Etwa drei Viertel des in Deutschland verarbeiteten Polyvinylchlorids (PVC) wird zu Bauprodukten verarbeitet. Aufgrund langer Produktlebensdauern sind die PVC-Abfallmengen aus diesem Sektor aktuell deutlich geringer als die Verarbeitungsmengen. Langfristig ist jedoch mit einem Anstieg der Abfallmengen zu rechnen. Die langen Produktlebensdauern haben auch zur Folge, dass PVC-Abfälle aus dem Bausektor Stoffe enthalten können, die vor mehreren Jahren oder Jahrzehnten in der PVC-Produktion eingesetzt wurden, inzwischen jedoch als problematisch eingestuft sind. Ziel der vorliegenden Studie ist es, schadstoffbedingte Herausforderungen für PVC-Kreisläufe im Bausektor in Deutschland zu identifizieren und anhand eines dynamischen Materialflussmodells zu quantifizieren. Das Materialflussmodell basiert auf einer Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen, Literatur- und Datenrecherchen sowie Abfallcharakterisierungen. Anhand der Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen wurden etwa 680 Stoffe identifiziert, die in PVC-Anwendungen im Bausektor eingesetzt wurden und werden. Der Einsatz von 188 dieser Stoffe wird durch die EU-POP-Verordnung, REACH oder CLP-Verordnung reguliert. Eine Abfallanalyse ergibt, dass PVC-Altprodukte aus dem Bausektor relevante Konzentrationen an Problemstoffen, wie Blei, Cadmium und DEHP aufweisen. Anhand des dynamischen Materialflussmodells wird für die Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbeläge gezeigt, dass derzeit ein Nutzlager von etwa 19,0 Mio. Tonnen PVC besteht. Bis 2050 ist zu erwarten, dass die PVC-Abfälle aus diesen Anwendungen von 246.000 t im Jahr 2022 auf 449.000 t steigen werden. Außerdem zeigt das Materialflussmodell, dass PVC-Abfälle aus dem Bausektor mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Jahr 2050 noch relevante Konzentrationen an Problemstoffen enthalten werden. Um zukünftig eine stoffliche Verwertung dieser Abfälle sowie die Etablierung sauberer Materialkreisläufe zu ermöglichen, sind neue Abfallbehandlungsverfahren notwendig, die auf das Ausschleusen der Schadstoffe abzielen, sodass steigende Recyclingmengenpotenziale ausgeschöpft werden können.
Hinweise
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
1 Einleitung
Gebäude und Infrastruktur sind das wichtigste Sachkapital einer Volkswirtschaft und stellen den größten Materialbestand unserer Gesellschaft dar (Graedel 2011). In Deutschland beläuft sich dieser Materialbestand auf rund 340 t pro Kopf (Müller et al. 2017). Die Nutzung des inhärenten Werts dieser Materialbestände ist von entscheidender Bedeutung zur Schließung von Materialkreisläufen und zur Reduktion des Primärressourcenbedarfs. Entsprechend wurden in vergangenen Jahren auf nationaler und internationaler Ebene politische Strategien zur Nutzung dieser Materialbestände im Sinne der Kreislaufwirtschaft entwickelt (Hertwich et al. 2019; IEA 2019). Beispielsweise benennt die Europäische Kommission in ihrer „Europäischen Strategie für Kunststoffe in einer Kreislaufwirtschaft“ den Bausektor als wichtigen Anwendungsbereich für (recycelte) Kunststoffe und als bedeutende Quelle von Kunststoffabfällen für das Recycling (EC 2018).
Neben den steigenden Anforderungen zur Schließung von Materialkreisläufen sind die regulatorischen Anforderungen für Baumaterialien und die darin enthaltenen Stoffe in den vergangenen Jahrzehnten verschärft worden. Zukünftig sind weitere Verschärfungen zu erwarten. Das hat zur Folge, dass sogenannte historisch-bedingte Verunreinigungen (engl. „legacy contaminants“) das Recycling gefährden, da ihre Verwendung mittlerweile beschränkt ist und sie in Neuprodukten nicht mehr enthalten sein dürfen. Zu diesen historisch-bedingten Verunreinigungen zählen verschiedene Additive, die in der Vergangenheit in Kunststoffen für Bauanwendungen eingesetzt wurden, wie Weichmacher, Stabilisatoren und Flammschutzmittel, die negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben können. Das Vorkommen solcher Schadstoffe in (Alt‑)Kunststoffen und der Mangel an Informationen über die Inhaltsstoffe stellen eine technische Herausforderung und ein erhebliches ökologisches Hindernis für effektivere Recyclingmärkte dar (OECD 2018). Im Rahmen des Recyclings können diese Schadstoffe die Qualität der Rezyklate beeinträchtigen, indem sie eine Nutzung in hochwertigen Anwendungen verhindern oder in der Produktion zu erhöhten Emissionen führen (Borgmann et al. 2019).
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Im Bausektor ist PVC der massenmäßig relevanteste Kunststoff. PVC wird für diverse Bauprodukte genutzt, darunter Profile, Bodenbeläge, Rohre, Kabelummantelungen sowie Dach- und Dichtungsbahnen. Bereits heutzutage fallen jährlich etwa 300.000 t an PVC-Abfällen im Bausektor an (Conversio 2022b). Aufgrund der Langlebigkeit von Bauprodukten ist zukünftig mit einem Anstieg der Abfallmengen zu rechnen.
Um die Verwertungspotenziale von PVC-Abfällen aus dem Bausektor, die sich durch lange Lebensdauern und eine potenzielle Kontamination mit historisch-bedingten Verunreinigungen auszeichnen, zu quantifizieren und zu bewerten, sind dynamische Modellansätze notwendig. Das Materiallager an PVC in Hoch- und Tiefbau in Deutschland wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Nachhaltige Kunststoffwertschöpfungskette: Pilotfall Kunststoffe in Bauwirtschaft und Gebäuden“ (KUBA) für den Zeitraum 2015 bis 2017 auf 25,9 Mio. Tonnen geschätzt (Bergs et al. 2021). Um die Gehalte an historisch-bedingten Verunreinigungen im Kunststofflager und deren Einfluss auf zukünftige Recyclingpotenziale zu quantifizieren, sind hochauflösende Daten über einen längeren Zeitraum notwendig, die eine Unterscheidung nach Produktgruppen und den in diesen Produktgruppen zeitlich veränderlichen Schadstoffgehalten berücksichtigen. Bezüglich des Vorhandenseins verschiedener Schadstoffe in Kunststoffen bietet eine Studie von Wiesinger et al. (2021), erweitert durch den PlastChem Report von Wagner et al. (2024) einen umfassenden Einblick. Wagner et al. (2024) identifizieren mehr als 16.000 Stoffe, die in Kunststoffen eingesetzt wurden. Zur Bewertung zukünftiger Belastungen von PVC-Abfällen aus dem Bausektor sind jedoch Eingrenzungen der von Wiesinger et al. (2021) und Wagner et al. (2024) erstellten Datenbanken sowie weitere spezifische Informationen notwendig, beispielsweise darüber, in welchen Zeiträumen die verschiedenen Stoffe in welchen Konzentrationen in PVC eingesetzt wurden, welche dieser Stoffe in Bauprodukten eingesetzt wurden und welche dieser Stoffe Restriktionen unterliegen. Ersten Aufschluss darüber, dass historisch-bedingte Verunreinigungen langfristig in relevanten Konzentrationen in PVC-Abfällen aus dem Bausektor zu finden sein werden, geben die dynamischen Material- und Substanzflussanalysen zu Weichmachern in PVC-Bodenbelägen (Klotz et al. in Begutachtung) und Bleistabilisatoren in PVC-Fensterprofilen (Schmidt et al. in Begutachtung). Ein umfassendes Modell für PVC im Bausektor unter Berücksichtigung verschiedener PVC-Produkte und Schadstoffe fehlt jedoch.
Ziel dieser Studie ist es, schadstoffbedingte Herausforderungen für PVC-Kreisläufe im Bausektor in Deutschland basierend auf der Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen, der stichprobenartigen Charakterisierung von PVC-Abfällen und der Erstellung und Auswertung eines dynamischen Materialflussmodells aufzuzeigen.
2 Material und Methoden
Im Rahmen dieser Studie werden schadstoffbedingte Herausforderungen für PVC-Kreisläufe im Bausektor in Deutschland untersucht. Dafür wurde ein hochauflösendes dynamisches Materialflussmodell erstellt. Das Materialflussmodell basiert auf einer Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen, Literatur- und Datenrecherchen sowie stichprobenartigen Abfallcharakterisierungen (siehe Abb. 1). Die Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen dient der Identifizierung relevanter historisch-bedingter Verunreinigungen und der Beschreibung ihrer rechtlichen Entwicklung. Die Abfallcharakterisierung umfasst die Beprobung von Kunststoffabfällen aus Rück- und Abbruchbaustellen in Deutschland und die anschließende Analyse ausgewählter Schadstoffkonzentrationen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen, der Abfallcharakterisierungskampagne und ergänzender umfangreicher Literaturrecherchen wird ein hochauflösendes dynamisches Materialflussmodell für PVC im Bausektor erstellt, um die historischen und voraussichtlichen Bestände und Ströme von PVC für verschiedene Baukomponenten und die damit verbundenen historisch-bedingten Verunreinigungen zu quantifizieren.
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In Deutschland wurden im Jahr 2021 1,75 Mio. Tonnen PVC verarbeitet, davon mehr als 75 % zu Produkten für Bauanwendungen (Conversio 2022b). Die PVC-Post-Consumer-Abfallmengen sind im Jahr 2021 mit 298.000 t vergleichsweise gering und machen nur 45 % des PVC-Abfallaufkommens aus (Conversio 2022b). Grund dafür ist die Langlebigkeit von Bauprodukten und der starke Anstieg des Kunststoffkonsums im Bausektor mit einem Wachstum von 34 % im Zeitraum von 2001 bis 2021 (Conversio 2022a; PLASTVERARBEITER 2002). Im Folgenden wird ein Überblick über die massenmäßig relevantesten PVC-Anwendungen im Bausektor gegeben.
Profile
In Deutschland machen Kunststoffprofile mehr als ein Drittel der verarbeiteten PVC-Menge aus (Conversio 2022b). Innerhalb der PVC-Profile entfallen etwa zwei Drittel auf Fenster- und Türprofile. Ein weiteres Drittel der PVC-Profile wird für sonstige Anwendungen, wie Kabelkanäle, genutzt. Die durchschnittliche Lebensdauer von PVC-Profilen beträgt 40 Jahre (BBSR 2017). Für die Sammlung von PVC-Altfenstern hat sich in Deutschland das Rücknahme und Recyclingsystem REWINDO etabliert (Rewindo GmbH 2023). Rezyklate aus PVC-Altfensterprofilen wurden im Jahr 2022 zu etwa 70 % in geschlossenen Kreisläufen zur Produktion von neuen PVC-Profilen eingesetzt, weitere 20 % wurden zur Produktion von Rohren genutzt.
Rohre
Die ersten PVC-Rohre wurden bereits in den 1920er-Jahren produziert (Barth 2007). Neben PVC werden diverse andere Kunststoffe, insbesondere Polyethylen, Polypropylen, Polyamide und glasfaserverstärkte Kunststoffe, zur Produktion von Kunststoffrohren eingesetzt (Conversio 2023). Hauptanwendungsbereiche sind Abwasserrohre, Kanalleitungen, Trinkwasserleitungen, Gasleitungen und Haustechnik, industrielle Anwendungen sowie sonstige Anwendungen wie Kabelschutz. Ca. 80 % der PVC-Rohre werden aktuell für Kanalleitungen und Wasserverteilungsnetze genutzt (TEPPFA 2020). Je nach Anwendungsbereich weisen PVC-Rohre eine Lebensdauer von 45 bis 85 Jahren auf (Conversio 2023). Ein Teil der Rohre verbleibt auch nach Ende der Nutzung im Untergrund, wodurch zukünftige Rückbaupotenziale („schlafende Lager“) entstehen (Müller et al. 2017).
Bodenbelag
PVC wird seit den 1960er-Jahren in Form von Bahnen oder Platten als Bodenbelag eingesetzt. PVC-Bodenbeläge lassen sich in verschiedene Produktgruppen unterteilen. Hierbei handelt es sich heutzutage vor allem um Cushion-Vinyl, kompakte Bodenbeläge (homogen und heterogen) sowie PVC-Designböden (auch bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung „Luxury Vinyl Tiles“ oder kurz LVT-Bodenbelag). Aktuell dominieren LVT-Bodenbeläge den Markt für PVC-Bodenbeläge, während in den 1960er-Jahren vorwiegend astbesthaltige PVC-Bodenbeläge eingesetzt wurden. Die PVC-Bodenbelagsarten unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Recyclingfähigkeit als auch hinsichtlich enthaltener Schadstoffe. Die typische mittlere Lebensdauer von PVC-Bodenbelägen liegt bei 20 Jahren (Jonsson et al. 2008). Anhaftungen und Klebstoffreste stellen eine Herausforderung für das Recycling von PVC-Bodenbelägen nach der Nutzung dar. Neben Alt-PVC-Böden wird aktuell insbesondere Verschnittmaterial, das beim Verlegen der PVC-Bodenbeläge anfällt, einem Recycling zugeführt.
Kabelummantelungen
Kabelummantelungen machen ca. 3 % der verarbeiteten PVC-Menge in Deutschland aus (Conversio 2022b). Kabel werden in vielfältigen Anwendungen genutzt, beispielsweise als Fahrzeugleitungen, Wickeldrähte, Kommunikationskabel, in der Starkstromtechnik, in der Verbindungstechnik oder als Starkstromleitungen (ZVEI 2022). Zur Herstellung von Kabelummantelungen aus Kunststoff werden hauptsächlich PVC und PE genutzt (Kreißig et al. 2003). In Kabelummantelungen werden verschiedene Stoffe wie Weichmacher und Füllstoffe eingesetzt (Kreißig et al. 2003). Die durchschnittliche Lebensdauer von Kabeln in Gebäuden beträgt 35 Jahre (ZVEI 2015). Schätzungsweise fallen in Deutschland jährlich etwa 180.000 bis 200.000 t an Kabelabfällen an (ZVEI 2022). Das Recycling von Kabeln erfolgt primär mit dem Ziel der Rückgewinnung von Metallen, zum Teil werden aber auch die Kabelummantelungen einem Recycling zugeführt (CABLO GmbH 2024).
Folien
PVC-Folien kommen im Bauwesen unter anderem als Dach- und Dichtungsbahnen, als Teichfolien, zur Bauwerksabdichtung oder im Tunnelbau zum Einsatz (Der dichte Bau GmbH 2017). Dach- und Dichtungsbahnen machten in Deutschland im Jahr 2021 2 % der verarbeiteten PVC-Menge aus (Conversio 2022b). Die European Single Ply Waterproofing Association (ESWA) führte in Europa das Rücknahmesystem RoofCollect ein, das im Jahr 2021 217 t Dach- und Dichtungsbahnen einer stofflichen Verwertung zuführte (VinylPlus 2022).
2.1 Regulierungen problematischer Stoffe in PVC
In der Herstellung von Kunststoffen wurden und werden mehr als 16.000 verschiedene Stoffe eingesetzt (Wagner et al. 2024). Diese Stoffe erfüllen verschiedene Funktionen. Beispielsweise dienen sie als Farbstoffe, Verarbeitungshilfsmittel, Füllstoffe, Stabilisatoren, Weichmacher, Geruchsstoffe, Antioxidantien oder Flammschutzmittel (Wagner et al. 2024). Ein Teil dieser Stoffe wird heutzutage als problematisch oder gefährlich eingestuft.
Die Verwendung eines gefährlichen Stoffs als solchem, in einem Gemisch oder in einem Erzeugnis, kann auf EU-Ebene über verschiedene Wege der Gesetzgebung reguliert werden. Unter der CLP-Verordnung (EG 1272/2008; EG 2008) werden Stoffe und Gemische gemäß ihren gefährlichen Eigenschaften eingestuft. Die Einstufung eines Stoffs bildet die Grundlage für ein Risikomanagement durch regulatorische Maßnahmen. Diese Gesetzgebungswege umfassen übergeordnete Rechtsvorschriften wie die REACH-Verordnung (EG 1907/2006; EG 2006) über Zulassungs- (Anhang XIV) und Beschränkungsverfahren (Anhang XVII) sowie produktbezogene Rechtstexte wie die EU-Bauprodukteverordnung (EU 305/2011; EU 2011b), Umweltschutz- und Abfallgesetzgebung wie die Abfallrahmenrichtlinie (2008/98/EG; EU 2008) und die Verordnung über persistente organische Schadstoffe (kurz EU-POP-Verordnung (EU 2019/1021); EU 2019) sowie Rechtsvorschriften zum Arbeitsschutz wie die Richtlinie zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (Chemical Agents Directive (CAD); 98/24/EG; EG 1998) und die Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit (Carcinogens, Mutagens or Reprotoxic substances Directive (CMRD); 2004/37/EG; EG 2004).
Auf nationaler Ebene können weitere spezifische Anforderungen und Rechtsvorschriften hinzukommen, insbesondere in Bezug auf die Emissionen gefährlicher Stoffe in die Innenraumluft. Beispielsweise sind die Hersteller von Bauprodukten in Frankreich seit 2013 verpflichtet, die Emissionen von Formaldehyd und flüchtigen organischen Verbindungen mit einem Etikett zu kennzeichnen (MTE 2020). In Deutschland sind seit 2017 die Inhalte des Bewertungsschemas des Ausschusses zur gesundheitlichen Bewertung von Bauprodukten (AgBB-Bewertungsschema; siehe AgBB 2021) mit den Anforderungen an bauliche Anlagen im Hinblick auf den Gesundheitsschutz in die Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB; DIBt 2023) aufgenommen worden. Innenraumrelevante Produkte sollten daher für den Einsatz in Deutschland nach AgBB geprüft sein und den Anforderungen entsprechen. Das AgBB-Schema enthält „Niedrigste Interessierende Konzentrationen“ (EU-LCI und AgBB-LCI).
Im Rahmen dieser Studie wurde ein dreistufiger Ansatz genutzt, um zu ermitteln, welche Stoffe in PVC eingesetzt wurden und wie gefährlich diese Stoffe sind (siehe Abb. 2). Zunächst wurden aus diversen Quellen Informationen über verschiedene Stoffe und Stoffgruppen, die in PVC enthalten sein können, zusammengestellt (ECHA 2016, 2023, 2022; EC 2022; ANSES 2016; Wiesinger et al. 2021; UNEP 2023; Wagner et al. 2024; Betaquimica 2024; Plastemart 2024; SpecialChem 2024; NORAC Additives 2024; ESPA 2024). In einem zweiten Schritt wurden die Stoffe möglichst Stoffgruppen zugeordnet und bezüglich ihrer Gefährlichkeit eingestuft. In Prioritätsstufe 1 fallen gefährliche Stoffe, deren Einsatz bereits durch die EU-POP-Verordnung, REACH oder CLP reguliert werden. Bezüglich der REACH-Verordnung wurden Stoffe berücksichtigt, die bereits einer Restriktion unterliegen oder als besonders besorgniserregender Stoff (Substance of Very High Concern (SVHC)) eingestuft wurden. In Prioritätsstufe 2 fallen alle Stoffe, die derzeit in Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt sind. Hierzu zählen unter anderem Stoffe, die in der Liste des Public Activities Coordination Tool (PACT) aufgeführt sind (Überblick über Aktivitäten unter REACH und CLP), oder in der Liste „Community Rolling Action Plan“ (CoRAP) eines EU-Mitgliedslands sind. In Prioritätsstufe 3 fallen Stoffe, die nicht Teil von Prioritätsstufe 2 sind und eine Niedrigste Interessierende Konzentration (EU-LCI) haben oder Teil des AgBB-Schemas sind (CMR1A&1B&2). In Prioritätsstufe 4 werden alle Stoffe zugeordnet, die bislang in keinem EU-Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Stoffe keine Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben können. In einem dritten Schritt wurde die SCIP-Datenbank (Substances of Concern In articles as such or in complex objects (Products), ECHA 2024) verwendet, um zu überprüfen, welche der besonders besorgniserregenden Stoffe (SVHCs), die gemäß der REACH-Verordnung auf der Kandidatenliste stehen, in PVC-Artikeln, die auf dem EU-Markt angeboten werden, in Konzentrationen über 0,1 % enthalten sind.
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Die Priorisierung dient als Grundlage für die Auswahl von Stoffen, die in der Schadstoffanalytik und im Materialflussmodell berücksichtigt werden sollen.
2.2 Analyse von Schadstoffgehalten in PVC-Abfällen
Im Rahmen von Abfallcharakterisierungskampagnen wurden im Zeitraum von Juni bis November 2023 50 Proben von PVC-Kunststoffabfällen von 6 Abbruchbaustellen in Deutschland und Luxemburg gesammelt. Die Abfallcharakterisierung dient dazu, Literaturwerte und Modellergebnisse zu plausibilisieren und erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität hinsichtlich der ermittelten Schadstoffkonzentrationen. Zunächst wurden Polymere mittels Nahinfrarot-Spektroskopie (NIR-Spektroskopie) unter Verwendung des „MicroNIR OnSite‑W Plastic“ des Herstellers analyticon bestimmt. Im Falle von Kunststoffproben, bei denen, z. B. aufgrund ihrer schwarzen Farbe, eine Detektion mittels NIR-Spektroskopie nicht möglich war, wurde ein Fourier-Transform-Infrarotspektrometer mit abgeschwächter Totalreflexion (ATR-FTIR) zur Polymerdetektion eingesetzt. Die ATR-FTIR-Messungen wurden mit dem Bruker Alpha II mit Diamantaufsatz unter Verwendung der Software OPUS durchgeführt. Zur Auswertung der Spektren wurde die durch das akkreditierte Kunststoff-Institut Lüdenscheid zusammengestellte Datenbank B‑KIMW (Bruker 2021) für Polymere, Kunststoffe und Additive genutzt.
Die Proben wurden in Anwendungsbereiche eingeteilt. Bei den untersuchten PVC-Proben handelte es sich um 18 Kabel, 15 Rohre, 10 Profile, 4 Sonstige, 2 Bodenbeläge und 1 Folie. Anschließend wurden die Proben hinsichtlich ihrer Gehalte an schweren Elementen sowie bezüglich der Präsenz von Phthalaten untersucht.
Zur Bestimmung der Gehalte an schweren Elementen wurden Röntgen-Fluoreszenz-Analysen (RFA) unter Einsatz des NITON XL3t XRF-Analyzer der Firma analyticon im Kunststoffmodus durchgeführt. Je Probe wurden jeweils fünf Messungen auf der Innen- und Außenseite der Probe durchgeführt. Aus den Messergebnissen wurde der Mittelwert gebildet. Bei Proben mit einer Konzentration über 0,1 Gewichtsprozent (%), wurde der Stoffgehalt als beabsichtigt eingestuft und unter 0,1 % als unbeabsichtigt („non-intentionally added substances“ (NIAS); EU 2011a).
Zur Bestimmung, ob die PVC-Proben Phthalate enthalten, wurde geprüft, ob die mithilfe von ATR-FTIR aufgenommenen Spektren der Proben charakteristische Peaks aufweisen. Je Probe wurde ein Spektrum basierend auf 24 Einzelmessungen aufgezeichnet und ausgewertet. Die charakteristischen Peaks sind in den Wellenlängenbereichen 743 cm−1, 1579 cm−1 und 1599 cm−1 zu finden und auf den ortho-substituierten aromatischen Ring der Phthalate und die Quadrantenstreckschwingung des aromatischen Rings zurückzuführen (Andjelković et al. 2021).
2.3 Dynamische Modellierung von PVC- und Substanz-Lagern und -Flüssen
Materialflussanalysen dienen zur systematischen Bewertung des Zustands und der Änderung von Flüssen und Lagern von Materialien innerhalb von zeitlich und räumlich definierten Systemen (Brunner und Rechberger 2017). Die dynamische Materialflussanalyse stellt eine Spezialform der Materialflussanalyse dar, bei der Änderungen von Lagern und Flüssen über einen Zeitraum untersucht werden. Im Rahmen dieser Studie wird ein input-getriebenes dynamisches Materialflussmodell genutzt, um zukünftige PVC-Abfallmengen aus dem Bausektor und deren Kontamination mit verschiedenen Altsubstanzen abzuschätzen (siehe Abb. 3). Treiber des Modells ist der Konsum von Kunststoffprodukten, welcher sich aus Neuware (F2) und Produkten zur Wiederverwendung (F7) zusammensetzt. Die Menge an PVC-Abfällen aus dem Bausektor (F3), der Output aus dem Nutzlager (S), ergibt sich durch Konvolution der Lebensdauerverteilung f und der Inputs ins Nutzlager (F2 und F7) über die Zeit (vgl. Gl. 1). Die Lebensdauerverteilungen f werden mithilfe von Weibull-Funktionen, die für jede Produktgruppe festgelegt werden, modelliert. Das Nutzlager wird quantifiziert, indem die Bilanz der Lagerinputs und -outputs zum Nutzlager zu Beginn des Untersuchungszeitraums (S0) addiert wird (vgl. Gl. 2).
Im Rahmen dieser Studie werden Teilergebnisse für die Anwendungsfelder Profile, Rohre und Bodenbeläge dargestellt. Datengrundlage bilden zusätzlich zur Analyse rechtlicher Rahmenbedingungen und Abfallcharakterisierung diverse Datenquellen (Conversio 2014, 2022b, 2023; Rewindo GmbH 2023; TEPPFA 2020; ERFMI 2023; Hauser und Lüking 2021). Als Grundlage für die Berücksichtigung von Unsicherheiten wurde eine Datenqualitätsbewertung nach Laner et al. (2016) durchgeführt. Basierend auf den Variationskoeffizienten wurden Unsicherheitsverteilungen definiert, die in Monte-Carlo-Simulationen berücksichtigt wurden. Für die Modellberechnungen wurde das Python-Paket „ODYM“ (Pauliuk und Heeren 2020) angepasst, um die Berücksichtigung einer hierarchischen Modellstruktur (Produkte, Anwendungen, Polymere, Substanzen), die Berechnung von Materialkreisläufen (Wiederverwendung und Recycling) und die Durchführung von Monte-Carlo-Simulationen zu ermöglichen.
3 Ergebnisse
3.1 Priorisierung problematischer Stoffe in PVC
Anhand der Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen zur Regulierung gefährlicher Stoffe wurden etwa 2000 Stoffe identifiziert, die in Kunststoffen im Bausektor verwendet werden, wovon etwa 680 Stoffe in PVC eingesetzt werden. Der Einsatz von 188 dieser Stoffe wird durch die EU-POP-Verordnung, REACH oder CLP reguliert (Prioritätsstufe 1). 73 der 188 Stoffe sind von Restriktionen bezüglich ihrer Nutzung in PVC betroffen, davon 8 durch die EU-POP-Verordnung und 65 nach REACH Anhang XVII (siehe Tab. 1). Dazu zählen hauptsächlich die Stoffgruppen Cadmium und seine Verbindungen, Blei und seine Verbindungen, Quecksilber und seine Verbindungen, Phthalate sowie zinnorganische Verbindungen.
Tab. 1
Problemstoffe in PVC, die aktuell von Restriktionen bezüglich ihrer Nutzung in PVC betroffen sind
Substanzgruppe
Verordnung
Anzahl an Substanzen
Hauptsächliche Verwendung
Zinnorganische Verbindungen
REACH, Anhang XVII
18
Hitzestabilisatoren & Biozide
Phthalate, davon
REACH, Anhang XVII
5
Weichmacher
– Ortho-Phthalate
1
Cadmium und seine Verbindungen
REACH, Anhang XVII
10
Hitze- und Lichtstabilisatoren, Farbstoff
Blei und seine Verbindungen
REACH, Anhang XVII
28
Hitze- und Lichtstabilisatoren
Quecksilber und seine Verbindungen
REACH, Anhang XVII
4
Katalysatoren
Chlorierte Paraffine
POP
1
Weichmacher
Bromierte Substanzen
POP
6
Flammhemmer
PAK
POP
1
Keine Hauptfunktion identifiziert
Die Hauptbeschränkung für Blei und Bleiverbindungen ist beispielsweise die REACH-Restriktion, Anhang XVII, Eintrag 63. Seit 2006 war der Einsatz von Blei und Bleiverbindungen in Schmuckartikeln auf 0,05 % beschränkt. 2015 wurde diese Einschränkung auf Gegenstände, die von Kindern in den Mund genommen werden, erweitert. Im Mai 2023 erließ die Europäische Kommission Verordnung EU 2023/923 zu Blei und seinen Verbindungen in PVC. Diese Verordnung beschränkt die Bleikonzentration in PVC-Erzeugnissen auf 0,1 %. Diese Beschränkung tritt am 29. November 2024 in Kraft. Für PVC-Produkte, in denen Rezyklate eingesetzt werden, ist für bestimmte Anwendungen, darunter Profile und Rohre, eine Übergangsfrist bis zum 28. Mai 2033 vorgesehen, in der ein Bleigehalt von bis zu 1,5 % erlaubt ist. Im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung haben sich die europäischen PVC-Hersteller dazu entschieden bei der Produktion von PVC-Neuware bereits per Ende 2015 vollständig auf bleihaltige Stabilisatoren zu verzichten (ESPA 2016). Durch das Recycling von PVC wird jedoch weiterhin Blei in neue PVC-Produkte eingetragen. Insbesondere bei Abfällen aus dem Bausektor kann es aufgrund langer Produktlebensdauern langfristig zu Einschränkungen für das Recycling kommen.
Zusätzlich zu den 188 Stoffen, die Prioritätsstufe 1 zuzuordnen sind, wurden 323 Stoffe Prioritätsstufe 2, 3 Stoffe Prioritätsstufe 3 und 166 Stoffe Prioritätsstufe 4 zugeordnet. Zu den Stoffen in Prioritätsstufe 2, die Teil eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens sind, zählen unter anderem Stoffe aus den Stoffgruppen Acetophenone, Benzophenone, Adipate, Phthalate, Alkylphenole, Antimon und seine Verbindungen, Benzoate, Benzotriazol, Borate, Carbonsäuresalze, Glykolether sowie Zink und seine Verbindungen. In bestimmten Stoffgruppen ist nur ein Teil der Stoffe Priorisierungsstufe 1 zugeordnet.
3.2 Schadstoffgehalte in PVC-Abfällen aus dem Bausektor
Von 51 untersuchten Proben wiesen 44 Proben für mindestens eines der unter REACH regulierten Elemente Cd, Pb, Sb, Sn, Sr und Zn Gehalte über 1000 ppm auf. In jeder der untersuchten Produktgruppen war mindestens eine Probe von Gehalten der zuvor genannten Elemente über dem Grenzwert von 1000 ppm betroffen. Keine der untersuchten Proben enthielt die weiteren unter REACH regulierten Elemente As, Br, Co, Cu, Hg oder Ni.
Cadmiumverbindungen, die bis März 2001 als Stabilisatoren und Pigmente in PVC verwendet wurden (VinylPlus 2014), konnten im Rahmen der Abfallanalysen insbesondere in Profilen und Rohren nachgewiesen werden (siehe Abb. 4). 47 % der Profile enthielten Cadmium in Konzentrationen über 1000 ppm. Die durchschnittliche Cadmium-Konzentration in den mit Cadmium kontaminierten Proben betrug 3600 ppm. Eine ähnliche durchschnittliche Konzentration von 3800 ppm wurde in den 6 % mit Cadmium kontaminierten Altrohren nachgewiesen. Die gemessenen Konzentrationen liegen leicht über den in der Literatur angegebenem Maximalgehalt von Cadmium in PVC-Produkten von 3000 ppm (Borgmann et al. 2019).
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Bleiverbindungen wurden bis 2015 als Ersatz für Cadmium-Stabilisatoren in PVC eingesetzt (Ooms und Cuperus 2013). Innerhalb der Produktgruppe Profile enthielten 39 % der analysierten Proben Blei in Konzentrationen über 1000 ppm. Die durchschnittliche Blei-Konzentration in den mit Blei kontaminierten Profilen lag bei 21.600 ppm. Von den untersuchten Altrohren waren etwa zwei Drittel mit Blei kontaminiert. Die Blei-Konzentrationen in den mit Blei kontaminierten Rohrproben schwankten zwischen 3300 ppm und 33.700 ppm und lag im Mittel bei 11.800 ppm. Auch 60 % der Kabel enthielten mehr als 1000 ppm Blei. Die durchschnittliche Blei-Konzentration betrug in dieser Produktgruppe 9300 ppm. Während die in der Literatur angegebenen Bleikonzentrationen für die Anwendungen Profile (20.000 ppm), Rohre (7500 ppm) und Kabel (16.000 ppm) ähnlich den gemessenen Werten sind, konnte in den untersuchten Bodenbelags- und Folienproben abweichend von der Literatur (8000 ppm in kompakten Bodenbelägen, Dachbahnen 12.000 ppm; siehe Ooms und Cuperus 2013) kein Blei nachgewiesen werden.
Auch Zinnverbindungen werden als Stabilisatoren eingesetzt. Von den untersuchten Proben enthielten nur die Produktgruppen Rohre und Sonstige Zinn in Konzentrationen über 1000 ppm. Zinnstabilisatoren in Form von zinnorganischen Verbindungen stehen heutzutage aufgrund ihres Bioakkumulationspotenzials und ihrer Toxizität in der Kritik (Umweltprobenbank des Bundes 2024), die Nutzung ist in vereinzelten Anwendungen eingeschränkt (EG 2006).
Das ATR-FTIR-Screening ergab bezüglich der Präsenz von Ortho-Phthalaten in den untersuchten Proben, dass jedes zweite Kabel und eine der beiden PVC-Bodenbelagsproben Ortho-Phthalate enthielten. In den Hart-PVC-Proben (Profile, Rohre) und der untersuchten Folie konnten keine Ortho-Phthalate nachgewiesen werden. Für neue PVC-Bodenbeläge in der Schweiz stellten Wiesinger et al. (2024) fest, dass 36 % der Proben Ortho-Phthalate enthielten, 21 % davon enthielten restringierte Ortho-Phthalate.
3.3 Flüsse und Lager von PVC im Bausektor und Schadstoffbelastungen
Seit 1960 ist der Verbrauch von PVC im Bausektor stark angestiegen. Exemplarisch werden im Folgenden die Flüsse und Lager für die Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbelag dargestellt, die heutzutage etwa 85 % der PVC-Verarbeitung für Anwendungen im Bausektor ausmachen (Conversio 2022b).
Im Zeitraum von 1960 bis 2022 wurden 24,2 Mio. Tonnen PVC in den Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbeläge konsumiert. Das derzeitige Nutzlager wird auf 19,0 Mio. Tonnen geschätzt, davon 10,8 Mio. Tonnen Rohre, 5,7 Mio. Tonnen Profile und 2,5 Mio. Tonnen Bodenbeläge (siehe Abb. 5).
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Der PVC-Konsum ist in diesen Anwendungen insbesondere bis Anfang der 2000er-Jahre stark angestiegen und schwankt seitdem zwischen 452.000 und 593.000 t pro Jahr. Im Jahr 2022 wurden in den Anwendungen Profile, Fußböden und Rohre 542.000 t PVC konsumiert und dem Nutzlager zugeführt. Im selben Jahr fielen etwa 246.000 t PVC-Abfälle im Bausektor an, davon 102.000 t Profile, 51.000 t Rohre und 94.000 t Bodenbeläge. Dass die Abfallmengen die konsumierten Mengen im Jahr 2022 um 55 % unterschritten, lässt sich anhand der hohen mittleren Lebensdauern der Bauprodukte (Profile: 40 Jahre, Rohre: je nach Anwendung 45 bis 85 Jahre, Bodenbeläge: 20 Jahre) kombiniert mit dem in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegenen Konsum erklären. Zukünftig ist ein kontinuierlicher Anstieg der PVC-Abfallmengen zu erwarten. Unter der Szenario-Annahme, dass der Verbrauch von PVC in den hier berücksichtigten Anwendungen ab 2023 auf einem konstanten Niveau bleibt, wie in Abb. 5 dargestellt, ist bis 2050 mit einem Anstieg um Faktor 1,8 zu rechnen. Neben den Abfallmengen würde auch das Nutzlager bis 2050 auf 23,9 Mio. Tonnen anwachsen.
Basierend auf den Ergebnissen des dynamischen Materialflussmodells lässt sich neben Flüssen und Lagern auch die Konzentration verschiedener Stoffe in PVC abschätzen. Exemplarisch sind in Abb. 6 die berechneten Konzentrationen an Blei, Cadmium und DEHP in PVC-Abfällen aus den Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbeläge dargestellt. Während die DEHP-Konzentrationen in Alt-Bodenbelägen aufgrund eines niedrigen Post-Consumer-Recycling-Anteils bereits 2035 voraussichtlich 0,1 % unterschreitet, sind sowohl die Blei-Konzentrationen in Profilen und Rohren als auch die Cadmium-Konzentrationen in Profilen eine längerfristige Herausforderung für die Schließung von PVC-Kreisläufen (siehe Abb. 6). Für Altprofile werden im Jahr 2050 Blei-Konzentrationen zwischen 0,4 und 1,1 % (Grenzwert in Neuprodukten: 0,1 %) und Cadmium-Konzentrationen zwischen 0,04 und 0,06 % (Grenzwert in Neuprodukten: 0,01 %) erwartet. Für Altrohre beträgt die für das Jahr 2050 errechnete Blei-Konzentration zwischen 0,5 und 2 %.
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4 Diskussion
4.1 Zukünftige PVC-Recyclingpotenziale und schadstoffbedingte Herausforderungen
Bis 2050 ist in Deutschland mit einem starken Anstieg der PVC-Abfallmengen aus dem Bausektor zu rechnen. Für die Erreichung von Rezyklateinsatzzielen, wie das in der Erklärung der Circular Plastics Alliance definierte Ziel bis 2025 pro Jahr 10 Mio. Tonnen Kunststoffrezyklate in neuen Produkten einzusetzen (Circular Plastics Alliance 2019), sind steigende Abfallmengen von Vorteil. Hohe Rezyklateinsatzquoten können langfristig zur Senkung der Treibhausgasemissionen der Kunststoffindustrie beitragen (Bachmann et al. 2023; Stegmann et al. 2022). Damit PVC-Abfälle aus dem Bausektor verstärkt einem Recycling zugeführt und schließlich in neuen Kunststoffprodukten zum Einsatz kommen können, sind aber auch Herausforderungen zu überwinden.
Heutzutage werden PVC-Abfälle aus dem Bau- und Infrastruktursektor häufig über Mischabfallströme erfasst, in denen PVC-Abfälle massenmäßig eine untergeordnete Rolle spielen. Ausnahmen gibt es für einzelne Produktgruppen. Beispielsweise werden PVC-Fensterprofile über das Rücknahmesystem REWINDO erfasst und einer getrennten Verwertung zugeführt. Zusätzlich bieten einzelne Hersteller, wie der PVC-Bodenbelagshersteller TARKETT, Rücknahmesysteme für bestimmte PVC-Produktgruppen an, um Verschnittreste oder Altmaterialien zu recyceln (Tarkett 2023). Bei Rücknahme und Recycling gibt es jedoch Einschränkungen bezüglich Altweichmachern. Neben den geringen Erfassungsmengen erschweren Verschmutzungen und Anhaftungen, wie Klebstoffreste an PVC-Bodenbelägen, die stoffliche Verwertung (Zimmermann 2022).
Für die Nutzung der aus Bau- und Abbruchabfällen erzeugten PVC-Rezyklate stellt die Belastung von PVC-Abfällen mit verschiedenen Problemstoffen eine Herausforderung dar. Die basierend auf der Materialflussanalyse berechneten Stoffkonzentrationen (siehe Abschn. 3.3) deuten darauf hin, dass Schadstoffe auch in mehreren Jahrzehnten noch in relevanten Konzentrationen im Abfall zu finden sein werden. Zeitgleich ist durch den besseren Überblick über vorhandene Problemstoffe und das entsprechend wachsende Bewusstsein mit einer steigenden Anzahl an regulierten Stoffen zu rechnen. Restriktionen dieser Problemstoffe können dazu führen, dass Alt-PVC-Produkte aus dem Bausektor nicht vollständig recycelt werden können. Am Beispiel von Blei haben Schmidt et al. (in Begutachtung) gezeigt, dass die EU-Restriktion von Blei in PVC (EU 2023/923, siehe Abschn. 3.1) dazu führen kann, dass im Zeitraum von 2034 bis 2100 etwa 3,2 Mio. Tonnen PVC-Fensterprofile nicht recycelt werden können, wenn keine neuen Technologien zur gezielten Schadstoffabtrennung beim Recycling entwickelt werden.
Einen vorteiligen Effekt bezüglich der Senkung von Schadstoffkonzentrationen in Rezyklaten hat, dass im Recyclingprozess Altprodukte mit Verschnitt- oder Verlegeresten vermischt werden. Beispielsweise sind in den Mahlgütern aus dem Recycling von Kunststoffrohren deutlich geringere Konzentrationen nachweisbar als in den Abfällen zu erwarten wäre (Dieninghoff 2024). Zukünftig könnte dieser Verdünnungseffekt aufgrund steigender Abfallmengen bei gleichbleibendem Produktbedarf abgeschwächt werden. Entsprechend sind Abfallbehandlungsverfahren notwendig, die ein Ausschleusen der Schadstoffe ermöglichen. Hier spielen potenziell physikalische oder chemische Recyclingverfahren eine Rolle, ebenso wie Technologien basierend auf enzymatischer Degradation (Tomatis et al. 2023; Lu et al. 2021; Ait-Touchente et al. 2024).
4.2 Limitationen
Im Kontext der Priorisierung problematischer Stoffe in PVC ergeben sich Limitationen im Wesentlichen dadurch, dass die Stoffregulierung ein dynamischer Prozess ist, sodass die Liste problematischer Stoffe nicht als abschließend anzusehen ist. Einerseits können zukünftig neue Stoffe als gefährlich eingestuft werden und andererseits können Stoffe, die derzeit unter Beobachtung stehen, die aber noch nicht reguliert sind, nicht reguliert werden und wären daher nicht länger als problematisch einzustufen. Auf EU-Ebene erfolgt die Einstufung problematischer Stoffe nach dem Prinzip „ein Stoff je Einstufungsverfahren“, was dazu führt, dass der Einstufungsprozess langwierig ist und zum Teil einer Stoffgruppe zugehörige Stoffe verschieden bezüglich ihrer Gefährlichkeit eingestuft sind. Zudem ist nicht auszuschließen, dass aufgrund einer mangelnden Herstellertransparenz noch immer nicht alle Stoffe bekannt sind, die in der PVC-Produktion eingesetzt wurden und werden.
In Bezug auf die Bestimmung von Schadstoffgehalten in Kunststoffen aus dem Bau- und Infrastruktursektor schränkt die untersuchte Anzahl an Proben die Aussagekraft der Ergebnisse ein. Entsprechend muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, dass die gemessenen Schadstoffkonzentration nicht repräsentativ für Kunststoffe im Bauabfall in Deutschland sind. Stattdessen dienen die Schadstoffgehalte als Plausibilisierung für Literaturwerte. Wie in Abschn. 3.2 beschrieben, bestätigen die gemessenen Konzentrationen bis auf wenige Ausnahmen die Literaturwerte. Zusätzlich geben die Analyseergebnisse erste Anhaltspunkte für zusätzliche Schadstoffbelastungen, die nicht ausreichend in der Literatur dokumentiert sind und können als Anlass für umfangreichere Messreihen genommen werden. Die Messverfahren selbst bringen Unsicherheiten mit sich. Beispielsweise weist das ATR-FTIR-Screening zur Überprüfung der Präsenz von Ortho-Phthalaten eine Sensitivität von 78,2 % auf, welche jedoch für Proben mit einem Ortho-Phthalat-Gehalt von mehr als 0,1 % auf 97,2 % steigt (Wiesinger et al. 2024). Um zu bestimmen, welches Ortho-Phthalat in der Probe vorliegt, sind zusätzliche GC-MS-Messungen notwendig. Auch bestimmte andere als problematisch eingestufte Stoffe, wie zinnorganische Verbindungen, konnten mithilfe der durchgeführten Analysen nicht quantifiziert werden.
Bezüglich der dynamischen Materialflussanalysen ist darauf hinzuweisen, dass die Modelle die Wirklichkeit nur vereinfachend in Form von Szenarien abbilden und nicht die Zukunft vorhersagen. Stattdessen zeigen die Modelle auf, wie sich die Materiallager, Recyclingpotenziale, und Problemstoffkonzentrationen zukünftig unter bestimmten Bedingungen entwickeln können. Beispielsweise werden unvorhersehbare Ereignisse, wie potenzielle zukünftige Renovierungswellen, nicht im Modell berücksichtigt. Stattdessen wird im Rahmen von Szenario- und Sensitivitätsanalysen geprüft, wie sich unterschiedliche Annahmen auf die Ergebnisse auswirken. Zudem gibt eine Globale Sensitivitätsanalyse Aufschluss darüber, welche Parameter die Modellergebnisse besonders stark beeinflussen und wo sich im Modell Datenhotspots befinden. Zur Plausibilisierung des Modells findet im Rahmen des Forschungsprojekts IMMEC ein kontinuierlicher Austausch mit Stakeholdern aus der Kunststoffindustrie und der Behandlung von Kunststoffabfällen aus dem Bausektor statt. Dieser Austausch ermöglicht den Abgleich von modellbasiert gewonnenen Erkenntnissen mit praxisnahen Einblicken und trägt zur Optimierung des Modells bei.
5 Fazit und Ausblick
Im Rahmen dieser Studie wurden basierend auf Analysen rechtlicher Rahmenbedingungen, Abfallcharakterisierungskampagnen und Materialflussanalysen historische, derzeitige und potenziell zukünftige Lager und Flüsse von PVC im Bausektor und deren Kontamination mit Schadstoffen abgeschätzt. Das derzeitige Lager an PVC im Bausektor für die Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbeläge wird auf 19,0 Mio. Tonnen geschätzt. Die Abfallmengen unterschreiten aufgrund der langen Lebensdauern von Bauprodukten die konsumierten Mengen noch deutlich, jedoch ist bis 2050 für die berücksichtigten Anwendungen Profile, Rohre und Bodenbeläge mit einem Anstieg um Faktor 1,8 zu rechnen. Das Recycling dieser Abfälle kann dazu beitragen, den Verbrauch fossiler Primärrohstoffe zu reduzieren. Jedoch stellt das Vorhandensein von historisch-bedingten Verunreinigungen in Form bestimmter Schadstoffe eine Herausforderung für die Steigerung zukünftiger Rezyklateinsatzquoten dar. Anhand einer Analyse regulatorischer Rahmenbedingungen wurden etwa 680 Stoffe identifiziert, die in PVC-Anwendungen im Bausektor eingesetzt wurden und werden. Der Einsatz von 188 dieser Stoffe wird bereits durch die EU-POP-Verordnung, REACH oder die CLP-Verordnung reguliert. Beispiele für solche Stoffe, die früher als Additive in PVC eingesetzt wurden, sind blei- und cadmiumhaltige Stabilisatoren sowie der Weichmacher DEHP. Aufgrund der langen Lebensdauern von Bauprodukten werden diese Schadstoffe auch in den nächsten Jahrzehnten in relevanten Konzentrationen im PVC-Abfall enthalten sein. Sofern die Abfälle einem mechanischen Recycling ohne Schadstoffabscheidung zugeführt werden, gelangen die Schadstoffe dadurch auch in neue Produkte. Vor diesem Hintergrund werden neue Abfallbewirtschaftungskonzepte und Technologien für relevante Abfallströme benötigt, um saubere Materialkreisläufe zu gewährleisten und Rezyklateinsatzquoten in neuen Produkten zu erhöhen. Im Rahmen des Forschungsprojekts IMMEC wird das vorgestellte PVC-Modell um weitere Anwendungsfelder und Polymere ergänzt und anhand von Szenarioanalysen untersucht, welche Auswirkungen Restriktionen auf zukünftige Schadstoffgehalte in Kunststoffabfällen aus dem Baubereich haben werden und wie diese ressourceneffizient und umweltfreundlich verwertet werden können.
Danksagung
Die Publikation wurde im Rahmen des Forschungsprojekts IMMEC erstellt, welches durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG – Projektnummer 490612391) und den Luxembourg National Research Fund (FNR – 2021 CORE Call) gefördert wird. Die Autor:innen danken allen involvierten Expert:innen für die Bereitstellung von Daten und weiteren Informationen zur Nutzung von PVC im Bausektor. Im Weiteren danken die Autor:innen Gregor Dürl und Bruno Domange für die Unterstützung bei der Probenahme und Durchführung von experimentellen Arbeiten im Rahmen des Projektes.
Interessenkonflikt
S. Schmidt, X.-F. Verni, L. Aguirre Molina, A. Biwer, T. Gibon und D. Laner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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