur Überprüfung der These von den neuen Wahlkämpfen werden daher im Folgenden die Merkmale, die als Indikatoren für eine neue Art der Wahlkämpfe aufgelistet werden, in vergangenen Dekaden analysiert.
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des vorangegangen Kapitels wird im folgenden der Wahlkampf 2002 hinsichtlich der Frage betrachtet, welche Elemente im Vergleich zu den Wahlkämpfen vor Beginn der behaupteten Modernisierung als neue erkennbar sind. Die angeführten Indikatoren für eine „Professionalisierung“ oder Modernisierung sind nicht erst für den Wahlkampf 1998 neu erfunden worden, sondern spielten — wie gezeigt wurde — schon in früheren Wahlkampfstrategien eine bedeutende Rolle. Unterschieden werden kann aber darüber hinaus, welche Funktion mit welcher Professionalisierung erfüllt werden soll.
Die vermeintlich neue Wahlkampfgestaltung resultiere aus einer im Vergleich zu traditionellen Wahlkämpfen unterschiedlichen Zielsetzung: Während ein traditioneller Wahlkampfstil das primäre Ziel der Vertretung und Vermittlung von ideologisch geprägten Parteiinteressen verfolge, ginge es in einem modernen Wahlkampfstil zunächst um maximalen Wahlkampferfolg.1015