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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Risikowahrnehmung durch und nach Corona

Haben sich Verständnis und Wahrnehmung von Risiken verändert?

verfasst von : Daniel Eichner, Christian Fritsch, Gina-Luisa Kothe, Sina Kühner, Yannik Remond, Jonas Warnke

Erschienen in: Risiko im Wandel

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Pandemien, Naturkatastrophen, Terroranschläge und andere Großschadenereignisse verändern die Risikowahrnehmung der Bevölkerung. Sie lassen die von ihnen ausgehenden Gefahrenpotenziale für die Öffentlichkeit sichtbar werden. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den allgemein vorherrschenden Einflussfaktoren auf die Risikowahrnehmung und wie diese auf spezifische Großschadenereignisse − bspw. die Corona-Pandemie − übertragbar sind. Dabei zeigt sich, dass Experten und Expertinnen hinsichtlich potenzieller Risiken vorausschauender denken, während die Bevölkerung sich auf aktuelle Risiken konzentriert. Im Vergleich verschiedener Katastrophen wird deutlich, dass die Entwicklung der Angst vor ähnlichen Ereignissen nach dem Eintritt nur temporär ansteigt und anschließend nach durchschnittlich ca. drei Jahren wieder auf das Vorkrisenniveau abfällt. Die vorliegenden Daten lassen dies in ähnlicher Form auch für die Corona-Pandemie vermuten; aufgrund der sehr dynamischen Lage zum Zeitpunkt der Erstellung des Beitrags ist eine endgültige Bestätigung oder Widerlegung allerdings noch nicht möglich. Im Rahmen der Forschung wird zudem deutlich, dass nach einer Katastrophe Deutschland jeweils nur für das spezifisch eingetretene Risiko Vorsorgemaßnahmen ergreift, eine grundsätzliche Resilienz des Staates jedoch nicht zu beobachten ist.

3.1 Einleitung

Das tägliche Leben birgt viele Risiken: Es kann unter anderem im Haushalt, bei der Arbeit, bei sportlichen Aktivitäten oder im Straßenverkehr zu Gefahrensituationen kommen. In der Regel ist die individuelle Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Risiken gering, sodass sich die Bevölkerung im Regelfall nicht intensiv mit den möglichen Folgen auseinandersetzt. Doch wie sieht es bei Großrisiken aus, von denen sehr viele oder gar die meisten Menschen unmittelbar betroffen sind? Ein aktuelles Beispiel für ein solches Risiko ist die Corona-Pandemie. Das erstmals in 2019 in China nachgewiesene Virus SARS-CoV-2 verbreitete sich schnell weltweit und forderte bislang (Stand: 10.12.2021) über 5,2 Millionen Todesopfer (vgl. WHO 2021).

3.1.1 Relevante Fragestellungen

Die Einschränkung von Kontakten oder das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes auch über das behördlich vorgeschriebene Maß hinaus sind Beispiele für Verhaltensänderungen der Bürger und Bürgerinnen aufgrund veränderter Risikowahrnehmung. Mit Blick auf die derzeitige Situation (vierte Infektionswelle, Stand: Dezember 2021) stellen sich dabei folgende Fragestellungen:
  • Welche Faktoren haben Einfluss auf die Risikowahrnehmung?
  • Ist es zu einer Veränderung des Risikoempfindens durch Corona gekommen?
  • Ist eine grundsätzliche Resilienz Deutschlands gegenüber neuartigen Risiken zu beobachten?
Für die Beantwortung dieser Fragen müssen zunächst einmal die notwendigen theoretischen Grundlagen gelegt werden. In diesem Zusammenhang wird zunächst eine Definition der Begriffe Risiko und Risikowahrnehmung vorgenommen. Im Anschluss werden allgemeine Einflussfaktoren auf die Risikowahrnehmung beschrieben, die die Einschätzung und Bewertung von Risiken verzerren können, wobei anschließend eine Übertragung dieser Faktoren auf die Corona-Pandemie folgt.
Zur Einschätzung der Veränderung des Risikoempfindens durch Corona werden zuerst die Unterschiede in den Risiko-Einschätzungen der Bevölkerung und von Experten analysiert. Anschließend wird die Entwicklung der Ängste vor Risiken im Zeitverlauf betrachtet und die Änderung der Risikowahrnehmung anhand vergangener und aktueller Ereignisse mit Hilfe eigener Untersuchungsergebnisse analysiert. Dabei wird auch speziell auf die Besorgnis der Bevölkerung bezüglich der Corona-Pandemie eingegangen. Zum Abschluss wird die Lernfähigkeit des deutschen Staates − bezogen auf bereits vergangene und zukünftige sogenannte „Black Swan“-Ereignisse1 − geprüft und bewertet.

3.1.2 Methodische Vorgehensweise

Für die Bearbeitung der Forschungsfragen wurde neben der Auswertung bereits durchgeführter Studien zusätzlich eine eigene Umfrage durchgeführt. Mit dieser Befragung sollte herausgefunden werden, inwieweit vergangene und aktuelle Katastrophen zu einer Änderung der Risikowahrnehmung geführt haben und welche Schlüsse daraus für die aktuelle Corona-Pandemie gezogen werden können. Hierzu wurden 474 Mitglieder des Onlinepanels des Unternehmens Webfrager im Oktober 2021 befragt.
Die Stichprobe ist anhand der demografischen Merkmale annähernd repräsentativ für die Bevölkerung Deutschlands zwischen 17 und 81 Jahren, vgl. dazu auch Abb. 3.1 mit der Aufteilung der Befragten nach Alter, Geschlecht, Tätigkeitsbereich und dem höchsten Bildungsabschluss.
Das Durchschnittsalter der Befragten liegt entsprechend der vorgenommenen Alterseingrenzung mit 48,7 Jahren leicht über dem Altersdurchschnitt von 44,6 Jahren in Deutschland im Jahr 2020 (vgl. Statistisches Bundesamt o. J.).
Der Anteil von Frauen und Männern in der Stichprobe ist nahezu ausgeglichen. Der Hauptteil der Befragten setzt sich aus Angestellten oder Beamten zusammen. Bei der Frage nach dem höchsten Bildungsabschluss entfällt der größte Teil auf den Hauptschulabschluss (161 Personen), gefolgt vom Realschulabschluss (151 Personen) und der allgemeinen Hochschulreife und dem Hochschulabschluss (jeweils 78 Personen).

3.2 Risiko und Risikowahrnehmung

Nachfolgend werden die Definitionen für Risiko und Risikowahrnehmung vorgenommen, wobei auch auf die bereits vorgestellte eigene Befragung zurückgegriffen wird. Im Anschluss werden einige Einflussfaktoren erläutert, die die Risikowahrnehmung beeinflussen und zu einer Verzerrung führen können. Abschließend erfolgt eine Übertragung der Faktoren auf die Corona-Pandemie.

3.2.1 Risikobegriff

Für den Begriff Risiko gibt es innerhalb der deutschen Fachliteratur keine einheitliche Definition. Gemein haben die Definitionen, dass es sich beim Risikobegriff um eine Abweichung von einem erwarteten Ausgang handelt (vgl. Rohlfs 2018, S. 4).
Zur Bestimmung der Wirkungsrichtung ist eine detailliertere Betrachtung notwendig. Dafür kann der Risikobegriff in das reine und das spekulative Risiko aufgeteilt werden. Unter dem reinen (oder asymmetrischen) Risiko versteht man ausschließlich das negative Abweichen und damit Schaden- und/oder Verlustgefahren. Bei dem spekulativen (oder symmetrischen) Risiko werden neben den negativen auch die positiven Zielabweichungen betrachtet. Sie werden als Chance bezeichnet (vgl. Sartor und Bourauel 2013, S. 6; vgl. Rohlfs 2018, S. 6).
Im Vergleich dazu versteht der Duden als Orientierung des Verständnisses des Volksmunds unter dem Risikobegriff ausschließlich die Möglichkeit eines negativen Ausgangs einer Unternehmung. Dieser bringt Verlust, Schäden oder Nachteile mit sich. Die Begriffserklärung geht somit nur von der negativen Seite aus und lässt mögliche Chancen außen vor (vgl. Duden o. J.).
In der eigenen Befragung wurde den Teilnehmenden die offene Frage „Was bedeutet der Begriff „Risiko“ für Sie?“ gestellt. Die Assoziationen der Befragten mit dem Risikobegriff sind in Abb. 3.2 grafisch dargestellt.
Von den 474 Befragten assoziierte nur ein kleiner Teil positive Aspekte mit dem Risikobegriff. Die häufigsten negativen Nennungen waren
• „Gefahr“
(n = 70),
• „Gefährlich“
(n = 36) und
• „Verlust“
(n = 28).
Die häufigsten positiven Nennungen lauteten
• „Gewinn“
(n = 8),
• „Mut“
(n = 7) und
• „Möglichkeit“
(n = 6).
Die Ergebnisse zeigen, dass die allgemeine Bevölkerung überwiegend negative Aspekte mit dem Risikobegriff verbindet. Dies deckt sich mit dem Wortverständnis des Dudens.
Der Begriff der Risikowahrnehmung setzt sich aus dem zuvor beschrieben Begriff Risiko und dem Wort Wahrnehmung zusammen. Wahrnehmung stellt ein subjektives Empfinden zu bestimmten Situationen dar. Da es sich bei der Risikowahrnehmung um eine subjektive Einschätzung handelt, ist sie von der Risikoeinschätzung durch Experten und Expertinnen abzugrenzen. Deren Einschätzung ist – zumindest im Vergleich zur Laiensicht – objektiver und beruht in höherem Maße auf Daten oder Abschätzungsalgorithmen (vgl. Krämer o. J.), sie kann aber ebenso wie die Laiensicht von Wahrnehmungsverzerrungen beeinflusst sein (vgl. Kap. 2 dieses Sammelbandes).

3.2.2 Allgemeine Risiko-Einflussfaktoren

Es lassen sich aus der Literatur verschiedene Faktoren ableiten, die Einfluss auf die Risikowahrnehmung der Menschen haben können. Diese sind oft auf psychologische Effekte zurückzuführen und können zur Verzerrung der Wahrnehmung eines Risikos gegenüber der Realität führen.
Im Folgenden werden solche Einflussfaktoren erläutert, die besonders für die weiteren Ausführungen zum Thema Corona und vergleichbarer Großereignisse relevant sind. Neben den hier aufgeführten Faktoren gibt es noch weitere Einflussfaktoren, die an dieser Stelle nicht näher untersucht werden.2

3.2.2.1 Neuartigkeit

Ein für den Menschen unbekanntes Risiko wird gefährlicher eingeschätzt als ein bereits bekanntes (oder sogar alltägliches) Risiko und kann Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen. Dies liegt vor allem an der zu Beginn eines neuen Risikos vorliegenden unzureichenden Informationslage, die Unsicherheit mit sich bringt. Je häufiger oder länger Menschen mit einem Risiko konfrontiert sind, desto schwächer wirkt der Faktor Neuartigkeit auf die Wahrnehmung (vgl. Debbeler et al. 2020).

3.2.2.2 Kontrollierbarkeit

Einen weiteren Faktor stellt die – tatsächliche oder vermeintliche − Kontrollierbarkeit eines Risikos dar. So wird beispielsweise das Risiko eines Flugzeugsabsturzes von vielen Menschen überschätzt.3 Der Grund dafür ist, dass die Insassen die Kontrolle an den Piloten abgeben und damit keinen Einfluss auf sein Verhalten haben. Als Beifahrer im Auto überlässt man ebenfalls die Kontrolle, jedoch bleibt das Gefühl, dass man im Notfall in die Situation eingreifen könnte (vgl. Debbeler et al. 2020).

3.2.2.3 Freiwilligkeit

Unter Freiwilligkeit wird die selbstbestimmte Aussetzung gegenüber einem Risiko verstanden. Analog zur Kontrollierbarkeit werden Risiken, denen man sich freiwillig aussetzt, eher unterschätzt (vgl. Debbeler et al. 2020).

3.2.2.4 Katastrophenpotenzial

Der Faktor Katastrophenpotenzial setzt sich zum einen aus der Schrecklichkeit der Folgen von eingetretenen Ereignissen und zum anderen aus der Anzahl an betroffenen Personen in einem kurzen Zeitraum zusammen. Dies führt dazu, dass bspw. ein Flugzeugabsturz unsere Risikowahrnehmung stärker beeinflusst als ein Autounfall (vgl. Less 2016).4

3.2.2.5 Tragweite

Mit der räumlichen oder globalen Tragweite wird auf die Verbreitung und Lage des Risikos abgestellt. Lokale und weit entfernte Risiken beeinflussen uns nicht in dem Ausmaß wie globale und unmittelbare Risiken (vgl. Debbeler et al. 2020).

3.2.2.6 Komplexität

Häufig besitzen Menschen nicht die Fähigkeiten und das Wissen, komplexe Fragestellungen zu beantworten. Heuristiken sind einfache Daumenregeln als Hilfestellung, Entscheidungen zu treffen. Sie knüpfen an die Komplexität von Sachverhalten an, wenn beispielsweise Dinge die Analysefähigkeit der Menschen übersteigen. Heuristiken ermöglichen es, mit einem begrenzten Kenntnisstand zu schnellen und adäquaten Lösungen zu gelangen. Gleichzeitig können sie aufgrund der Vereinfachung zu kognitiven Verzerrungen bzw. falschen Annahmen und damit zu Urteilsfehlern führen. Dabei handelt es sich um systematische Fehler in der Wahrnehmung, der Verarbeitung von Informationen und der Urteilsbildung, die die Entscheidungsfindung beeinflussen (vgl. Kahneman 2012, S. 38, S. 127 f.; vgl. Kahneman et al. 2021, S. 179).
Für die meisten Menschen ist der Umgang mit Zahlen eine Herausforderung, obwohl diese in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig sind. Wahrscheinlichkeiten, große Zahlen und auch exponentielle Effekte sind abstrakt und entziehen sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Exponentielle Entwicklungen werden grundsätzlich unterschätzt. Eine große Anzahl von Zyklen und eine hohe Wachstumsrate übersteigen die Vorstellungskraft. Die Entwicklungen sind schwierig zu greifen und es kommt zu immensen Fehleinschätzungen (vgl. Müller-Peters 2020, S. 6; vgl. Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 20).

3.2.2.7 Verfügbarkeit

Gemäß der Verfügbarkeitsheuristik wird die Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Risikos danach eingeschätzt, wie leicht entsprechende Beispiele vorstellbar und im Gedächtnis abrufbar sind. Die Abrufbarkeit von Beispielen wird durch zahlreiche Faktoren wie zum Beispiel die Medienpräsenz oder die persönliche Erfahrung beeinflusst. Wenn ein Thema sehr präsent in den Medien ist oder eine Person bereits selbst eine ähnliche Situation erlebt hat, wird die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses höher eingeschätzt. Informationen, die leicht und ohne kognitive Anstrengung abrufbar sind, werden entsprechend übergewichtet (vgl. Kahneman 2012, S. 164 ff.).
Bestimmte Themen, die durch die Medien fokussiert werden, gewinnen an Aufmerksamkeit und können zu einer erhöhten Risikowahrnehmung führen. Man spricht in diesem Fall von sogenannten Verfügbarkeitskaskaden (vgl. Kahneman 2012, S. 183).
What You See Is All There Is (WYSIATI) ist ebenfalls für eine Vielzahl von Entscheidungs- und Urteilsfehlern verantwortlich. Die Wahrnehmung wird nur von den aktuell vorhandenen Informationen beeinflusst. Man verlässt sich auf die sichtbaren Dinge und bildet darauf begründet sein Urteil. Nur das zählt, was man gerade sieht. Informationen, die aktuell nicht zur Verfügung stehen oder nicht präsent sind, fließen bei der Entscheidungsfindung nicht ein. Dies kann zu voreiligen Schlussfolgerungen aufgrund von falschen und/oder unvollständigen Informationen führen (vgl. Kahneman 2012, S. 113 ff.).
Besonders deutlich wird dieser Effekt beim erstmaligen Treffen einer fremden Person. Die ersten Sekunden entscheiden über die Sympathie, obwohl kaum Informationen vorliegen.

3.2.2.8 Gewöhnung

Bei wiederholter Konfrontation mit dem gleichen Reiz treten bei Menschen Gewöhnungseffekte auf (vgl. Spektrum o. J.). Gewöhnungseffekte können zur Abnahme des wahrgenommenen Risikos führen bzw. es entwickelt sich eine gewisse Toleranz.
„Je mehr wir uns an diese Bilder gewöhnen, desto stärker erwarten wir diese zu sehen und desto weniger hat es einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung“. (Knellwolf 2021)
Die angesprochenen Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung von Risiken, auch wenn Menschen sich dieser nicht immer bewusst sind. Es kann dadurch zu unrealistischen bzw. verzerrten Wahrnehmungen, Urteilen und Entscheidungen kommen.
Zusätzlich zu den allgemeinen Einflussfaktoren ist die Risikowahrnehmung von persönlichen Erfahrungen und der grundsätzlichen Einstellung (risikofreudig oder risikoavers) geprägt.

3.2.3 Übertragbarkeit der Risiko-Einflussfaktoren auf Corona

Nachdem relevante Einflussfaktoren auf die Risikowahrnehmung zunächst allgemein erklärt und definiert wurden, wird im Folgenden die Übertragbarkeit der Aspekte auf Corona beleuchtet.
Die weltweite Tragweite der Corona-Pandemie und die Schrecklichkeit der Folgen unterstreichen das Katastrophenpotenzial. Das Ausmaß der Pandemie und die daraus folgenden Konsequenzen für die Bevölkerung lassen sich nicht mit anderen Pandemien der jüngeren Vergangenheit vergleichen. Bezogen auf die zuvor diskutierten Eigenschaften von Risiko-Einflussfaktoren stellt die Corona-Pandemie kein alltägliches, sondern ein neuartiges Ereignis dar. Es kommt hinzu, dass die Menschen dem Virus unfreiwillig ausgesetzt sind. Zu Beginn konnte das Risiko darüber hinaus nur schwer kontrolliert werden. Durch die anfängliche Unsicherheit in Kombination mit den anderen Faktoren wurde das Risiko daher u. U. überschätzt. In diesem Zusammenhang kann die Ende 2020 aufgekommene Möglichkeit einer Impfung gegen das Corona-Virus ein Anknüpfungspunkt sein, wodurch sich das Gefühl der Kontrollierbarkeit zumindest in Teilen entwickeln konnte.
Im Hinblick auf die zuvor dargestellte Komplexität lassen sich dem Corona-Virus vier Faktoren zuordnen, die über die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns hinausgehen und dadurch eine realistische Risikowahrnehmung deutlich erschweren. Darunter fallen nach Schneider (2020)
  • Zeitverzögerungen,
  • externe Effekte,
  • das Vorliegen komplexer Systeme und
  • Nichtlinearitäten.
Bei Corona kommt es zu Zeitverzögerungen aufgrund der Tatsache, dass sich Neuinfektionen durch die Inkubationszeit erst nach einigen Tagen in den offiziellen Zahlen widerspiegeln. Von einem Einzelnen ausgelöste Folgen für die Gemeinschaft wie zum Beispiel durch Partybesuche (erhöhtes Infektionsrisiko) können als externe Effekte bezeichnet werden. Mögliche Folgen können bspw. Ausgangsbeschränkungen sowie regionale oder bundesweite Lockdowns als Einschränkungsmaßnahme für die Gesellschaft sein. Komplexe Systeme zeichnen sich durch das Zusammenspiel verschiedener Merkmale aus. Die Nichtlinearität ist dabei von zentraler Bedeutung (vgl. Schneider 2020, S. 3 f.).
Insbesondere an diesem Punkt knüpfen psychologische Effekte an. Die vom Virus ausgehenden Ansteckungseffekte bzw. das daraus resultierende Wachstum der Zahl der Infizierten sind exponentiell und übersteigen dadurch die Vorstellungsfähigkeit der Menschen (vgl. Müller-Peters 2020, S. 6).
Beispielhaft zu nennen ist hier der Reproduktionswert R, der angibt wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt (vgl. Sarrazin 2020). In Abb. 3.3 sind die exponentiellen Ansteckungseffekte von Corona anhand unterschiedlicher (hypothetischer) Reproduktionswerte R dargestellt.
Liegt der Reproduktionswert R bei zwei, sind es nach sechs Zyklen 127 Infizierte. Ist der Reproduktionswert R gleich drei, steigt die Anzahl nach sechs Zyklen auf 1093 Infizierte. In diesem Beispiel ergibt sich nach nur sechs Zyklen durch die moderat erscheinende Erhöhung des Reproduktionswerts um 50 Prozent bereits eine Verneunfachung der Zahl der Infizierten im Vergleich zum niedrigeren Reproduktionswert.
Die Entwicklungen, die hier anhand der Ansteckungseffekte von Corona dargestellt sind, bzw. die Einschätzung der entstandenen Differenz von Infizierten stellen für das menschliche Gehirn einen schwer zu verarbeitenden Zusammenhang dar (vgl. Spitzer 2020, S. 274 f.).
Darüber hinaus lassen sich die zuvor beschriebenen psychologischen Konstrukte der Verfügbarkeitsheuristik und WYSIATI ohne weiteres auf Corona anwenden. Bei der Frage „Wie viele Beispiele zu Corona habe ich im Kopf?“ können schnell und ohne große Anstrengung Beispiele aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Diese Erkenntnis basiert auf der Omnipräsenz der zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels vorherrschenden Corona-Pandemie. Die Wahrnehmung wird laut WYSIATI nur von den aktuell vorhandenen Informationen bzw. Umständen beeinflusst, die bspw. in den Medien kommuniziert werden. Es besteht die Gefahr von voreiligen Schlussfolgerungen.
Die Corona-Pandemie ist ein allgegenwärtiges und omnipräsentes Thema. Nichtsdestotrotz treten Gewöhnungseffekte bei der Suche und Verarbeitung von Informationen und emotionalen Reaktionen auf. Umso länger die Pandemie andauert, desto mehr kommt es in Relation zum jeweiligen tatsächlichen Infektionsgeschehen zur Abnahme der Risikowahrnehmung. Die während der Pandemie immer wieder gezeigten Schockbilder von überfüllten Intensivstationen oder Todesopfern (wie anfangs in Italien) verlieren mit der Zeit an Wirkung (vgl. Knellwolf 2021; vgl. Rossmann 2020, S. 14).
Der Effekt der Gewöhnung und der dadurch verminderten Risikowahrnehmung konnten auch in den Ergebnissen der eigenen Befragung beobachtet werden. Den Teilnehmenden wurde die Frage „Worüber haben Sie sich in den letzten zwei Wochen Gedanken gemacht?“ gestellt. Zum Stand 14.10.2021 (also vor dem deutlichen Wiederanstieg der Inzidenzwerte während der vierten Infektionswelle) hatten lediglich 13,5 Prozent angegeben, dass sie in den letzten zwei Wochen Corona als Risiko wahrgenommen haben. Es scheint, als hätte sich die deutsche Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt zumindest in Teilen an die Situation gewöhnt.
Die angesprochenen Aspekte führen dazu, dass die Menschen das von Corona ausgehende Risiko nur schwer einschätzen können und die seit Anfang 2020 andauernde Pandemie weiterhin abstrakt bleibt.

3.2.4 Exkurs: Verleugnung von Corona und Verschwörungstheorien

Warum gibt es angesichts des Corona-Virus einerseits sehr ängstliche Menschen und andererseits sogenannte Leugner/innen oder Verschwörungstheoretiker/innen? Es stellen sich die Fragen, wer Corona unter- bzw. überschätzt und wie diese beiden Extreme zustande kommen. Entsprechend der zuvor vorgestellten Charakteristiken von Risiko-Einflussfaktoren unterliegen Menschen bei der Auseinandersetzung mit der Pandemie (wie auch bei anderen Risiken) Wahrnehmungsverzerrungen, die die Urteilsfindung einer einzelnen Person und der gesamten Gesellschaft erschweren. Auch wenn an dieser Stelle keine erschöpfende Vertiefung dazu erfolgen kann, soll das Phänomen der Verleugnung bzw. der Verschwörungstheorien im Folgenden zumindest kurz mit einigen relevanten Aspekten beleuchtet werden.
Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde laut einer Studie des Forschungsinstituts Eyesquare Verdrängung unbewusst als Abwehrmechanismus eingesetzt. Das neu aufgetretene Virus wurde heruntergespielt und in Teilen zunächst ignoriert (vgl. Scharrer 2020).
Im Anschluss an die Verdrängung folgt die Verleugnung und − wenn letztere nicht mehr möglich ist − die Spaltung. Bei diesem Mechanismus werden Informationen von Experten und Expertinnen zwar verarbeitet, aber von den Ängsten getrennt, die mit diesen Warnungen einhergehen (vgl. Wirth 2020).
Zudem kann der Dunning-Kruger-Effekt eine zentrale Rolle spielen. Dieser stellt eine kognitive Verzerrung dar, bei der insbesondere inkompetente Menschen oftmals die eigene Fähigkeit überschätzen und echte Expertise anderer anzweifeln. Solche Menschen erkennen demnach die eigene Inkompetenz nicht. Dabei führt insbesondere Halbwissen zu dieser Überschätzung und dem Nichterkennen der eigenen Fehler (vgl. Dunning und Kruger 1999, S. 44 f.).
Der Psychoanalytiker Goetzmann verweist gar auf einen neuen Begriff, wonach ein „Covidiot“ jemand sei, der sich
„wie ein verantwortungsloser Idiot verhält und dabei gesunden Menschenverstand, Anstand, Wissenschaft und professionelle Ratschläge ignoriert, was zur weiteren Verbreitung des Virus und zum unnötigen Tod von Tausenden führt“. (Goetzmann 2020)
Unter „Covidiocy“ ist dementsprechend die Tatsache zu verstehen, dass man die Fähigkeit verliert, während Corona logisch zu denken (vgl. Goetzmann 2020).
Menschen neigen tendenziell dazu, Sichtweisen zu entfalten, die mit ihrem Selbstbild übereinstimmen. Versteht sich eine Person als selbstbestimmtes Individuum, wird diese Corona eher verharmlosen − bspw. durch den Vergleich mit einer Grippe. Anders als Experten und Expertinnen bedient sich die allgemeine Bevölkerung in der Regel an vereinfachten und aus dem Zusammenhang gerissenen Argumenten, die zu ihrer eigenen Denkweise passen (ein sogenanntes motiviertes Denken nach Schneider). Verschwörungstheorien stellen eine extreme Form des motivierten Denkens dar. Verschwörungstheoretiker/innen vertreten die Meinung, dass die Allgemeinheit ihr Wissen und die für sie vorherrschenden wahrhaftigen Hintergründe nicht versteht. Laut Soziologen sind Verschwörungstheorien für Narzissten und Narzisstinnen besonders attraktiv, da ihnen fälschlicherweise der Eindruck vermittelt wird, mehr als ihre Mitmenschen oder sogar Experten und Expertinnen zu wissen (vgl. Schneider 2020).
Vor dem Hintergrund der Verleugnung von Corona und damit zusammenhängenden Verschwörungstheorien ist es ebenfalls wichtig, Gruppeneffekte bzw. die Psychologie der Massen zu betrachten. Grundsätzlich beeinflussen Gruppen das Verhalten von Personen. Werden Entscheidungen in Gruppen getroffen, fließen hierbei ein höheres Maß an Kreativität und verschiedene Perspektiven ein. Die Akzeptanz der Entscheidungen ist daher generell höher. Es gibt allerdings ebenfalls Aspekte, die das Entscheidungsverhalten und das Resultat negativ beeinflussen können. Zusätzlich zum Koordinationsaufwand kann es bei Meinungsdifferenzen zu Konflikten kommen. Die Entscheidungsqualität kann sich durch Gruppendynamiken − wie zum Beispiel Groupthink (Konformitätsdruck) und Gruppenpolarisation (Gruppenentscheidungen fallen extremer aus als Entscheidungen eines Einzelnen) − verringern (vgl. Kahneman et al. 2021, S. 116; vgl. Neumer o. J., S. 12 ff.).
Zusammenfassend lassen sich die Verleugnung von Corona bzw. die Entstehung von Verschwörungstheorien einerseits auf Aspekte, die den einzelnen Menschen betreffen, und anderseits auf Effekte, die das Kollektiv gemeinschaftlich beschäftigen, zurückführen.

3.3 Veränderung des Risikoempfindens infolge der Pandemie

Nachdem bereits zuvor die Einflussfaktoren auf die Risikowahrnehmung untersucht wurden, befasst sich der folgende Abschnitt mit der Risikoeinschätzung der Menschen bezüglich Corona vor und während der Pandemie. Es werden weitere Katastrophen zum Vergleich genutzt und aufgezeigt, ob und wie lange diese Ereignisse die Wahrnehmung von Risiken beeinflusst haben.

3.3.1 Risikoeinschätzung der Bevölkerung im Vergleich zu Experten

In der allgemeinen Bevölkerung liegt ein Fokus bei der Einschätzung von Risiken auf deren Aktualität. Risiken, die aktuell ihre eigene Gesundheit oder Existenz in der Gesellschaft bedrohen, werden als schwerwiegender eingeschätzt, wohingegen Risiken unterschätzt werden, die in der Realität mehr Schaden verursachen können, aber aktuell nicht medial präsent sind. Corona ist seit dem Beginn der Pandemie im März 2020 ein dauerhaft präsentes Thema in den Medien. Maßnahmen zur Bekämpfung betreffen die Bevölkerung direkt und schränken sie in ihrer Freiheit im privaten sowie beruflichen Umfeld ein.
Beim AXA Future Risks Report handelt es sich um eine Befragung von zwei Gruppen bezüglich der Risiken der Zukunft, wobei im Jahr 2021 insgesamt 3500 Risikoexperten und -expertinnen der Versicherungsbranchen sowie 20.000 Bürgerinnen und Bürger weltweit befragt wurden.
  • Das Risiko „Pandemien und ansteckende Krankheiten“ wird von der Bevölkerung laut AXA Future Risks Report in den Jahren 2020 und 2021 als höchstes Risiko eingeschätzt.
  • Im Jahr 2021 folgen − getrieben durch Naturkatastrophen − das Risiko „Klimawandel“ auf Platz zwei sowie
  • das Risiko „Neue Sicherheitsbedrohungen und Terrorismus“ auf Platz drei.
Anhand dieses Ergebnisses kann darauf geschlossen werden, dass die Bevölkerung aktuelle und relevante Risiken als schwerwiegender einschätzt und diese daher im Fokus ihrer Risikowahrnehmung liegen (vgl. AXA Future Risks Report 2020, S. 11; vgl. AXA Future Risks Report 2021, S. 4 f. und S. 14).
Risikoexperten und -expertinnen sollten sich hingegen nicht nur auf die aktuell von den Medien fokussierten Risiken konzentrieren, sondern vorausschauend denken und handeln. Um Risiken absichern zu können, müssen diese im Vorhinein wahrgenommen und als Risiko identifiziert werden. Effekte verzerrter Wahrnehmung sollten dabei nicht die konkrete Einschätzung des Risikos auf Basis von Daten und Erfahrungen im Umgang mit extremen Schadenereignissen überschatten. Risikoexperten und -expertinnen bei Versicherungsunternehmen bieten Deckungsmöglichkeiten für Großschadenereignisse und kalkulieren Tarife, um Leistungsansprüche des Versicherungsnehmers im Schadenfall abzudecken.
  • Für die im Rahmen der AXA-Studie befragten Risikoexperten und -expertinnen liegen der Klimawandel auf dem ersten und
  • Cyberrisiken auf dem zweiten Platz der größten Risiken der Zukunft. Diese Einschätzung kann mit dem hohen Großschadenpotenzial zusammenhängen, welches bei Naturkatastrophen und Hackerangriffen besteht.
  • Das Risiko „Pandemien und ansteckende Krankheiten“ wurde von der Expertengruppe im Jahr 2021 auf Position drei gesetzt.
In den Ergebnissen aus dem Jahr 2020 hatte die Pandemie aufgrund der großen Unwägbarkeiten auch bei den befragten Risikoexperten und -expertinnen noch auf Platz eins gelegen (vgl. AXA Future Risks Report 2020, S. 11 f.; vgl. AXA Future Risks Report 2021, S. 5 ff.).
Während sich die Aufmerksamkeit der Risikoexperten und -expertinnen wieder auf den Klimawandel konzentriert hat, lagen für die Bevölkerung Pandemien und Infektionskrankheiten im Jahr 2021 weiterhin auf dem ersten Platz. Dies ist nicht überraschend, da Corona nach wie vor das tägliche Leben vieler Menschen beeinflusst. Es spiegelt auch die allgemeine Priorisierung von unmittelbaren Gesundheitsrisiken im Vergleich zu abstrakten Zukunftsrisiken wider. Risikoexperten und -expertinnen denken folglich eher vorausschauend bei der Einschätzung von Risiken, wohingegen die Bevölkerung aktuelle Risiken fokussiert (vgl. AXA Future Risks Report 2021, S. 14).

3.3.2 Wie verändern Ereignisse unsere Risikowahrnehmung?

Das Jahr 2005 wurde von der Tagesschau als „Das Jahr der Naturkatastrophen“ betitelt. Bei einem Tsunami in Asien haben mehr als 200.000 Menschen ihr Leben und fast zwei Millionen ihr Hab und Gut verloren. Zudem verursachten im gleichen Jahr die Stürme Katrina, Rita und Wilma in den USA enorme Schäden. Die deutschen Medien berichteten umfangreich über diese Ereignisse, wodurch die Angst der Menschen vor weiteren Naturkatastrophen anstieg. Dies ist unter anderem auf den zuvor diskutierten Verfügbarkeits-Effekt zurückzuführen (vgl. Tagesschau 2005; vgl. Huber 2019).
Dies verdeutlicht eine bereits seit 1992 durchgeführte Studie der R+V Versicherung zu den Ängsten der Deutschen im Langzeitvergleich, bei der jährlich 2400 Teilnehmende befragt werden. Die Ergebnisse zeigen, wie viel Prozent der Befragten „große“ bis „sehr große“ Angst vor bestimmten Ereignissen haben. Hatten bei der Befragung 2005 noch 49 Prozent der Befragten Angst vor Naturkatastrophen, waren es im darauffolgenden Jahr schon 52 Prozent und 2007 bereits 59 Prozent. Im Jahr 2010 (dem zweitschadenträchtigsten Jahr seit 1980 im Hinblick auf Naturkatastrophen) stieg die Angst sogar auf 64 Prozent. Katastrophen, von denen Menschen selbst betroffen sind oder auf welche der Fokus durch die Medien gelenkt wird, werden häufiger als gefährliche Risiken wahrgenommen. Dies konnte ebenfalls bei der Corona-Pandemie festgestellt werden. In 2020 wurde erstmals das Pandemierisiko in die R+V-Studie aufgenommen. Aufgrund der direkten Betroffenheit der Menschen und medialen Präsenz wurde es auf Anhieb mit 42 Prozent auf Platz 9 eingestuft (vgl. Munich Re 2011; vgl. R+V 2020, S. 2).
In Abb. 3.4 sind die Prozentwerte für große/sehr große Angst vor „Überforderung Politik“ sowie „Terror“ und „Naturkatastrophen“ im Langzeitvergleich dargestellt.
Anhand vergangener Katastrophen ist zu beobachten, dass die verstärkte Wahrnehmung eines Risikos bzw. die Angst davor ein temporärer Zustand ist. So weisen zum Beispiel
  • die Insolvenz der Bank Lehmann Brothers im Jahr 2008 und die dadurch ausgelöste Finanzkrise,
  • der Wintersturm „Klaus“ 2009,
  • die Bombenanschläge in Paris und Brüssel 2015 und 2016 oder
  • der Terroranschlag vom 11. September 2001
in Bezug auf die Angstentwicklung der Menschen Parallelen auf: Die Angst erreicht nach maximal zwei Jahren nach dem Katastropheneintritt ihren Höchststand und sinkt anschließend kontinuierlich, sofern keine weiteren gleichartigen Katastrophen eintreten. Nach dem Erreichen des Höchststands sinkt die Angst innerhalb von durchschnittlich drei Jahren wieder auf das Niveau, das vor dem Katastropheneintritt vorlag (vgl. R+V 2021).
Überträgt man diese beobachtete Angstentwicklung auf das Pandemierisiko, lässt sich folgendes vermuten: Wären die Inzidenzwerte im November 2021 nicht auf ein erneutes Rekordhoch gestiegen, würde die Angst vor weiteren Pandemien ggf. bis zum Jahr 2024 wieder auf das Niveau vor der Corona-Pandemie fallen.
Zur Überprüfung dieser Hypothese wäre eine Längsschnittanalyse erforderlich, die jedoch nicht im Rahmen der eigenen Befragung durchgeführt werden konnte. Trotz dessen konnte untersucht werden, wie stark Ereignisse nachwirken und zu einer Änderung der Risikowahrnehmung führen. Dazu wurden die Befragungsteilnehmer gebeten, sich an einige Umwelt-, Natur- und von Menschen verursachte Katastrophen der letzten Jahre zu erinnern − insbesondere
  • die Atomkatastrophe im Jahr 1986 in Tschernobyl,
  • die Terroranschläge des 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA),
  • das Erdbeben mit anschließendem Tsunami im Indischen Ozean im Jahr 2004,
  • die Schweinegrippe in den Jahren 2009 und 2010,
  • das Erdbeben in Haiti im Jahr 2010,
  • die Atomkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011,
  • den Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016,
  • die Waldbrände in Australien in den Jahren 2019 und 2020,
  • das Hochwasser in Deutschland im Jahr 2021 sowie
  • die COVID-19-Pandemie (beginnend 2019 in China)
und diesbezüglich eine Gewichtung vorzunehmen. Diese zielte darauf ab, inwieweit sich durch das einzelne Ereignis die Risikowahrnehmung für diese Kategorie von Risiken verändert hat. Die Befragten konnten eine Auswahl zwischen „0 – gar nicht“ bis „10 – sehr stark“ vornehmen. Es gab zusätzlich die Auswahlmöglichkeiten „nicht erlebt“ sowie „kann ich nicht beurteilen“. Durch diese zusätzlichen Optionen kommt es zu weniger Verzerrungseffekten aufgrund falscher Angaben.
In Abb. 3.5 sind die relativen Wahrnehmungsänderungen dargestellt. Zur Gewährleistung der Übersichtlichkeit sind bestimmte Auswahlmöglichkeiten des Fragebogens in Kategorien wie folgt zusammengefasst:
• „mittelmäßig
entspricht den Skalenstufen 4 bis 6,
• „stark
entspricht den Skalenstufen 7 und 8 sowie
• „sehr stark
entspricht den Skalenstufen 9 und 10.
Die Kategorie „kaum oder keine Änderungen“ entspricht den Skalenstufen 0 bis 3 und ist nicht abgebildet.
Die Grafik zeigt, dass aus heutiger Sicht die COVID-19-Pandemie mit einem Anteil von 63 Prozent in den Kategorien „sehr stark“ und „stark“ die größte Veränderung in der Wahrnehmung von Risiken bei den Befragten bewirkt hat. Ihr folgen mit jeweils 56 Prozent das Hochwasser in Westdeutschland aus dem Jahr 2021 und die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Auf Platz vier mit 50 Prozent liegt der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Dahinter kommen die beiden Atomkatastrophen mit 45 Prozent bzw. 43 Prozent (Tschernobyl 1986 bzw. Fukushima 2011). Weniger ausschlaggebend waren hingegen das Erdbeben im Indischen Ozean (mit 34 Prozent), die Waldbrände in Australien (mit 28 Prozent), das Erdbeben in Haiti (mit 20 Prozent) und die Schweinegrippe (mit 19 Prozent).
Die Zahlen zeigen, dass manche Großereignisse schwerer ins Gewicht fallen als andere. Aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik ist es nicht verwunderlich, dass die COVID-19-Pandemie und das Hochwasser in Westdeutschland aus dem Jahr 2021 aufgrund ihrer Aktualität die Wahrnehmung von Gefahren ihrer Risikoklasse verstärken. Gleiches gilt für die Terroranschläge vom 11. September 2001. Als eindrückliches Beispiel für Terrorismus und Auslöser des Irak-Kriegs ging dieses Ereignis um die Welt.
Die räumliche Nähe scheint ebenfalls eine große Rolle zu spielen. Wird das Hochwasser in Deutschland mit den Naturkatastrophen im Indischen Ozean oder Haiti verglichen, so werden die Ereignisse im eigenen Land wesentlich stärker als bedrohliche Risiken gewichtet. Dieser Umstand führt wohl auch dazu, dass der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt mit zahlreichen Verletzten, aber einer vergleichsweise geringen Anzahl von zwölf Toten (vgl. Ullrich 2021) sehr starke Änderungen auf die Risikowahrnehmung hatte. Der Faktor räumliche Nähe führt zudem möglicherweise dazu, dass die wesentlich länger zurückliegende Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 etwas stärker die Wahrnehmung beeinflusst hat als die vergleichbare Katastrophe in Fukushima im Jahr 2011.

3.3.3 Wie verändert die Corona-Pandemie unsere Risikowahrnehmung?

Es konnte dargelegt werden, dass die erhöhte Angst der Bevölkerung ein temporärer Zustand ist und sich die Risikowahrnehmung stark von verschiedenen Faktoren beeinflussen lässt. Aufbauend auf diesen allgemeinen Ergebnissen wird im Weiteren die Risikowahrnehmung anhand der Besorgnis vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus untersucht, wobei hierzu auf Daten des EUCLID-Projekts der Universität Konstanz zurückgegriffen wurde. In diesem werden in regelmäßigen Abständen Bürger und Bürgerinnen nach ihrer Besorgnis in Bezug auf Corona befragt. Im April 2021 gaben 45,9 Prozent der Befragten „besorgt“ oder „sehr besorgt“ an. Im Juni waren es 32,8 Prozent und im September/Oktober 29,1 Prozent. Die Angst und die Wahrnehmung des Pandemierisikos sanken somit bereits im Laufe des Jahres 2021, vgl. dazu auch Abb. 3.6 (vgl. Robert-Koch-Institut 2021; vgl. Universität Konstanz 2021).
Dieser Rückgang der Angst bzw. der Präsenz der Wahrnehmung eines bestimmten Risikos kann durch die verschiedenen (zuvor erläuterten) psychologischen Effekte erklärt werden. Im Folgenden soll anhand dieser Einflussfaktoren ein Erklärungsversuch für die Entwicklung der Sorge der deutschen Bevölkerung während der Corona-Pandemie erfolgen.
Zu Beginn der Pandemie war Corona ein neuartiges Risiko, weshalb die Bevölkerung, wie in Abb. 3.6 dargestellt eine hohe Besorgnis aufgezeigt hat. Im weiteren Verlauf der Pandemie war/ist Corona ein dauerhaftes Thema in Medien und Politik. Die mediale Präsenz und die persönliche Betroffenheit haben vermutlich dazu beigetragen, dass das Risiko einer Ansteckung als wahrscheinlicher wahrgenommen wurde und dadurch die Besorgnis der Bevölkerung zugenommen hat.
Ein weiterer Effekt, der sich auf die Risikowahrnehmung der Corona-Pandemie in der deutschen Bevölkerung ausgewirkt hat, ist die Kontrollierbarkeit. Medikamente, Behandlungsmethoden oder eine geeignete Schutzimpfung standen zu Beginn der Pandemie nicht zur Verfügung. Es ist anzunehmen, dass diese fehlende Kontrolle bei der Bevölkerung gegenüber dem Risiko Corona zu einer verstärkten Risikoeinschätzung geführt hat.
Doch durch welche Einflussfaktoren ist die Präsenz einer Corona-Infektion in den Köpfen der deutschen Bevölkerung und somit auch die Besorgnis vor dem Risiko gesunken? Die Neuartigkeit des Risikos ist nach über einem Jahr in pandemischer Lage nicht mehr gegeben. Das Pandemierisiko ist alltäglich geworden und die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Neuinfektionen sind bereits zur neuen Normalität geworden. Hier greift der konträre Effekt zu dem der Neuartigkeit. Je länger die Bevölkerung mit einem Risiko konfrontiert ist, desto stärker wirkt der Faktor der Gewohnheit (vgl. Baumgärtner et al. 2008, S. 51).
Aus Abb. 3.6 ist ersichtlich, dass eine bestimmte Zeit nach dem Start der Impfkampagne die Sorge vor Corona stark abgenommen hat. Die zeitliche Versetzung der Abnahme kann durch die zu Beginn begrenzte Kapazität an Impfstoff und durch die Unsicherheit der Schutzwirkung des Impfstoffes erklärt werden. Mit dem Angebot der Impfung zum Schutz vor schweren Verläufen wurde der Bevölkerung ein Stück weit Kontrolle über das Risiko gegeben. Die Mischung aus Schutzmaßnahmen durch Masken, Abstandsregelungen sowie der Impfung hat dazu beigetragen, dass die Situation direkt von jeder einzelnen Person beeinflusst werden konnte; das eigene Verhalten konnte demnach das individuelle und gesellschaftliche Risiko deutlich senken. Der sogenannte Kontrollierbarkeitseffekt bietet daher eine Erklärungsmöglichkeit, weshalb zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels die Sorge vor Corona trotz enorm steigender Inzidenzwerte nahezu konstant geblieben ist. Die Sorge hat sich scheinbar von den Inzidenzwerten abgekoppelt.
Zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels gibt es Anzeichen dafür, dass auch die Angst vor Pandemien und Infektionskrankheiten in einem Zeitraum von drei Jahren nach Erreichen des Höchststandes der Angst durch ein anderes Risiko aus dem Fokus der Bevölkerung geraten könnte. Es bleibt allerdings eine sehr dynamische und schwer einschätzbare Situation. Virus-Mutationen wie zum Beispiel die Omikron-Variante und weiterhin stark steigende Zahlen der Neuinfektionen im Winter 2021 könnten zu erneut zunehmender Besorgnis innerhalb der Bevölkerung vor einer Corona-Infektion führen. Entscheidend für die weitere Risikoeinschätzung der Bevölkerung wird die Frage sein, ob sie wieder den Eindruck der Kontrollierbarkeit verliert.

3.3.4 Was kann man aus einem 200-Jahres-Ereignis lernen?

Mit Blick in die Zukunft stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Lernfähigkeit von Gesellschaft und Politik in Deutschland. Rückschlüsse aus Fehlern bei vergangenen Pandemien sind kaum möglich, da sowohl die spanische (1918 bis 1920), die asiatische (1957) und die Hongkong-Grippe (1968 und 1970) statistisch kaum erfasst wurden und nur wenige verlässliche Berichte vorliegen. Ebenfalls kann kein Vergleich mit neueren Pandemien erfolgen, da diese nicht mit dem Corona-Virus vergleichbar sind. Bei der Schweinegrippe im Jahr 2009 lag beispielsweise eine Hintergrundimmunität bei älteren Menschen vor, die vor dem Jahr 1957 bereits an einer Variante der vorher genannten Grippearten erkrankt waren. Aus diesem Grund war damals die prinzipiell gefährdetere ältere Bevölkerung in großen Teilen immun (vgl. NDR 2020).
Dafür weist das zwar andersartige, aber auch deutlich aktuellere Ereignis der Tschernobyl-Katastrophe vom 26.04.1986 bei genauerer Betrachtung viele Gemeinsamkeiten mit der Corona-Pandemie auf und soll daher zum Vergleich herangezogen werden. Beide Ereignisse könnten als Schwarzer Schwan − zumindest aber wohl als Grauer Schwan bezeichnet werden.
Exkurs: Schwarzer, weißer oder grauer Schwan?
Die von Taleb (2007) geprägte Metapher des „Schwarzen Schwan“ bezeichnet
ein Ereignis, das völlig unwahrscheinlich ist, gänzlich überraschend eintritt und (fast) alle erstaunt“. (Bendel 2021)
Ob es sich bei der Pandemie tatsächlich um einen solchen handelt, wird kontrovers diskutiert (vgl. Bendel 2021). Für Daimler-Chef Ola Källenius bspw. ist Corona ein Schwarzer Schwan, da eine Vorbereitung auf dieses Ereignis, in dessen Folge es in seinem Unternehmen zu einem Gewinneinbruch von 78 Prozent kam, nicht möglich gewesen sei. Ähnlich argumentieren auch andere Wirtschaftsführer. Möglicherweise sollen mit dieser Argumentation aber auch nur Unternehmensschieflagen entschuldigt werden, obwohl das Ereignis eigentlich vorhersehbar war und die Ursache der Schieflage ein nicht ausreichendes oder fehlendes Risikomanagement ist (vgl. Romeike 2020; vgl. Bomhard 2016).
Einige Autoren − so auch Taleb selbst − sind daher der Auffassung, dass es sich bei der Corona-Pandemie vielmehr um einen „Weißen Schwan“ handle und somit um
ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintreffen wird“. (Taleb und Spitznagel 2020)
Hierfür spricht, dass es in der Vergangenheit bereits zu diversen Pandemien kam (wie die spanische, die asiatische und die Hongkong-Grippe) und es teilweise sogar Notfallpläne für einen Pandemieeintritt gab wie in Singapur (vgl. Taleb und Spitznagel 2020).
Die kontroverse Betrachtung zeigt, dass die Frage nach dem Vorliegen eines Schwarzen Schwans immer auch vor dem Hintergrund der Perspektive der Betroffenen, deren Situation und dem aktuellen gesellschaftlichen Wissensstand abhängen. Ist es beispielsweise möglich durch Informationsaustausch und Datenauswertung mehr über Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß eines potenziellen Schwarzen Schwans herauszufinden, so wird dieser demaskiert und dadurch zu einem „Grauen Schwan“. Bei Grauen Schwänen handelt es sich um
Ereignisse, die entweder in ähnlicher Art bereits eingetreten sind […] oder die man sich als grundsätzlich möglich vorstellen kann“. (Brüggemann und Binder 2021, S. 2)
Während einzelne Experten, der Staat oder besonders exponierte Branchen diese im Rahmen ihres Risikomanagements zu identifizieren versuchen, dürfte eine Pandemie mit Konsequenzen dieses Ausmaßes für den Großteil der Gesellschaft dennoch eher ein Schwarzer Schwan bleiben. Aus diesem Grund wird nachfolgend vom Vorliegen eines Schwarzen Schwans ausgegangen, da es vornehmlich um die Risikowahrnehmung der allgemeinen Bevölkerung geht (vgl. Taleb 2007, S. 213 ff.).
Nicht nur bei der omnipräsenten Berichterstattung, sondern auch beim Umgang mit den Katastrophen gab es Gemeinsamkeiten zwischen der Tschernobyl-Katastrophe und der Corona-Pandemie, die in Tab. 3.1 im Vergleich dargestellt sind.
Tab. 3.1
Vergleich Tschernobyl-Katastrophe und Corona-Pandemie. (Quelle: eigene Darstellung; vgl. Altenmüller 2021)
Tschernobyl (1986)
Corona-Pandemie (ab 2020)
Kein Notfallplan
Kein Notfallplan
„Schwarzer Schwan“
„Schwarzer Schwan“
Uneinigkeit unter Wissenschaft,
Politik, Medien
Uneinigkeit unter Wissenschaft,
Politik, Medien
Unterschiedliche
Verhaltensempfehlungen
Unterschiedliche
Verhaltensempfehlungen
Anstieg Strahlenwerte
Anstieg Inzidenzwerte
Individuelle Grenzwertfestlegung
durch Strahlenschutzkommission
Individuelle Grenzwertfestlegung
durch Robert-Koch-Institut
Einreisende auf Strahlung untersucht
Einreisende auf Infektion untersucht
Hohe Medienpräsenz
(Becquerel, Jod-131 usw.)
Hohe Medienpräsenz
(Inzidenz, Lockdown usw.)
Gründung „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit“
Gründung
„ständiger Krisenstab“
Strahlenschutzvorsorgegesetz erlassen
Corona-Verordnung erlassen
Nach der Tschernobyl-Katastrophe wurden die deutsche Bevölkerung und Einreisende auf Strahlung, während der Corona-Pandemie auf eine Corona-Infektion untersucht. Mit Hilfe der erhobenen Daten wurden Strahlungswerte bzw. werden Inzidenzwerte gemessen und festgehalten, um das Ausmaß und die zu ergreifenden Maßnahmen zu beschließen (vgl. Radtke 2021; vgl. Altenmüller 2021).
Erschwert wurde die Planung der Maßnahmen dadurch, dass bei diesen Schwarzen-Schwan-Ereignissen keine Notfallpläne existieren. Infolgedessen hatten 80 Prozent der Kommunen in Deutschland keine Notfallpläne für Pandemien oder ähnliche Krisen vorliegen, obwohl sich Anfang des Jahrtausends bereits die SARS-Pandemie bundesweit ausbreitet hatte und Erfahrungen hätten vorliegen können (vgl. Naumann 2020).
Die Folge fehlender Notfallpläne ist, dass die Beteiligten unvorbereitet sind und Empfehlungen lediglich nach bestem Wissen und Gewissen geben. Diese Empfehlungen gehen zum Teil weit auseinander. Nach Tschernobyl legte zum Beispiel jedes Bundesland individuelle Strahlengrenzwerte fest, bis zu denen der Gemüseverzehr bedenkenlos möglich war. Diese empfohlenen Werte unterschieden sich stark von den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission oder der Bundesregierung und führten zu Verunsicherungen der Bevölkerung. In Zeiten der Corona-Pandemie wurden 34 Jahre später erneut unterschiedliche Empfehlungen ausgesprochen. Lehren wie zum Beispiel einheitliche Empfehlungen in Katastrophenfällen und das Erstellen von Notfallplänen für potenziell mögliche Katastrophen hat Deutschland aus vergangenen Ereignissen wie Tschernobyl oder der SARS-Pandemie anscheinend nicht gezogen (vgl. Altenmüller 2021; vgl. Schröder 2021).
Die Bevölkerung zieht jedoch ebenfalls wenig Konsequenzen aus vergangenen Ereignissen, wie am Beispiel von Überschwemmungskatastrophen zu erkennen ist. Im Jahr 2002 und 2006 kam es in Sachsen zu Überschwemmungen durch die Elbe. In 2010 und 2013 traten die Neiße, die Saale und erneut die Elbe über die Ufer und verursachten wieder zahlreiche Schäden. Trotz der kurzen Wiederkehrperioden von Überschwemmungen in Sachsen sind laut dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) nur 48 Prozent der Wohnhäuser in Sachsen durch eine Elementarversicherung gegen Überschwemmungsschäden versichert. Den Einwohnern Sachsens sollte anhand der eigenen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte bewusst sein, dass es kurzfristig wieder zu Überschwemmungen kommen kann − zumal die Medien regelmäßig darüber berichten, dass die Wiederkehrperioden von Katastrophen wie zum Beispiel Überschwemmungen aufgrund des Klimawandels kürzer werden. Die Ausmaße der Hochwasser-Katastrophe im Juli 2021, die vor allem Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz schwer getroffen hat, unterstreichen dies (vgl. Deutsche Presse Agentur 2021; vgl. GDV 2021, S. 1; vgl. Kiel 2021; vgl. Barthels 2020; vgl. Schalamon 2020; vgl. RP Online 2021).
Wegen der sinkenden Wiederkehrperioden und steigender Schadenausmaße ist es erforderlich, dass Deutschland resilienter wird und nicht erst nach einem Katastropheneintritt reagiert. Hinzu kommt, dass die Reaktion in Form von präventiven Maßnahmen und Regeln sich nur auf zukünftige, jeweils ähnliche Ereignisse fokussiert. Gerade aber für Schwarze Schwäne, deren Eintrittswahrscheinlichkeit zwar äußerst gering, deren Ausmaß aber erheblich sein kann, müssen einheitliche Notfallpläne erstellt und Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden. Welche Pläne existieren zum Beispiel für den Fall, dass es in Deutschland zu einem vergleichbaren Meteoriteneinschlag kommen würde wie 2013 in der Großstadt Tscheljabinsk in Russland? Hierbei hat ein nur 20 Meter großer Meteorit innerhalb von Sekunden tausende Gebäude beschädigt (vgl. Jacob 2014). Im Falle eines größeren Meteoriten wäre der Schaden und die betroffene Region ungleich größer.

3.4 Zusammenfassung

In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Fragestellung „der Risikowahrnehmung durch und nach Corona und ob sich Verständnis und Wahrnehmung von Risiken verändert haben“ analysiert. Die Ausführungen haben dabei verdeutlicht, dass die Bevölkerung den Risikobegriff grundsätzlich negativ auslegt. Mit ihm werden im Volksmund in der Regel keine Vorteile oder Chancen, sondern lediglich ein negativer Ausgang mit Nachteilen, Verlust oder Schäden assoziiert. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass verschiedene Einflussfaktoren und die zugrunde liegenden psychologischen Wahrnehmungseffekte die Einschätzung eines Risikos beeinflussen. Die betrachteten Aspekte lassen sich auf die Corona-Pandemie übertragen und führen dazu, dass diese für Menschen nur äußerst schwer realistisch einschätzbar ist.
Experten und Expertinnen denken bei der Risikoeinschätzung vorausschauender, während die Bevölkerung sich unter anderem aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik und WYSIATI auf aktuelle Risiken konzentriert. Mit Blick auf verschiedene Katastrophen (zum Beispiel die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die Finanzkrise in 2008) zeigte sich, dass die Entwicklung der Angst im Zeitverlauf vor ähnlichen Ereignissen nach dem Eintritt nur temporär ansteigt und anschließend wieder auf Vorkrisenniveau abfällt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Corona-Pandemie zumindest in Teilen verdrängt wird, nachdem oder sogar noch bevor sie eigentlich vorbei ist. Nach einem zeitweisen Anstieg der Angst vor den Auswirkungen der Corona-Pandemie kam es mit steigender Impfquote und fallenden Inzidenzwerten zu einem Rückgang der Besorgnis. Aufgrund der im November 2021 wieder stark angestiegenen Inzidenzwerte lassen sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Kapitels noch keine endgültigen Schlussfolgerungen zu den weiteren Entwicklungen ableiten. Die aufgestellte These, dass die Angst auch bei Corona schon in einem Zeitraum von drei Jahren nach dem Höchststand auf ein Niveau wie vor der Krise sinkt, kann somit nicht final bestätigt oder widerlegt werden und sollte in einer weiterführenden Forschung zu überprüft werden. Es könnte sein, dass extremere Inzidenzwerte und neue Varianten zu einer Veränderung der Wahrnehmung führen und die Angst vor Corona temporär wieder ansteigt.
Durch den Vergleich der Corona-Pandemie mit dem Atomunglück in Tschernobyl stellte sich heraus, dass Deutschland nach einer Katastrophe zwar Vorsorgemaßnahmen für das spezifische Risiko ergreift, eine grundsätzliche Resilienz des Staates jedoch nicht zu beobachten ist. Es bleibt abzuwarten, ob Deutschland aus der Corona-Pandemie lernt und zukünftig besser auf einen „schwarzen Schwan“ vorbereitet ist.
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Fußnoten
1
Ein „Black Swan“ oder auch „Schwarzer Schwan“ bezeichnet ein außergewöhnlich seltenes Ereignis.
 
2
Für einen Überblick vgl. Kahneman 2012 sowie Kap. 2 dieses Sammelbandes.
 
3
Für die tatsächlichen Risiken des Flugverkehrs siehe IATA 2021.
 
4
Für die tatsächlichen Risikosituationen vgl. IATA 2021 und WHO 2018.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Baumgärtner, N./Nolting, T./Thießen, A. (Hrsg.) (2008): Krisenmanagement in der Mediengesellschaft. Potenziale und Perspektiven der Krisenkommunikation, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Wiesbaden. Baumgärtner, N./Nolting, T./Thießen, A. (Hrsg.) (2008): Krisenmanagement in der Mediengesellschaft. Potenziale und Perspektiven der Krisenkommunikation, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Wiesbaden.
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Zurück zum Zitat Rohlfs, T. (2018): Risikomanagement im Versicherungsunternehmen: Identifizierung, Bewertung und Steuerung, 2. Auflage, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe.CrossRef Rohlfs, T. (2018): Risikomanagement im Versicherungsunternehmen: Identifizierung, Bewertung und Steuerung, 2. Auflage, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe.CrossRef
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Zurück zum Zitat Spitzer, M. (2020): Psychologie und Pandemie – Die Auswirkungen des Corona-Virus auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft, in: Spitzer, M. (Hrsg.), Nervenheilkunde, Georg Thieme Verlag, 39, S.274–283. Spitzer, M. (2020): Psychologie und Pandemie – Die Auswirkungen des Corona-Virus auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft, in: Spitzer, M. (Hrsg.), Nervenheilkunde, Georg Thieme Verlag, 39, S.274–283.
Zurück zum Zitat Taleb, N. N. (2007): The black swan: the impact of the highly improbable, London, S. 213 ff. Taleb, N. N. (2007): The black swan: the impact of the highly improbable, London, S. 213 ff.
Metadaten
Titel
Risikowahrnehmung durch und nach Corona
verfasst von
Daniel Eichner
Christian Fritsch
Gina-Luisa Kothe
Sina Kühner
Yannik Remond
Jonas Warnke
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37071-8_3