In diesem Kapitel werden Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung (10.1) und auf die Förderung politischer Urteilsbildung durch außerschulische Begegnungen im Kontext nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen (10.2) gezogen sowie ein Ausblick auf weiterführende Forschung (10.3) gegeben. Die im Rahmen der Einleitung aufgestellten vier Zielperspektiven werden in diesem Zusammenhang aufgegriffen.
In diesem Kapitel werden Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung (10.1) und auf die Förderung politischer Urteilsbildung durch außerschulische Begegnungen im Kontext nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen (10.2) gezogen sowie ein Ausblick auf weiterführende Forschung (10.3) gegeben. Die im Rahmen der Einleitung aufgestellten vier Zielperspektiven (siehe Abschn. 1.2) werden in diesem Zusammenhang aufgegriffen.
10.1 Konsequenzen für die Konzeptualisierung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung
Die Gesellschaft und so auch die verschiedenen Bildungskontexte sind dabei, Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit zu finden. Die Klimakrise stellt ein epochales Schlüsselproblem dar, dessen Herausforderung darin besteht, sowohl nicht-nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweisen zu überwinden als auch neuartige und in ihrer Effektivität oftmals ungewisse Wege zu beschreiten. Obwohl diese Fragen das Politische im Kern treffen, indem die Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten im Zentrum steht, liegen noch wenige Beiträge an der Schnittstelle zwischen Politischer Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung vor. Nachfolgend werden Überlegungen formuliert, die aus den Ergebnissen der Interventionsstudie und der Interviewstudie resultieren und zur Theoriebildung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung beitragen können. Dabei ist die Frage leitend, wie den Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung pädagogisch und didaktisch sowie auch institutionell und strukturell begegnet werden kann.
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Schlussfolgerungen im Hinblick auf einen disziplinübergreifenden Beitrag zur Nachhaltigkeitsbildung. Nachhaltigkeitsbildung stellt einen fächerübergreifenden schulischen Lernbereich dar, zu dem alle Unterrichtsfächer entsprechend ihrer domänenspezifischen Weltzugänge einen Beitrag leisten können (KMK & BMZ, 2016). In einer die Fachdiskurse zwischen Politischer Bildung und BNE vermittelnden Herangehensweise konnte in der vorliegenden Arbeit herausgestellt werden, dass gerade die Politische Bildung für den Umgang mit gesellschaftsbezogener Komplexität, die den Lernbereich charakterisiert, theoretisch-konzeptionelle Antworten bereithält. In der lernenden Auseinandersetzung müssen vielschichtige Informationen integriert, bewertet und in potenziell handlungsleitende Urteile überführt werden. Die Komplexität stellt im Kontext der Nachhaltigkeitsbildung nicht nur ein Wissensproblem dar, sondern birgt vor allem ethische und politische Herausforderungen (Block et al., 2019). Politische Bildung in der Schule ist vor allem jenseits der gymnasialen Oberstufe dazu angehalten, eine politische und orientierende Grundbildung zum Zwecke der politischen Selbstbestimmung zu ermöglichen und kann daher nicht nur als wissenschaftliches Propädeutikum konzeptualisiert werden. Bedingungen der Ungewissheit, Kontingenz und des Nicht-Wissens sind auch in demokratietheoretischer Perspektive zwangsläufig ein integraler Bestandteil einer Demokratie: Das demokratische Subjekt bleibt notwendigerweise und im besten Sinne ein dilettantisches Subjekt (Reichenbach, 1999, S. 340–374 und S. 442–461). Für einen domänenspezifischen, gesellschaftswissenschaftlichen Zugang zur Nachhaltigkeitsbildung ist daher ein pluralistischer Ansatz (Öhman & Östman, 2019) angezeigt. Der Dissens um das Konzept der Nachhaltigkeit (Kehren, 2022) sowie die strukturellen Konflikte zwischen Interessen, Werten und Ideen bzw. Ideologien stellen das Fundament einer politischen Urteilsbildung dar, das es gilt, in die schulischen Lernsituationen hineinzuholen. Der Dissens tangiert dabei nicht die Frage, ob es den Klimawandel gibt, sondern vermehrt diese: Unter welchen Bedingungen, mit welchen Folgen für wen, mithilfe welcher politischer Maßnahmen und kollektiver Praktiken kann den „globalen Vielfachkrisen“ (Inkermann & Eis, 2022) einer nachhaltigen Entwicklung begegnet werden?
Es zählt zu den größten Aufgaben der schulischen Bildung, die Komplexität nachhaltigkeitsbezogener Lerngegenstände abzubilden und didaktisch aufzubereiten. Die Schüler*innen sind dazu zu befähigen, die problem- und konflikthaltigen Sachverhalte in ihren strukturellen Bedingungen und komplexen Zusammenhängen zu verstehen und an den gesellschaftlichen Diskursen zu partizipieren. Dies stellt auch Lehrkräfte vor Herausforderungen. Es ist anzunehmen, dass eine in der Bildungspraxis zu beobachtende Verkürzung auf Verhaltensänderung und das unzureichende Vordringen zum Politischen auch das Ergebnis fachlicher Unsicherheiten von Lehrkräften sind (Wohnig, 2021; für eine empirische Betrachtung siehe Weselek & Wohnig, 2020).
In der Entwicklung von innovativen Bildungsformaten und bei der Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen ist der cognitive load zu berücksichtigen, denn komplexe Sachverhalte können Reaktanz, vermeidendes Verhalten und Überforderung auslösen (siehe Abschn. 2.4.3; Sweller et al., 2011). Die Stoffkomplexität kann nicht einfach reduziert werden, ist doch ein Umgang mit ihr innerhalb des Lernbereichs explizit einzuüben. Stattdessen gilt es, Komplexität gesellschaftspolitischer Problemstellungen lernwirksam zu inszenieren und zu elementarisieren, wie es in der vorliegenden Arbeit exemplarisch umgesetzt wurde. Hieraus ergibt sich eine zunehmende Bedeutung fachdidaktischer Strukturierungen und ihrer Übersetzung in konkrete, auch fächerübergreifend angelegte Lerngelegenheiten (Lipowsky, 2020). Einschlägige und etablierte Verfahrensweisen der Politischen Bildung könnten diesbezüglich eine orientierende Hilfestellung für Lehrkräfte und Bildungsakteur*innen benachbarter Fächer und Disziplinen bei der Konzeption von schulischen und außerschulischen Bildungsangeboten sein. Wie in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der Problemstudie erprobt, kann in der didaktischen Gestaltung komplexer Lerngegenstände auf die politikdidaktischen Prinzipien, fachspezifischen Makromethoden sowie Kontrovers- und Analyseverfahren zurückgegriffen werden. Inhaltsfelder einer politischen Nachhaltigkeitsbildung können anhand der Charakteristika komplexer Problemstellungen (Dörner & Funke, 2017), der Kategorien einer problem- und konfliktorientierten Didaktik (siehe dazu etwa Reinhardt, 2022) sowie der soziopolitischen Grundfragen (Petrik, 2013b) erschlossen und (fach-)didaktisch strukturiert werden. Entlang gesellschaftlicher Transformationsfelder lassen sich auf diese Weise fachbezogene und fächerübergreifende Projekte sowie weitere, auch experimentellere Lern- und Aktionsformate mit dem außerschulischen Umfeld konzipieren. Die Erkenntnisse, die innerhalb der vorliegenden Forschungsarbeit hervorgebracht werden konnten, zeigen, dass die angewandten didaktischen Zugänge Lernprozesse anzuregen vermochten, die für die politische Urteilsbildung von Bedeutung sind.
Schlussfolgerungen im Hinblick auf das Zusammenspiel von BNE und Politischer Bildung. Die Kontraste zwischen BNE und Politischer Bildung herauszuarbeiten, ist für die Theoriebildung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung durchaus lohnend, kann in der idealtypischen Gegenüberstellung aber Gefahr laufen, unterkomplexe Verständnisse der Fachdiskurse nur zu reproduzieren. Als spannender erweist sich die Frage danach, was die Fachdiskurse jeweils voneinander lernen können.
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Aus politikdidaktischer Perspektive und der kritischen Reflexion des BNE-Konzeptes ergeben sich zwei zentrale Konturen einer politischen Nachhaltigkeitsbildung. Zunächst stellen Nachhaltigkeitsthemen potenziell von einer Gesellschaft zu gestaltende public issues dar (Van Poeck & Vandenabeele, 2012). Damit geraten gesellschaftspolitische Ziel- und Interessenkonflikte in den Blick. Die Bedingungen des Handelns und die Verwobenheit ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Dimensionen in ihrer Bedeutung für das lernende Subjekt sind ein zentraler Ausgangspunkt. Ein breiter Nachhaltigkeitsbegriff ist für diesen domänenspezifischen Zugriff also zielführend. Darüber hinaus kann die Differenzierung von politischen Handlungsebenen zwischen dem Individuum, der Kommune, der Zivilgesellschaft, dem Staat und der internationalen Staatengemeinschaft herausgestellt werden. Eine Fokussierung auf individuelle nachhaltige Alltagspraktiken, wie sie in der BNE-Bildungspraxis festzustellen ist, ist aus einer politikdidaktischen Perspektive als ambivalent einzustufen, da sie eine Individualisierung und Pädagogisierung struktureller Probleme nach sich zieht (siehe Abschn. 2.3). Die Schule hat aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung ein reflexives Verhältnis zu den Formen von Agency bzw. Handlungsbefähigung einzunehmen, die in ihr vermittelt werden. Und somit ist der Appell an die Eigenverantwortung nicht als grundlegend problematisch zurückzuweisen, aber eben auch als normative Setzung und in ihrem politischen Charakter in Lernsituationen zu diskutieren. Die Entwicklung, Erprobung und Evaluation eines problem-, konflikt- und erfahrungsorientierten Zugangs im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte Anknüpfungspunkte und Limitationen aufzeigen (siehe auch Abschn. 10.2), die auch für den allgemeindidaktischen und erziehungswissenschaftlichen BNE-Diskurs von Interesse sind. Fachbeiträge aus der Politischen Bildung könnten dazu beitragen, dem Konzept einer nachhaltigen Entwicklung und BNE aus einer theoretisch-konzeptuellen „Krise“ (Moulin-Doos, 2020, S. 176) zu verhelfen.
Vor dem Hintergrund der theoretischen und empirischen Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit deutet sich die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Diskurse in der Politischen Bildung an. Fest steht, dass eine „Neuvermessung der politischen Bildung im Anthropozän“ (Friedrichs, 2021c, S. 45) diskutiert werden muss und rigide Konzeptionen zum politischen Lernen ebenso einer kritischen Reflexion zu unterziehen sind. Eine stärkere politische und auch sozioökonomische Ausrichtung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, die innerhalb dieser Arbeit hergeleitet wurde, kann nicht bei der Entfaltung und Analyse der Komplexität stehen bleiben. Insbesondere mit Blick auf die politische Urteilsbildung ist ein multipolares Abwägen (Kuhn et al., 2000) und Verharren auf der Ebene des Sachurteils gerade angesichts der Mehrperspektivität und Kontroversität verständlich, jedoch nicht das alleinige Ziel. In der Entwicklung der politischen Identität soll die erfasste Komplexität und Ambivalenz nicht als nur innere Zwiespältigkeit oder Unzulänglichkeit missverstanden werden, sondern als Konstituens der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einem pluralistischen System entdeckt werden. Hieraus kann eine politische Subjektivität und ein die Gesellschaft gestaltender Impetus erwachsen:
Die konstitutive Ambivalenz gesellschaftlicher Wirklichkeit ist dabei als Resultat politischen Urteilens kaum mehr als ein Trivialbefund. Sie sollte daher vielmehr den Ausgangspunkt dieses Urteilens darstellen, denn die »Ambivalenz« selbst ist auch eine strategische Position in den Transformationen des modernen »Selbst« und entscheidendes Medium ihrer Wirksamkeit (…). (Rößler, 2014, S. 91; H.i.O.)
Das übergeordnete Bildungsziel einer politischen Nachhaltigkeitsbildung lautet, mit der Komplexität handlungsfähig zu werden. Im Rahmen der Arbeit – vor dem Hintergrund kognitionspsychologischer Befunde – konnte gezeigt werden, dass ein rein kognitivistischer Zugang keine adäquate Pädagogik zu komplexen Nachhaltigkeitsthemen darstellen kann. Und insofern ist die Analyse mit dem Handeln und der Erfahrung zu kombinieren, um das Politische begreifbar werden zu lassen.
Die Öffnung der Schule in den gesellschaftlichen Nahraum und die Kooperationen mit außerschulischen, beispielsweise zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, wie sie im Kontext einer BNE praktiziert wird (siehe Abschn. 4.4), sollte auch auf dem Feld der Politischen Bildung stärker einbezogen sowie theoretisch und empirisch betrachtet werden (aktuelle Arbeiten tun dies: siehe u. a. Emde, 2022; Friedrichs, 2020; Kenner, 2021). Die Vorbehalte gegenüber affirmativen Varianten einer erfahrungs-, handlungs- und lebensweltorientierten Zugangsweise sind empirisch zu prüfen und ihnen ist didaktisch und situativ, etwa mittels einer entsprechenden schulischen Vor- und Nachbereitung, zu begegnen. Die Erkenntnisse der Interviewstudie liefern Hinweise auf ein Relevanz- und Resonanzerleben der Schüler*innen durch die außerschulischen Begegnungen, was die subjektive Bereitschaft zu einer elaborierten politischen Urteilsbildung unterstützen kann (siehe folgenden Abschnitt).
Ein Zusammenspiel zwischen Politischer Bildung und BNE gestaltet sich dann als lohnend, wenn sich die Diskurse ergänzen, ohne ineinander aufzugehen. Aus der Notwendigkeit eines umfassenden gesellschaftlichen Engagements zur Bewältigung der Klimakrise, ohne dabei einen instrumentellen Zugriff auf die Bildungssubjekte zu bemühen, ergibt sich gerade ein Bedarf an fach-, kontext- und themenspezifischen Zugängen. Ein one size fits all-Ansatz ist dabei fachlich nicht wünschenswert bzw. seriös zu meistern und mit Blick auf die Schüler*innen auch motivational nicht hilfreich. Damit verbunden ist auch ein Qualifizierungsbedarf von (angehenden) Lehrkräften. Die gesellschaftlichen Verschiebungen, die sich in den nächsten Jahren abzeichnen – etwa durch die zunehmende Dringlichkeit, das zunehmende Empfinden existenzieller Betroffenheit oder das Infragestehen von Privilegien –, werden für die Nachhaltigkeitsbildung bedeutsam und (noch proaktiv) zu gestalten sein.
10.2 Konsequenzen für die Förderung politischer Urteilsbildung zu nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellungen durch außerschulische Begegnungen
Im folgenden Abschnitt werden Konsequenzen für den theoretischen und konzeptuellen Forschungsdiskurs sowie für die pädagogische Praxis in schulischen und kooperierenden außerschulischen Bildungskontexten formuliert. Entsprechend der Zielperspektiven aus Abschnitt 1.2 wird zunächst auf die Förderung politischer Urteilsbildung eingegangen und darauffolgend die Verknüpfung von schulischen und außerschulischen Lernsituationen thematisiert.
Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Förderung politischer Urteilsbildung angesichts komplexer Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung. Die Forschungsarbeit hat sich mit der Frage befasst, wie Lehr-Lern-Situationen konzipiert und Politikunterricht gestaltet sein müssen, um politische Urteilsbildung von Jugendlichen zu komplexen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern. Auf Basis der empirischen Erkenntnisse, die in den Teilstudien generiert werden konnten, können theoretische und praktische Konsequenzen für die Förderung abgeleitet werden.
Der problem-, konflikt- und erfahrungsorientierte Zugang, der im Sinne einer pluralistischen Perspektive erprobt und evaluiert wurde, erwies sich in verschiedenen Hinsichten als lernwirksam im Sinne einer politischen Nachhaltigkeitsbildung, auch wenn dies weniger Ausdruck in gesteigerten Komplexitätsniveaus fand. Im Zuge der problem- und konfliktorientierten Auseinandersetzung zeigten sich in Ansätzen stärker strukturbezogene, politische Betrachtungsweisen, die als Erweiterungen der Bezugshorizonte interpretiert werden können.
Das theoretisch angenommene Potenzial, durch außerschulische Begegnungen Perspektivität und Kontroversität erfahrbar werden zu lassen, kann auf der Grundlage der empirischen Erkenntnisse bekräftigt werden. Die außerschulischen Begegnungen können Prozesse der politischen Urteilsbildung insofern fördern, als Perspektivenübernahmen angeregt, die Relevanz der verhandelten gesellschaftspolitischen Fragen erkannt, Resonanz im öffentlichen Nahraum verspürt und fachliche, strukturbezogene Schlussfolgerungen im Kontext der Thematik gewonnen werden konnten. Auch wenn die Perspektivenkoordination, etwa bezüglich der verschiedenen Akteur*innengruppen, weniger elaboriert erfolgte, zeigten sich dafür deutliche Selbstbezüge – in den Reflexionen innerhalb des Interviews glichen die Jugendlichen etwa ihre subjektiven Vorstellungen und Positionierungen mit dem Erfahrenen ab und hinterfragten ihre Erwartungshaltungen. Auch wenn in den Schlussfolgerungen der Jugendlichen eine Tendenz konstatiert wurde, nach der die Begegnungen meist in Übereinstimmung mit den subjektiven Vorannahmen enkodiert wurden, kann festgestellt werden, dass anspruchsvolle politische Sinnbildungen im Zuge der außerschulischen Begegnung angeregt werden konnten. Insofern eignet sich der besagte Zugang, so wie er im Rahmen der Themenstellung und des Unterrichtsansatzes exemplarisch untersucht wurde, zur Förderung politischer Urteilsbildung. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass Modifizierungen der didaktischen Intervention und spezifische Steuerungen innerhalb der Vor- und Nachbereitung das fördernde Potenzial weiter ausschärfen können. Denn die didaktischen Herausforderungen, die sich für das Lernen und Urteilen aus der Komplexität ergeben, bestehen darin, Urteilsheurisiken und kognitiven Strategien der Komplexitätsreduktion zu begegnen, gewissermaßen auszuhebeln und kognitive Konflikte zu evozieren. Die Befunde der Studie veranschaulichen die Schwierigkeiten einer elaborierten Urteilspraxis angesichts der kognitiven Tendenz, sich in seiner eigenen Sichtweise vor allem bestätigt zu sehen.
Um Prozesse der politischen Urteilsbildung im Lichte komplexer, kontroverser und ambivalenter Sachverhalte zu unterstützen, ist ein selbstreflexiver Bildungsansatz, in der eine Analyse und Reflexion subjektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bzw. -horizonte angeregt wird, zu empfehlen. Zwar besteht Grund zur Annahme, dass das Lernen in außerschulischen Kontexten jene Muster und Überzeugungen gewissermaßen aktivieren kann; zugleich werden diese aber durch die Integration in den Fachunterricht der Analyse zugänglich und besprechbar. Die Ergebnisse der Interviewstudie konnten Hinweise dahingehend generieren, dass die außerschulischen Begegnungen die selbstreflexive Haltung zur eigenen Urteilspraxis stärken können. Insofern kann dem außerschulischen Lernen auch eine besondere Bedeutung im Kontext einer emotionssensiblen Politischen Bildung und BNE zugewiesen werden (Grund & Singer-Brodowski, 2020; Weber-Stein, 2017). Die übergreifende Frage im Kontext des Lernbereichs danach, wie das lernende Subjekt mit Ungewissheit, Widersprüchlichkeit und Ambiguität umgehen und dennoch orientiert und handlungsfähig sein kann, benötigt eine produktive Auseinandersetzung mit den subjektiven Prägungen, die im Kontext transformativer Bildungsprozesse bedeutsam sind. Zur Förderung einer politischen Urteilsbildung, in der „die Ausbildung handleitenden politischen Wissens [begünstigt]“ (Weber-Stein, 2017, S. 69) wird, gilt es Lerngegenstände an Erfahrungen und Emotionen rückzubinden, um urteilerelevante Selbst- und Weltverhältnisse überhaupt zu tangieren und potenziell zu erweitern (Koller, 2018).
Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Verknüpfung schulischer und außerschulischer Lernsituationen. In der theoretischen Anlage der Arbeit wurde aufgezeigt, dass das außerschulische Lernen insbesondere im Kontext der Nachhaltigkeits- aber auch Demokratiebildung vermehrt Aufmerksamkeit erhält (siehe Abschn. 4.4). Bildungspolitisch wird eine stärkere Zusammenarbeit mit außerschulischen Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft in der Bildungsarbeit explizit angestrebt (KMK, 2016; Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2017). Nicht nur zu Themen der Klimakrise, sondern auch zu anderen drängenden Fragestellungen der Gegenwart, wie etwa Digitalisierung, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Inklusion, erscheint die Öffnung der Schule in die Gesellschaft und möglicherweise auch die Öffnung der Gesellschaft für das schulische Lernen als notwendig, um dem transformativen und partizipativen Charakter, der von den Themenfeldern ausgeht, gerecht zu werden. Begegnungen mit der außerschulischen Wirklichkeit können die Exploration von Expertisen, Betroffenheiten und Bedeutsamkeiten ermöglichen. Dabei ist eine Kontextualisierung in Lern- und Entwicklungsprozesse im Rahmen schulischer Bildungsprozesse voraussetzungsvoll und eine ‚bloße‘ Einbettung in Wandertage nicht ausreichend. Die Befunde der Forschungsarbeit zeigen, dass das Verhältnis zwischen den Bildungsinstitutionen und der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft didaktisch-theoretisch zu bestimmen und praktisch zu gestalten ist. Hierin besteht ein zentraler Entwicklungsprozess, den es auch im Kontext regionaler Bildungslandschaften zu beleuchten und reflektieren gilt (Komorek & Sajons, 2021).
Welche Rolle können Stakeholder aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft in der Bildungspraxis einnehmen – bzw. welche soll ihnen aus bildungswissenschaftlicher Perspektive zugewiesen werden? Aus der Perspektive einer pluralistischen Nachhaltigkeitsbildung verfügen außerschulische Begegnungen über das Potenzial, Prozesse der politischen Urteilsbildung zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse der vorliegenden Studie kann der Schluss gezogen werden, dass dieses Verhältnis zwischen Schule und außerschulischen Akteur*innengruppen didaktisch gestaltet werden kann und sollte. Akteur*innen argumentieren perspektivgebunden und beurteilen sehr unterschiedlich, was als zukunftsfähig gelten kann. Schüler*innen sehen sich in ihrer Sichtweise und Positionierung vielfach bestätigt; in den rekonstruierten Sinnbildungen der Jugendlichen fungiert das außerschulisch Erfahrene als subjektive Evidenz. Damit Verknüpfungen schulischer und außerschulischer Lernsituationen auch die intendierten Lernprozesse anzuregen vermögen, sind die Verstehensprozesse zwischen Induktion und Deduktion explizit anzusprechen. Das Entwickeln eines Erkenntnisinteresses mit der Lerngruppe vor und die fachliche Reflexion nach der außerschulischen Begegnung sind erforderlich, um die vermeintliche Unmittelbarkeit der außerschulischen Erfahrungen einzufangen und durch Abstraktionsprozesse fachlich rückzubinden. Eine stärkere metakognitive Ausrichtung des initiierten Lernens, etwa durch die Integration selbstreflexiver Elemente zur subjektiven Urteilsbildung, sowie auch die Initiierung von Aushandlungsprozessen unter den Lernenden über das außerschulisch Gehörte und Gesehene, um bestenfalls auf diese Weise die intersubjektive Kontroversität bereits in der Wahrnehmung zu entdecken, könnten sich im Hinblick auf die politische Urteilsbildung als lernwirksam erweisen.
10.3 Konsequenzen für die weiterführende Forschung zur Förderung nachhaltigkeitsbezogener politischer Urteilsbildung
Durch die Umsetzung eines zweistufigen Forschungsdesigns entsprechend der zwei differenzierten Forschungsperspektiven auf Urteilen als Expansion und Sinnbildung (siehe Abschn. 3.5) konnten anwendungsorientierte und sich in ihrer Aussagekraft ergänzende Erkenntnisse über die Förderung nachhaltigkeitsbezogener politischer Urteilsbildung generiert werden. Aus den unterschiedlichen Forschungszugängen ergeben sich auch unterschiedliche Potenziale für zukünftige Untersuchungen.
Die Kombination aus problem-, konflikt- und erfahrungsorientierten Elementen in einer Lerneinheit erwies sich für die Förderung nachhaltigkeitsbezogener politischer Urteilsbildung in verschiedenen Hinsichten als lernwirksam. Um zu einer umfassenderen Einschätzung der didaktischen Anregungspotenziale zu kommen, müsste die Studie in Zukunft mit einer größeren Stichprobe repliziert werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrung im schulischen Umfeld und der motivationalen Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der offenen Items (insbesondere der Argumentationsaufgabe) könnte es sich als sinnvoll erweisen, die Erhebungsinstrumente der Interventionsstudie zu modifizieren und motivationale Anreize in einem forschungsethisch vertretbaren Rahmen zu schaffen. Es ist bisher unklar, inwieweit sich der Unterrichtsansatz auf die aufgabenbezogene Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen auswirkt. Ein signifikanter Lernfortschritt zwischen dem ersten und zweiten Messzeitpunkt und damit einhergehende inferenzstatistische Analysen konnten nicht errechnet werden; stattdessen wurden Entwicklungen in einem angepassten induktiven Auswertungsverfahren qualitativ exploriert. Hieran kann zukünftige Forschung anschließen. Die sich andeutende Diskrepanz zwischen der limitierten Datenbasis des Prä-Post-Designs und den komplexen Reflexionen innerhalb der episodischen Interviews könnte damit erklärt werden, dass sich das Problem auf der Ebene der Performanz und nicht der Kompetenz befindet. Insofern kann es zur Erhebung komplexer Konstrukte wie der politischen Urteilsbildung forschungsmethodisch sinnvoll sein, die Schüler*innen in Interviews mit themenspezifischen Anforderungssituationen zu konfrontieren, um sie zu einer offenen Analyse und vorläufigen Stellungnahme anzuregen (siehe das Vorgehen von Marchand, 2015). Gegenwärtige Bestrebungen, ein theoretisches und operationalisierbares Konstrukt zu präzisieren und zu validieren (May et al., 2020), könnten sich mit Blick auf eine stärker deduktiv ausgerichtete Auswertungsstrategie dafür als hilfreich erweisen. Auf diese Weise wären dann auch quasi-experimentelle Forschungsdesigns möglich, in denen ein Vergleich zu einer Stichprobe unternommen wird, die eine Lerneinheit ohne problem-, konflikt- und erfahrungsorientierte bzw. eine andere didaktische Ausrichtung erhalten hat.
Auch die Hinweise auf die relative Stabilität der themenspezifischen Schüler*innenvorstellungen und Positionierungen in den inhaltlichen Bezügen sowie das kaum veränderte Komplexitätsniveau (siehe Abschn. 7.2.2 zu den „Besonderheiten der Urteilsentwicklung“) geben Anlass für weitere Untersuchungen. Es wurde argumentiert, dass die Wirksamkeit von Urteilsheuristiken angesichts komplexer Sachverhalte wahrscheinlich ist und didaktisch eine Herausforderung darstellen kann. In zukünftigen Untersuchungen könnten didaktische Interventionen entwickelt werden, in denen verschiedene Elemente einer systematischen Urteilsentwicklung noch gezielter gefördert werden. Hierfür können Erkenntnisse aus Studien Anwendung finden, in denen die Förderung argumentativer Lehr-Lern-Prozesse untersucht wurde (siehe etwa Gronostay, 2016; 2017; 2019). Es wäre außerdem lohnenswert, in weiterführenden Studien den Einfluss selbstreflexiver Ansätze auf das themenspezifische Selbstkonzept bezüglich des Umgangs mit komplexen nachhaltigkeitsbezogenen Fragestellungen zu untersuchen.
Die vorliegende Studie hat Hinweise geliefert, dass das außerschulische Lernen den Jugendlichen einen selbstreflexiven Blick auf ihre eigene politische Urteilsbildung ermöglichen kann. Ein außerordentliches Potenzial für weiterführende Studien wird daher in der empirischen Untersuchung von Prozessen politischer Urteilsbildung in außerschulischen Lernsituationen gesehen. Die vorliegende Forschungsarbeit hat empirisch gezeigt, dass die außerschulischen Begegnungen über fachdidaktisch bedeutsame Anregungspotenziale verfügen, Betroffenheit und Bedeutsamkeit zu erleben, sowie Perspektiven und Argumente nachzuvollziehen. Die Reflexionen der Jugendlichen, die in den episodischen Interviews erhoben wurden, waren für die Analyse sehr ergiebig, sodass Erkenntnisse gewonnen wurden, inwiefern außerschulische Begegnungen die politische Urteilsbildung unterstützen können. Hieraus erwächst ein großes Potenzial für zukünftige Studien, die darauf abzielen sollten, das Relevanz- und Resonanzerleben der Jugendlichen und den Einfluss auf den Umgang mit Komplexität genauer zu untersuchen. Der Einsatz von reflective diaries (Tilley et al., 2009) könnte sich dabei als zielführend erweisen, um metareflexive Prozesse der politischen Urteilsbildung zu untersuchen und zu fördern. Die Proband*innen können dabei Impulse erhalten, um ihre Erfahrungen, Gedanken, Interpretationen und Schlussfolgerungen während einer Lerneinheit mit außerschulischen Begegnungen zu reflektieren. Hierdurch können auch Prozessdaten generiert werden und das Verhältnis von bestätigenden und den eigenen Erfahrungsdiskurs überschreitenden Verstehensprozessen in der Auswertung stärker in den Blick genommen werden. Auf diese Weise ließen sich konkrete Implikationen zur didaktischen Gestaltung von Lehr-Lern-Situationen ableiten, die wie erwähnt auch für eine subjektorientierte und emotionssensible politische Nachhaltigkeitsbildung bedeutsam sein können (Grund & Singer-Brodowski, 2020). Zudem kann angenommen werden, wie in Abschnitt 10.2 geschildert, dass die aufgefundenen Fallstricke (z. B. Tendenz zur selbstbestätigenden Decodierung) durch eine entsprechende schulische Vor- und Nachbereitung verstärkt produktiv gemacht werden können. Für zukünftige Studien ist damit nicht nur eine Übertragung auf andere Transformations- und Konfliktfelder und andere außerschulische Akteur*innen angezeigt, sondern auch die entwicklungsorientierte Erforschung von politischem Lernen in schulischen und außerschulischen Lernsituationen in ihrer Verknüpfung.
Insgesamt besteht ein weiterer Bedarf an theoretischen, didaktisch-konzeptionellen und empirischen Studien auf dem Feld der sich noch im Werden begriffenen politischen Nachhaltigkeitsbildung. Aus der zunehmenden Betonung der politischen Dimension in verschiedenen fachdidaktischen BNE-Forschungsdiskursen sowie aus der (bildungs-)politischen Forderung nach einer stärkeren Verschränkung von Politischer Bildung bzw. Demokratiebildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2020) erwächst ein Bedarf an anwendungs- und gestaltungsorientierter Forschung, auch im Lichte einer zunehmend politisierten heranwachsenden Generation (Wohnig, 2021). Es gilt die offenen Fragen zu klären, wie die politischen Zusammenhänge für Kinder und Jugendliche angesichts der Komplexität von Nachhaltigkeitsproblemen begreifbar werden, wie die Immanenz und Verwobenheit spätmoderner Lebensweisen analytisch durchdrungen und kritisch hinterfragt werden und wie Bildungsräume eröffnet werden können, in denen Frustration und Ohnmachtserleben aufgefangen, genauso wie die Lust am und Bereitschaft zum Diskurs und Handeln kultiviert werden.
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