Abgesehen von gelegentlichen Streifzügen in weitergehende menschliche Beweggründe bin ich bislang innerhalb der Annahme rationaler Individuen mit exogen gegebenen Nutzen- oder Auszahlungsfunktionen geblieben. Diese Annahme ist der Standard im Economics-Mainstream und auch die Grundlage der modernen ökonomischen Analyse des Rechts. Die zwei vorangegangen Kapitel haben mit Stigmata und gesellschaftlichen Sanktionen jedoch auch Themen behandelt, die in Lehrbüchern der Mainstream-Volkswirtschaftslehre eher selten zu finden sind. Gestützt auf einige neuere Literatur haben wir den Analyserahmen erweitert, indem wir berücksichtigt haben, dass die Menschen ihren Nutzen nicht nur aus ihrem Konsum beziehen, sondern auch daraus, wie andere sie behandeln und was sie von ihnen halten. Gesellschaftliche Anerkennung macht Freude, soziale Stigmatisierung tut weh.
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Rodrik (2015, S. 29) diskutiert die Rolle von Axiomen und Annahmen in der Ökonomik und merkt dazu an: „Letztlich ist ein Mangel an Realismus in unseren Annahmen unvermeidbar.“ Fehler passieren dann, wenn wir vergessen, dass unsere Annahmen eben nur Annahmen sind. Und solche Fehler passieren häufiger, als wir gern glauben würden.
Akerlof/Shiller (2010) betonen das zurecht. Meine einzige Kritik an der Verhaltensökonomik ist, dass sie diese Verbindung zur etablierten ökonomischen Theorie noch nicht genügend ausgenutzt hat, um unser Verständnis wirtschaftlicher und sozialer Phänomene zu fördern. Ohne diese Verbindung läuft die Verhaltensökonomik Gefahr, nicht mehr als ein Sammelbecken von Versuchsergebnissen zu sein (Basu 2018).
A.W. Tucker, Mathematiker an der Princeton University, dachte sich 1950 die Geschichte des Gefangenendilemmas aus, um seine Arbeit an dem so betitelten Modell, das im selben Jahr von M.M. Flood und M. Dresher in abstrakter Form aufgestellt worden war, den Studierenden und Lehrenden der Psychologischen Fakultät in Stanford zu erklären. Tucker war zwar eigentlich Gastprofessor an der Mathematischen Fakultät in Stanford, aber da dort Büromangel herrschte, wurde er bei den Psychologen untergebracht. Seine dortigen Büronachbarn wunderten sich über sein endloses mathematisches Gekritzel und baten ihn also, ihnen zu erklären, was er da eigentlich tue. Und so erfand er die Geschichte mit den Gefangenen zur Illustration seiner ansonsten nur Wenigen verständlichen Mathematik. Wie schon in Basu (1993) erwähnt, habe ich diese Geschichte von Harold Kuhn, der damals Mathematikprofessor in Princeton war und mit Tucker die berühmten Karush-Kuhn-Tucker-Bedingungen formuliert hatte. Ich bin mir sicher, dass das Gefangenendilemma ohne Tuckers kleine Fabel, also als rein mathematisches Modell, nicht annähernd die gleiche Bedeutung in der Ökonomik erlangt hätte. Erst die bewegende Geschichte der beiden Gefangenen hat den unwahrscheinlich vielfältigen Anwendungen des ursprünglich sehr abstrakten Modells den Weg bereitet.
Siehe Capra/Goeree/Gomez/Holt (1999), Becker/Carter/Naeve (2005) und Rubinstein (2006). In mehreren Darstellungen des Spiels ist der Wert des Gegenstandes auf einer Skala von 180 bis 300 Dollar anzugeben, wobei die Belohnung und die Strafe jeweils 5 Dollar betragen. Ariel Rubinstein hat das Spiel bei seinen Vorträgen an einer Reihe von Universitäten spielen lassen – Ben-Gurion, Tel Aviv, Technion, Tilburg, LSE, British Columbia, York (Kanada), Georgetown und Sabanci. Die durchschnittliche gewählte Zahl betrug knapp 280; der Durchschnitt war an der LSE am höchsten (281) und an der Sabanci University am niedrigsten (263). Ein paar der Teilnehmenden, die Rubinstein (2006, S. 875) „Opfer der Spieltheorie“ nennt, wählten das Nash-Gleichgewicht von 180.
Neuere Forschung der Verhaltensökonomik und der Psychologie zeigt zudem, dass die Menschen noch andere Strategien haben, um mit Bedauern umzugehen. Eine solche Strategie ist „gewolltes Nichtwissen“. Wie Gigerenzer/Garcia-Retamero (2017) zeigen, entscheiden sich 85 bis 90 % der Menschen für gewolltes Nichtwissen, wenn ihnen ein negatives Ereignis bevorsteht.
In der Literatur kommt der Beitrag von Arad/Rubinstein (2017) dieser Idee wohl am nächsten. Die Autoren beginnen mit der empirischen Beobachtung, dass die Menschen, wenn sie aus einer großen und komplexen Mengen an verfügbaren Strategien auswählen sollen, normalerweise nicht alle Strategien gegeneinander abwägen, sondern die Menge zunächst in sinnvolle Partitionen unterteilen und dann den Verbund der Partitionen untersuchen. Formal erwächst aus dieser Analyse ein mengenbasiertes Gleichgewichtskonzept, das multidimensionale (MD-)Gleichgewicht. Im Urlauberdilemma könnten die Spieler zum Beispiel zwischen einer einstelligen, einer zweistelligen und einer dreistelligen Strategie abwägen. Dem entsprechen die drei Mengen von Einzelstrategien E = {2, 3, …, 9}, Z = {10, 11, … 99} und D = {100}. Diese Version des Spiels hat zwei MD-Gleichgewichte, E und Z. Ein Problem entsteht allerdings, wenn sich die Spieler in einer zweiten Runde des Spiels auf eine einzelne Strategie innerhalb einer der beiden MD-Gleichgewichte festlegen wollen. Dann nämlich kann es wieder zu einem gegenseitigen Unterbieten bis zur kleinsten Zahl innerhalb der Gleichgewichtsmenge kommen. Die Lösung könnte in schwammig definierten Mengen oder Eigenschaften bestehen. Die Spieler könnten sich dann z. B. für eine „ziemlich große Zahl“ entscheiden. Da „ziemlich groß“ nicht genau definiert ist, gibt es innerhalb dieser Menge keine größte Zahl, von der ein Unterbieten per Rückwärtsinduktion seinen Ausgang nehmen könnte. Wie diese Idee zu formalisieren wäre, bleibt allerdings eine offene Frage.
Ein empirisches Ergebnis von Capra/Goeree/Gomez/Holt (1999) bestätigt das: Der Ausgang des Urlauberdilemmas bewegt sich erst dann in Richtung des Nash-Gleichgewichts, wenn die Belohnung und die Strafe hinreichend hoch sind. Die Menschen werden also nur dann dem anderen schaden, wenn dabei genug für sie selbst herausspringt.
Gintis (2003) legt überzeugend dar, dass soziales Verhalten von einer Generation zu nächsten weitergegeben wird und sich über Sozialisierungsinstitutionen auch seitwärts in einer Gesellschaft ausbreitet. So werden Verhaltensweisen übernommen, die zwar für den Handelnden kostspielig sind, aber der Gemeinschaft dienen.
Blattman/Jamison/Sheridan (2017) haben gezeigt, dass die Menschen nicht nur von anderen Faktoren geleitet werden als von einem exogen gegebenen Eigeninteresse, sondern dass darüber hinaus ihr Identitätsgefühl mithilfe kognitiver Verhaltenstherapie verändert werden kann. Wird zum Beispiel der gesetzestreue Teil ihrer Identität gestärkt, sinkt die Neigung zu verbrecherischem Handeln.
Ein gewisser Grad an automatischer oder zufälliger Entscheidungsfindung ist in der Evolution von Vorteil. Wer aber alle wichtigen Entscheidungen auf diese Weise trifft, dessen Gene werden es wahrscheinlich nicht in die nächste Generation schaffen. Solcherart evolutionäre Argumentation ist inzwischen im Mainstream der Spieltheorie angekommen (Weibull 1995).
Schuldgefühle werden oft als Internalisierung von Normen beschrieben. Die Menschen fühlen, dass das Verletzen einer Norm ungehörig ist (siehe Young 2008). Das kann ein Grund dafür sein, dass informelle Institutionen oft so gut funktionieren. Ferguson (2013, Kap. 8) bietet eine exzellente Diskussion informeller Institutionen und ihrer Typologie.
Sen (1993) hat auf diese Weise argumentiert, dass vernünftige Spieler inkonsistentes Verhalten an den Tag legen und so z. B. gegen das schwache Axiom der offenbarten Präferenzen verstoßen können.
Hierzu besteht inzwischen eine enorme Literatur. Siehe z. B. Loewenstein (1987), Frank (1988), Akerlof (1991), Sunstein (1996), O’Donoghue/Rabin (2001), Ariely (2008), K. Basu (2011), Ifcher/Zarghamee (2011), Mullainathan/Shafir (2013), Rabin (2013). Die World Bank (2015) fasst viele dieser Arbeiten zusammen, insbesondere jene mit Bezug zur wirtschaftlichen Entwicklung. Nicht zu vergessen sind aber auch einige ältere Beiträge wie Veblen (1899) und Leibenstein (1950).
Das setzt allerdings voraus, dass alle Vorgaben des Rechts miteinander vereinbar sind und auch sonst die Befolgung des Rechts in jeder Hinsicht möglich ist.
Diese Diskussion geht auf Max Weber und H. L. A. Hart zurück und hält sich beständig (siehe Cotterell 1997). Aktuellere Debattenbeiträge kommen z. B. von Singer (2006), Huq/Tyler/Schulhofer (2011) und Tyler/Jackson (2014). Kornhauser (1984) und R. Akerlof (2017) bieten eine Formalisierung des Legitimitätskonzepts im Unternehmenskontext, wo ähnliche Fragestellungen wie auf der hier betrachteten staatlichen Ebene auftreten. Tyler (2006) präsentiert die interessanten Ergebnisse einer großen Umfrage zu den Beweggründen für Gesetzestreue.
Das Arthashastra ist ein indisches Staatsrechtslehrbuch aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., dessen Titel mit „Wohlstandsregeln“ übersetzt werden kann und das für seine Machiavelli vorwegnehmenden Lehren berühmt ist. Darin erinnert der Berater den König unmissverständlich daran, wie einfach es ist, die Bevölkerung auszubeuten, indem man ihr weismacht, ihre Misere entspreche dem Willen Gottes.
Die hyperbolische Diskontierung war in der Tat einer der Ausgangspunkte der Verhaltensökonomik und ist dementsprechend Gegenstand umfangreicher Literatur. Siehe Akerlof (1991), Laibson (1997), O’Donoghue/Rabin (2001), K. Basu (2011).
Einige Forschende beherrschen diese Kunst, alles, was sie beobachten, mit dem Lehrbuchmodell in Einklang zu bringen. Dabei fallen sie jedoch in eine tautologische Falle. Ich kenne Mainstream-Ökonomen, die, wenn sie jemanden rund um die Uhr arbeiten sehen, das als Manifestation egoistischer Nutzenmaximierung bewerten. Dann sehen sie, wie eine uneigennützige Person ihr gesamtes Hab und Gut an die Armen verschenkt – und werten auch das als Manifestation egoistischer Nutzenmaximierung. Sie merken nicht, dass sie ihre Vorstellungen von Egoismus und Nutzenmaximierung zu einer Tautologie verzerren müssen, um an ihren Überzeugungen festhalten zu können.