In den Villenbriefen ‚baut‘ Plinius sprachliche Konstrukte, die eine bestimmte atmosphärische Wirkung hervorrufen. Der Beitrag analysiert, welche Instrumente und Techniken der sprachlichen und stilistischen Textgestaltung Plinius dabei anwendet. Er stützt sich dabei auf zwei generelle Eigenarten von Sprachen und Sätzen: Die Auswahl der Worte bedingt eine semantische Selektion und damit eine Fokussierung auf bestimmte Aspekte und Konnotationen, und die lautliche Abfolge der Worte im Satz strukturiert zeitlich das Entstehen eines Vorstellungsbildes und seiner Eigenschaften und Konnotations-Potenziale vor dem inneren Auge der Leserschaft. Der Beitrag untersucht einige von Plinius verwendete sprachliche Mittel einer solchen Sprachschöpfung: Sequenzierung Rhythmisierung und Tempowechsel; die paradox anmutende Kontrastierung von Syntax und Semantik der Verben, die unbelebte Räume als Akteure menschlicher Handlungen inszeniert; die Selektion der sensualistischen Wahrnehmungen auf ein kleines und damit umso eingängigeres Repertoire an Sinneseindrücken. An einzelnen Passagen und in der Gesamtstruktur der beiden langen Villenbriefe Epist. 2,17 und 5,6 wird außerdem exemplarisch die Anwendung dieser Methoden konkret nachvollzogen, um deutlich zu machen, auf welche Weise Plinius durch Sprachschöpfung Raumatmosphären konstruiert.
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Vgl. Mielsch (1987, S. 94–140), Zarmakoupi (2014a, S. 88–94), für Plinius insbesondere Bütler (1970), Lefèvre (1977, 2009), Gibson und Morello (2012, S. 167–233), Dewar (2014, S. 51–67), Neger (2016). Siehe oben S. 47–54.
Vgl. Mielsch (2003), inbesondere zu Marmorinkrustationen und Verglasung, die Plinius immerhin en passant erwähnt; Weeber (2007), Zarmakoupi (2014a). Bergmann (1995, S. 205) fügt einige der bisher genannten Interpretationsansätze zu einer prägnanten These über die Villenbriefe zusammen: „In short, Pliny’s is a rhetoric of self-stylization. Less about built places, the villa letters read like a panegyric to his own private otium: delightful, but not too ostentatious.”
Siehe Whitton (2013, S. 10 f.): „For all the celebration of statemanship and social grace the private, leisured sphere hat a special place in this portrait of Pliny’s ‘private’ self. Otium is the prerequisite not just for relaxation but for the studia (literary activities) that are the life-blood of the Epistles and the route to eternity: 3.7.14 [uitam] si non datur factis, certe studiis proferamus ‘if we may not extend our life with deeds, let us at least do so with our efforts on the page.’ Late in book 2 we reach the sanctum that is the Laurentine villa, site of and metonym for literary devotion […]; late in that latter we reach the inner sanctum of the villa itself, Pliny’s private suite for undisturbed meditation and composition. Both as concept and as consummation of textual art, the villa carries immense weight in the economy of the Epistles, as its final letter confirms: the last thing we see, as his epistolary life-blood fades away, is Pliny in his Laurentine study; dictating and reworking into oblivion (9.40.2 illa quae dictaui identidem retractantur). Here at the heart of his Laurentine retreat, that most intimate spot, we find perhaps the ultimate intrication of life, letters and literature in Pliny’s epistolary monument: ipse posui (2.17.20).” – Vgl. zum Selbstbild des Plinius oben S. 47–49.
‚Fingieren‘ und ‚Fiktion‘ leiten sich vom lateinischen Verb fingere ab, das allgemein „formen, gestalten, bilden“ und im engeren Sinne „ausdenken, ersinnen, erdichten, vorgeben, lügen“ bedeutet. Einen groben Überblick über die literaturwissenschaftlichen Fiktionalitäts- und Mimesistheorien gibt Achim Barsch s. v. in Nünning (2012, S. 177 f.).
Zu einer historisch-kritischen Annäherung an die Vorstellungen von Plinius und seiner Leserschaft, die sich durch philologisch-historische Methoden anhand der Villenbriefe und ihres zeitgenössischen Umfelds rekonstruieren lassen, siehe Vogt, Beitrag „Der Kontext...“ in diesem Band.
Epist. 2,17,1 Laurentinum vel, si ita mavis, Laurens meum “mein Laurentiner <Landgut> , oder wenn du lieber willst: mein Laurenter <Landgut> “; Epist. 5,6,1 Tuscos meos „zu meinem etruskischen Landgut“; Epist. 1,3,1 Comum, tuae meaeque deliciae „das Comum, dein und mein Liebling“. In Epist. 9,7,1 steht ohne Benennung nur die geographische Angabe ad Larium lacum „am Comer See“.
In Epist. 2,17,2–3 wird die Villa in ihrer räumlichen Relation zu Rom ‚verortet‘: durch die Angabe der Entfernung, und der Wegführung bei der Anreise aus Rom, ergänzt durch eine Beschreibung der Landschaften, deren Anblick man auf der Reise genießen kann. Das verweist auf das inhaltliche Leitmotiv dieser Villa als einem idealen ‚geistigen Lebensraum‘ für intellektuelle und literarische Betätigung (studia) in erholsamer Muße (otium), die im geschäftigen Alltag in Rom nicht möglich ist; vgl. oben S. 53f. – Epist. 5,6,1–6 diskutiert ausführlich die Gesundheit (als Antwort auf die vom Adressaten Domitius Apollinaris befürchtete Ungesundheit) des Klimas der ganzen Gegend und setzt mitten in diese Erörterung die konkrete Lage der Villa: Apennino […] subiacent „es liegt […] am Fuß des Apennin“ (§ 2). – In den beiden sehr kurzen Briefen fällt diese genauere ‚Verortung‘ entsprechend knapp aus und erfolgt nur mit dem generischen Begriff suburbanum amoenissimum „das stadtnahe Landgut, das allerlieblichste“ (Epist. 1,3,1) bzw. durch die generelle Lage-Angabe Huius in litore „an seinem Ufer“, d. h. dem Ufer des Comer Sees (Epist. 9,7,2).
Zum analogen Aufbau der drei anderen Briefe vgl. ausführlich unten Abschnitt 3, S. 100–108. – Die allegorischen Bezeichnungen deuten Düchs und Illies, in diesem Band S. 306–309, überzeugend als ‚kleine Narrative‘. Gibson und Morello (2012, S. 203–211) weisen inhaltliche Bezüge zu dem ‚Villen-Paar‘ der Briefe 2,17 und 5,6 nach, die auch in den paarweise aufeinander bezogenen Briefen zum Tagesablauf 9,36 und 9,40 wiederkehren.
Zu der Eigenart von Plinius, Syntax und Semantik in der Verwendung der Verben auf diese Weise miteinander in Widerspruch zu setzen zu setzen, siehe ausführlich Abschnitt 2.2.
Lefevre (2009, S. 226) weist darauf hin, dass Plinius hier, ebenso wie Martial in 10,30,16–18, das Vergnügen des Ästheten ins Bild setzt, der es vorzieht, Fischern zuzuschauen als sich selbst auf den See zu begeben – man könnte sagen, er hält, wie bei einem manieristischen Rokoko-Wandgemälde mit dreidimensionalen Stukkaturen, die Angelrute gleichsam aus dem Bilderrahmen heraus, verlässt das Bild aber nicht, sondern bleibt in ihm und damit in Distanz zu Welt und Natur.
Epist. 2,17,11 (die unterstrichenen Begriffe benennen Räumlichkeiten): Inde balinei cella frigidaria spatiosa et effusa, cuius in contrariis parietibus duo baptisteria velut eiecta sinuantur, abunde capacia si mare in proximo cogites. Adiacet unctorium, hypocauston, adiacet propnigeon balinei, mox duae cellae magis elegantes quam sumptuosae; cohaeret calida piscina mirifica, ex qua natantes mare aspiciunt. „Hierauf der Badeanlage Kaltwasserbad, geräumig und weit, aus dessen einander gegenüberliegenden Wänden zwei Becken wie herausgetrieben sich bogenförmig auswölben, völlig ausreichend, wenn du das Meer in der Nähe bedenkst. Es grenzt das Salbzimmer an, der Fußbodenheizungs-Raum, es schließt ein Heißraum der Badeanlage an, dann zwei Räume, eher geschmackvoll als aufwändig; eng hängt ein Warmwasserbad an, ein wunderbares, aus dem die Badenden das Meer sehen.“
Epist. 5,6,25: Cohaeret hypocauston et, si dies nubilus, immisso vapore solis vicem supplet. Inde apodyterium balinei laxum et hilare excipit cella frigidaria, in qua baptisterium amplum atque opacum. „Eng hängt ein Fußbodenheizungs-Raum an und vertritt, wenn der Tag wolkig ist, durch den eingeleiteten Dampf die Stelle der Sonne. Anschließend ein Umkleideraum für das Bad, ein geräumiger und heiterer; auf ihn folgt das Kaltwasserbad, darin ein weiträumiges und schattiges Becken.“
Alle genannten Beispiele sind dem Abschnitt Epist. 2,17,5–8 entnommen; die Sammlung ließe sich beliebig erweitern. Vgl. die Auflistung der entsprechenden relationalen Lage-Begriffe bei Zeman, in diesem Band S. 67f.
In den gängigen (zielsprachenorientierten) Übersetzungen wird daher häufig diese Art der Formulierung gewählt, um eine elegante und in sich schlüssige Ausdrucksweise zu erzeugen; die in diesem Band vorgelegte ausgangssprachenorientierte Übersetzung hingegen hält sich strikt an die von Plinius vorgegebenen grammatische Subjektswahl. Vgl. mein Vorwort zur Übersetzung, oben S. 4–7, zur Konzeption der sog. ‚dokumentarischen Übersetzung‘ im Sinne von Schadewaldt (1958) und Fuhrmann (1992), mit aktueller Evaluation und Bestätigung durch Poiss et al. (2016).
So findet sich in der (in der Überlieferung fälschlich dem Demetrios von Phaleron zugeschriebenen) poetologischen Abhandlung Περὶ ἑρμηνείας / De elocutione / „Über den Stil“ aus dem 2. Jh. n. Chr. die folgende Definition des Briefes, die zum locus classicus der antiken Brieftheorie geworden ist: […] εἶναι γὰρ τὴν ἐπιστολὴν οἶον τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου „[…] dass der Brief wie der andere Teil des Dialogs ist“ (De eloc. 233). – Einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur antiken Brieftheorie und Briefliteratur geben Müller et al. (2020, S. 1–12).
Das Konzept des ‚impliziten Lesers‘ wurde von Wolfgang Iser als Kern seiner Theorie der Wirkungsästhetik entworfen (bes. Iser 1970, 1972, 1976) und übt nachhaltigen Einfluss auf die Literaturwissenschaft aus; siehe Nünning (2001, S. 291 f.).
Ausnahmen bilden die Pavillon-Beschreibung in Epist. 2,17,20–24 und die Ausführungen zur Ekphrasis in Epist. 5,6,41–44, die beide schon durch diese formale Auffälligkeit ihre besondere Bedeutung für die Selbstdarstellung des Plinius als Autor der literarischen Kunstbriefe unterstreichen.
Vgl. Mielsch (2003, S. 318): „Der kennzeichnendste Zug der römischen Haus- und Villenarchitektur ist zweifellos die Neigung, die Haupträume einer Anlage axialsymmetrisch anzuordnen und sie durch Blickachsen zu verbinden. Diese erschließen dem Besucher den Bau und seine Ausdehnung meist schon vom Eingang aus. Sie sind vielfach gestaffelt, benutzen den Wechsel von Helligkeit und Verschattung offener oder überdachter Areale. Fast unverzichtbar ist die Fortsetzung dieser Blickachsen ins Freie, auf das Meer oder auf Berge.“
Das teilt Plinius in zwei weiteren Briefen mit, die auch die jeweiligen Tagesabläufe in den beiden Villen beschreiben: Der Brief 9,36 schildert, wie beim Sommeraufenthalt auf dem Landgut in Etrurien sein rein ‚geistiges Leben‘ des otium durch ernsthaftes Studieren (Nachdenken, Texte Formulieren und Diktieren, lautes Lesen, sich vorlesen Lassen – abwechselnd allein und mit Familie oder Freunden, im abgedunkelten Zimmer, beim gemeinsamen Essen oder beim Spaziergang oder der Wagenfahrt an der frischen Luft) stattfindet, unterbrochen nur durch Erholung bei Mittagsschlaf oder Bad und durch körperliche Betätigung wie die Jagd (und selbst auf diese nimmt er seine Notizbücher mit: Epist. 9,36,5 venor aliquando, sed non sine pugillaribus „ich jage manchmal, aber nicht ohne Schreibtafeln“). Als Pendant dazu gestaltet Plinius den Brief 9,40, in dem er die wenigen Abweichungen von diesem Programm beim winterlichen Aufenthalt im Laurentinum beschreibt. Vgl. Lefevre (2009, S. 224, 242–245).
Siehe Curtius (1948), Schönbeck (1962) und Haß (1998) zur Topik des locus amoenus in der antiken Literatur; Hindermann (2016) zu dieser Topik in den Plinius-Briefen; D’Arms (1970, S. 45–48 und 126–133) zur Inszenierung solcher loci amoeni in den villae maritimae. – Die biologisch-physiologischen Voraussetzungen und Anforderungen an den Sinn für Ästhetik, Schönheit und Angenehmes, die dieser Topik zugrundeliegen, analysiert Illies (2011).
Auch wenn die modernen Editoren des Briefes übereinstimmend nach (a) ein Fragezeichen und nach allen folgenden Teilsätzen ein Komma setzen, und wenn meine deutsche Übersetzung nach jedem Teilsatz ein eigenes Fragezeichen setzt, muss man die Satzteile (a) bis (j) als ein zusammenhängendes Ganzes betrachten: Alle Teilsätze haben als einziges Verb das Wort agit „macht“ in (a) gemeinsam, und sie sind in der Art der stilistischen Variation (wie im Folgenden gezeigt wird) eng miteinander zu einem Ganzen verbunden.
Siehe dazu die Erläuterungen in den Fußnoten zur Übersetzung von diesem Briefanfang (Epist. 1,3,1) und dem Auftakt der Pavillon-Beschreibung in Epist. 2,17,20 (dazu auch oben S. 85).
Vgl. Marchesi (2008, S. 31 f.): „The letter opens with an effective, rhetorically elaborate, musing on his friend’s villa that reads as a compendious description of an ideal place for leisurely working. Indeed, the epistle could be seen as a blueprint not only for Caninius Rufus’ villa, but also for the literary treatment of his own villas to which Pliny will later devote Ep. 2.17 and 5.6 (with an interesting aside in 9.7).”
Solche Textsignale sind vor allem das Fehlen von Verknüpfungspartikeln bei gleichzeitiger Satzanfangsstellung eines neuen inhaltlichen Themenstichwortes, wie die Abschnittsanfänge in Epist. 2,17 mit decem septem milibus passuum (§ 2), villa (§ 4), gestatio (§ 14), in Epist. 5,6 mit caelum (§ 4), regionis forma (§ 7), villa (§ 14) – die überdies wörtlich den in Epist. 5,6,3 genannten Themenstichworten entsprechen, also den ‚Dreiklang‘ der angekündigten Themen gleichsam einlösen – sowie der unvermittelte Beginn des Exkurses (E) in Epist. 5,6 mit einem Verb in der 1. Pers. Sg. vitassem iam dudum „Vermieden hätte ich es schon längst“ (§ 41), ebenso wie der ähnlich unvermittelte Abbruch des Exkurses zu Beginn des abschließenden Brief-Dialog-Abschnittes Verum illuc unde coepi „Aber zurück dorthin, wo ich begonnen habe“ (§ 44b). Ein anderes Textsignal sind zusammenfassende Fazit-Formulierungen entweder am Ende eines Abschnittes (wie in Epist. 5,6,28: Haec facies, hic usus a fronte. „Dies die Ansicht, dies die Funktion vorne.“) oder zu Beginn eines neuen, wenn dieses Fazit zu einem neuen Aspekt überleitet (wie in Epist. 2,17,25: Haec utilitas haec amoenitas deficitur aqua salienti, sed puteos ac potius fontes habet: sunt enim in summo. „Dieser Zweckmäßigkeit, dieser Lieblichkeit fehlt ein Springbrunnen, doch Brunnen oder vielmehr Quellen hat sie: sie liegen nämlich direkt unter der Erdoberfläche.“ oder in Epist. 5,6,32 Hanc dispositionem amoenitatemque tectorum longe praecedit hippodromus. „Diese Anordnung und Annehmlichkeit der Gebäude übertrifft bei weitem die Hippodrom-Promenade.“). In den Brief-Dialog-Passagen (B) und im Exkurs in Epist. 5,6 (E) ist das vorrangige distinktive Textsignal die Verwendung von 1. und 2. Person Singular für Briefschreiber und Adressat, die in den beschreibenden Hauptteilen der Briefe signifikant fehlen; siehe oben S. 97f.
Zum Erzähltempo, wie es sich aus dem Verhältnis von erzählten Räumen und Erzählumfang ergibt, siehe oben S. 94–96. – Die Anzahl der beschriebenen Zimmer, Örtlichkeiten und Gartenteile kann nur ungefähr bestimmt werden, weil es nicht immer klar ist, ob ein Stichwort einen bereits erwähnen Ort wieder aufgreift oder einen neuen meint.