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2024 | Buch

Reisendes Wissen

Travelling Concepts als soziologische Kategorie

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Über dieses Buch

"Viel zu wenig wird untersucht, wer weshalb mit welchen Medien Wissen auf Reisen schickt oder von Reisen mitbringt und wer auf welche Weise sich fremdes Wissen eigensinnig angeeignet, um das Eigene neu zu interpretieren. Der vorliegende Band ist ein gelungener Versuch, die Wege und Praktiken zu beleuchten, mit denen Menschen dies tun."
Jo Reichertz

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Die Tektonik des Sozialen
Die Reise von Wissen als soziologische Idee
Zusammenfassung
Reise ist ein Begriff, der eine gewisse Offenheit gegenüber dem Anderen, eine lustvolle, aktive Hinwendung zum Neuen, eine gewollte Irritation in der Fremde und damit auch einen Wunsch nach Reflexion und Infragestellung des Eigenen impliziert. Reisen beinhalten Momente der Überraschung, sind Inspiration und Desillusion gleichermaßen und bieten mit der räumlichen Trennung von Gewohntem auch einen neuen Blick auf die Welt selbst; auf die Kontingenzen sozialen Sinns, die Brüchigkeit sozialer Ordnung und die Relativität der eigenen Perspektive. So sind Reisende immer auch interessierte Fremde, die jedoch in ihrer fehlenden Einbindung und ihrem analytischen Abstand in einer besonderen Beziehung zu den bereisten Orten stehen und diesen bisweilen nähertreten, als es lokale Akteure und Akteurinnen zu tun vermögen. Von einer Reise des Wissens zu sprechen erscheint begrifflich erst einmal attraktiv. Denn die Reise impliziert die Möglichkeit, uns im Licht des Anderen selbst neu zu entdecken, vor dem Hintergrund einer horizonterweiternden Irritation andere Auslegungs- und Handlungsmöglichkeiten der nur vermeintlich bekannten Welt zu erfahren und damit eine Lesart von Wirklichkeit zu entwickeln, die die bisherige hinterfragen, erweitern, erschüttern kann. Damit zusammenhängend können Reisen jedoch auch mit Unbestimmtheiten, Risiken und Gefahren einhergehen, da neue Entdeckungen und Erlebnisse mit unabsehbaren Folgen und Konsequenzen daherkommen können. Im Zauber der Fremde scheint das Gefühl der eigenen Ohnmacht nah, wenn paradigmatische Grundlagen individueller Deutung situational ins Wanken geraten, wenn eingespielte Handlungsmuster für eine erfolgreiche Bewältigung der Situation verfehlt wirken oder wenn eine Übereinkunft mit dem Gegenüber nicht oder nur sehr begrenzt möglich erscheint. Reisen sind Ereignisse, die wir unternehmen und von denen wir aber immer auch unternommen werden (Steinbeck 1993, S. 8). Dem Wissen auf Reisen und den Akteuren und Akteurinnen, die mit diesem Wissen in Kontakt kommen, geht es nicht anders.
Martin Harbusch

Teil I: Kommen

Frontmatter
Brücken in die Lebenswelt
Psychiatrisches Wissens auf dem Weg in den Alltag und die konnektive Leistung der Sozialen Arbeit im Spannungsfeld der psychosozialen Hilfe
Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel zeichnet auf der Basis einer Interviewstudie unterschiedliche Arten nach, mit denen Professionelle der Sozialen Arbeit die Idee Psychische Störung in ihrer alltäglichen Arbeit verwenden. Psychiatrische Diagnosekategorien werden in diesem Zusammenhang als Reisendes Wissen diskutiert, die sich den Professionellen der Sozialen Arbeit einerseits im Arbeitsalltag aufdrängen, andererseits von diesen auch gezielt angebracht werden, um einzelne Situationen in bestimmte Handlungspfade zu überführen. Die Ergebnisse der Studie erweitern die klassischen soziologischen Kritiken an der Psychiatrie, indem sie aufzeigt, auf welche Weisen psychiatrische Kategorien heute auch jenseits der Psychiatrie selbst lebensweltliche Bedeutung gewinnen.
Martin Harbusch, René Pingel-Rathke
Posttraumatische Belastungsstörung in Norduganda in Worten, Zahlen und Projekten
Zusammenfassung
Während meiner Forschung zum freien Zugang zu HIV-Medikamenten in Norduganda besuchte ich 2011 das Krankenhaus in Atiak, das etwa 70 km nördlich von Gulu und etwa 50 km von der südsudanesischen Grenze entfernt liegt. Diese Besuche waren Teil einer längeren Feldforschung in der Region, bei der ich meist mit ugandischen Kolleg*innen und Forschungsassistent*innen zusammenarbeitete. Unsere Besuche folgten immer dem gleichen Muster: Zuerst suchten wir die Krankenhausleitung auf. Wir baten formell um die Erlaubnis Interviews mit Patient*innen zu führen und gaben der Leitung einen Überblick über das Projekt und die Interviewfragen.
Sung-Joon Park
Abweichende Nachrichten
Die soziale Reise der „fake news“
Zusammenfassung
Akademische Arbeit hat staatliche und konzernmassenmediale Informationen historisch eher unter einer Hermeneutik des Verdachts analysiert (in der soziale Probleme-Soziologie). Durch Historisierung und Kontextualisierung als auch durch die Analyse von Strukturen der Deutungsmacht hat sie mehr zur Relativierung solcher Narrative als zu ihrer Untermauerung beigetragen. In soziologischen Diskussionen zu labeling, sozialen Problemen und Moralpaniken sind es die zentralisierten Informationsnetzwerke der zunehmend monopolisierten Konzernmedien im Massenmedienzeitalter, die als Wege der Verbreitung „offizieller Wahrheiten“ bemerkt werden, die lebensweltlichen Erkenntnissen und tiefer Auseinandersetzung mit Feldern oft entgegenstehen. Klassiker sind hier Werke zur Drogenpolitik, zu Kriminalitätspaniken, aber auch zu Kriegspropaganda. Nachrichten, so bemerken diese soziologischen Studien, waren außerordentlich oft „fake“.
Michael Dellwing
Migrationshintergrund: nationale Aneignungen eines wandernden Begriffs im deutschsprachigen Raum
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht wie die Kategorie |Migrationshintergrund| in den vier deutschsprachigen Ländern Deutschland, Liechtenstein, Österreich, Schweiz innerhalb der nationalen Auswertungen der Daten des Programme for International Student Assessment (PISA) im Zeitraum von 2000 bis 2018 umgesetzt wurde und wie |Migrationshintergrund| in die Bevölkerungsstatistik weiterwanderte. Mieke Bals Konzept der „wandernden Begriffe“ ist hierbei zentral inklusive ihrer Forderung die mitreisenden „short-hand theories“ im Blick zu behalten. Dies gelingt mithilfe des Vergleichs der unterschiedlichen Definitionen und Operationalisierungen von |Migrationshintergrund| in diesen vier nationalen Kontexten im Zeitverlauf und mit den beiden Datenquellen PISA und der Arbeitskräfteerhebung (AKE) der Europäischen Union und der European Free Trade Association (EFTA).
Anne-Kathrin Will
Wie Kriminalität ‚reist‘
Eine Annäherung an die Herausbildung institutionalisierter Wissensformen zu Kriminalität
Zusammenfassung
Wir gehen im Folgenden davon aus, dass Kriminalität sich in besonderer Weise dafür eignet, im Anschluss an Bal (2002) als „travelling concept“ analysiert zu werden. Die Rede von Kriminalität impliziert ebenso wie ihre institutionelle Bearbeitung besonderes Wissen, das oftmals zirkuliert, sei es zwischen Personen, Medien, Institutionen, Organisationen o.a.m. Was Kriminalität letztlich ‚ist‘, wird in derartigen Abläufen festgelegt, und hierauf kann, so unsere im Folgenden näher zu bestimmende Annahme, mit dem Fokus eines „travelling concept“ genauer geblickt werden.
Bernd Dollinger, Holger Schmidt, Daniel Stein

Teil II: Gehen

Frontmatter
Reisendes Wissen – als Moment der Übersetzung?
Konzeptuelle Überlegungen zu traveling concepts am Beispiel der multiplen Übersetzung des Alevitentums
Zusammenfassung
Wer viel reist oder wer viel liest weiß mehr? Diese Redewendung aus dem Türkischen weist bereits auf verschiedene Formen und Formate von Wissen, dass durch die Reise gewonnen werden kann aber ebenso auf dessen Kontextspezifität hin. Mit Blick auf verschiedene Formen und Formate des Wissens ist aus soziologischer Perspektive besonders die in der Türkei nicht anerkannte und im Kontext des Islams historisch gewachsene Glaubensgemeinschaft der Aleviten interessant. Denn sie ist überwiegend in dörflichen Strukturen milieuförmig organisiert und verfügt über ein spezifisches religiöses Wissen.
Elif Yıldızlı
Zu den Reisen einer Methode
Über die Auslassungen in der transatlantischen Ethnografierezeption oder ‚Wie schreibe ich (k)einen ethnografischen Bestseller?‘
Zusammenfassung
Die deutschsprachige qualitative Methodenlandschaft weist eigene enge historische wie gegenwärtige Verwobenheiten mit der US-amerikanischen auf. Während Zugänge, wie die Forschungsprogrammatik der Grounded-Theory-Methodologie u. a. in transatlantischen Arbeitsbeziehungen weiterentwickelt und verbreitet wurden, haben Vertreter_innen der sich ausdifferenzierenden Ethnografielandschaften auf beiden Seiten des Atlantiks wenig Notiz voneinander genommen. Der Beitrag beschäftigt sich zunächst mit diesen (Nicht-)Rezeptionswegen zwischen den transatlantischen qualitativen Forschungskulturen. Daraufhin wird ein spezifisches Artefakt US-soziologischer Wissensproduktion fokussiert, für das es hierzulande kein Äquivalent gibt: das Format des ethnografischen Bestellers. Entlang der Analyse der textuellen Konstruktionserfordernisse dieses Genres werden die spezifischen epistemologischen Hintergründe soziologischer US-Ethnografie und die damit verbundenen disziplinären Selbstverständnisse aufgezeigt.
Debora Niermann
Reisende Konzepte in einer Multi-Sited Ethnography
Zur Konstruktion von Fremdheit und Vertrautheit bei sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen
Zusammenfassung
Was in diesem Zitat aus dem Bestsellerroman „Der Junge, der zu viel fühlte“ unmittelbar mitschwingt, ist ein Verweis darauf, dass Menschen mit Autismus nicht selten Erfahrungen von Fremdheit innerhalb des eigenen kulturellen Kontexts machen. Der Zusatz „fast überall“ deutet dabei auf die gesamtgesellschaftliche Tragweite hin, die das Phänomen Autismus mit sich trägt. Im Zitat nur angeschnitten, werden exemplarisch unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche aufgeführt, in denen Fremdheitserfahrungen aber auch Fremdheitskonstruktionen von und über Menschen mit Autismus in sozialen Situationen gemacht bzw. hergestellt werden.
Pao Nowodworski, Marie Marleen Heppner

Teil III: Bleiben

Frontmatter
Flanieren als Methode
Drei Wissensformen begegnen sich auf Augenhöhe
Zusammenfassung
In diesem Beitrag möchte ich den Begriff der Reisenden und ihr Wissen (Traveling Concepts) um den Begriff der Flanierenden erweitern. Denn wenn zwischen den Reisenden (wie TouristInnen, WissenschaftlerInnen etc.) und den Flanierenden differenziert wird, kann eine Konzeptualisierung als soziologische Kategorie des reisenden Wissens bereichert werden, indem die Besonderheiten der Flanierenden mit ihren Orientierungsrahmen und den ‚kleinen‘ Reisen in ihrer konkreten Alltagswirklichkeit berücksichtigt werden. Aus der kultur- bzw. wissenssoziologischen Perspektive handelt es sich bei den Traveling Concepts weniger um Reisekonzepte als vielmehr um wissende Reisende, die als Wissensträger, -verarbeiter und -weiterentwickler ihr Wissen mitnehmen und/oder einsetzen, dieses mit weiteren „Reisenden“ in der spezifischen sozialen Situation bestätigen und neu aushandeln und/oder entlang vorgefundener struktureller (architektonischer) Kontexte und Wissensordnungen transformieren.
Stephanie Kernich
Knowledge Cultures and Traveling Concepts
How psychological concepts journeyed across the Berlin Wall
Zusammenfassung
How do we know what we know and how have the conditions of knowledge production changed in the seemingly “deterritorialized” world of the 21st Century? The notion that there is a convergence between a nation, its culture and the types of knowledge produced has long informed assumptions about how and why we know what we know. Yet history reveals the inadequacy of such essentializing assumptions. After the collapse of communism in 1989, scientific developments in the former Soviet Bloc were deemed to be tainted by political interference and a lack of engagement with international scientific developments at the time. However, the pre-1989 ideologically and politically bifurcated world exemplifies how ideas travelled through both formal and informal channels. Moreover, knowledge practices on both sides of the Iron Curtain had similar historical trajectories, biases and interlinkages with politics at the time. The analysis of the development of diagnostic categories such a “neuroses” in pre-1989 socialist East Germany exemplifies how psychological concepts were both intertwined with the socialist project, but also transformed in clinical practice due to national and international networks as well as various local, cultural, and institutional circumstances. The history of the East German psy sciences thus reveal how “travelling concepts” and transnational knowledge practices could supersede the stark East-West divide.
Christine Leuenberger
Denken und Deuten in Metaphern
Reisendes Wissen und interpretative Sozialforschung
Zusammenfassung
Metaphern durchdringen, wie Lakoff und Johnson (2011) bemerken, alle Bereiche unseres alltäglichen Lebens. Dabei sind sie mehr als sprachliche Stilmittel, also bloße Substitutionen im Sinne poetischer Ausschmückungen; sie bilden komplexe und kohärente metaphorische Konzepte, die als solche unser Denken und Handeln strukturieren. Löst man Metaphern aus dem engen sprachwissenschaftlichen Korsett, besteht aus einer wissenssoziologischen Perspektive ihre zentrale Funktion darin, dass sie bestimmte Wissenselemente eines Konzepts auf ein anderes applizieren bzw. transportieren (hierzu v. a. Schmitt 2004) können. Mit Blick auf das Konzept der traveling concepts kann diese Sichtweise dahingehend verlängert werden, dass Metaphern sowohl verreistes Wissen indizieren als auch gleichzeitig ein Medium oder Vehikel, sind in dem Wissen und damit auch Bedeutung(en) reisen kann. Metaphern sind so verstanden Mechanismen einer interpretativen Welterschließung und Praktiken der kreativen Aufnahme, Übersetzung und Transformation des Wissens. Indem Metaphern Wissen und Bedeutungen übertragen, ermöglichen sie nicht nur Neues zu erschließen und Unbegreifliches zu begreifen; sie helfen auch dabei Unbekanntes zu ordnen und Bekanntes anders und neu zu denken. Dieses interpretative Potenzial von Metaphern und reisendem Wissen stellt der Beitrag in seinen Fokus und diskutiert den Gebrauch von Metaphern als interpretative „Alltagspraxis und wissenschaftliches Programm“ (Hitzler 1993).
Max Kaufmann
Metadaten
Titel
Reisendes Wissen
herausgegeben von
Martin Harbusch
Copyright-Jahr
2024
Electronic ISBN
978-3-658-45229-2
Print ISBN
978-3-658-45228-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-45229-2

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.