2.1 Selbstmanagement
Selbstmanagement-Methoden leiten sich aus dem lernpsychologischen Paradigma ab und haben ihre Wurzeln in der kognitiven Wende der Verhaltenstherapie der 1970er Jahre. Eine exponierte Stellung nehmen dabei die Arbeiten von Kanfer (
1987; Kanfer et al.
2012) ein. In seiner Selbstmanagement-Therapie geht es Kanfer um die Steuerung von Verhaltenskonsequenzen zur Stärkung der Selbstkontrolle der Klient/innen. Durch Strategien der Selbstbeobachtung, der Selbstverstärkung, der Stimuluskontrolle, durch Kontrakte mit sich selbst und Techniken des Gedankenstopps werden Klient/innen dazu befähigt, aktuelle Probleme selbst zu analysieren, zu beeinflussen und dauerhaft zu verändern (vgl. Reimer et al.
2000, S. 246 f.).
Eine weitere Anwendung findet der Selbstmanagement-Begriff im Arbeitskontext. „Berufliches Selbstmanagement fokussiert auf eigenständiges Denken und Handeln im Rahmen vorgegebener Aufgaben, Tätigkeitsinhalte oder Leistungsziele“ (Müller
2003, S. 174). Es umfasst die bewusste Steuerung der auf die Bewältigung von Arbeitsanforderungen gerichteten Handlungen (Planen, Koordinieren, Delegieren, Entscheiden u. a.) und schließt das Zeitmanagement ein (vgl. Furtner und Baldegger
2016, S. 61). Die Nutzung des Selbstmanagement-Begriffs in der Arbeitswissenschaft und der Betriebswirtschaft führt dazu, dass die ursprüngliche theoretische Orientierung und der Methodenkanon in den Hintergrund treten. Der Selbstmanagement-Ansatz wird zunehmend mit Ideen von zukunftsfähigem und erfolgreichem Führungsverhalten und mit Methoden zur Arbeitsplanung und zum Zeitmanagement angereichert. In der Literatur finden sich häufig ein Selbstmanagement-Verständnis, das Pscherer (
2015, S. 7) als ein „Sammelsurium aus psychologischen und betriebswirtschaftlichen Optimierungsstrategien“ beschreibt.
Voraussetzung für ein effektives Selbstmanagement ist die aktive Selbstbeobachtung, das Bewusstsein der eigenen Ziele, die Fähigkeit zur systematischen Förderung der Eigenmotivation, eine realistische Selbsteinschätzung und die Fähigkeit zur Aktivierung von persönlichen und sozialen Ressourcen. In diesem Sinn handelt es sich um eine Metakompetenz, die sich durch die Anwendung von Erkenntnissen aus der Lern‑, Motivations‑, Emotions- und der kognitiven Psychologie trainieren lässt. Bei der Optimierung von Handlungsabläufen stehen die quasi objektivierbaren personenunabhängigen Aspekte der Prozesssteuerung im Mittelpunkt. Damit ist das Risiko der Nichtbeachtung von Überforderungssituationen, der Selbstausbeutung und des beruflichen Burnouts verbunden (Pscherer
2015; Müller et al.
2018, S. 86 f.).
2.2 Selbstführung
Kompetenzen zur Selbstführung werden bereits in fernöstlichen Philosophien, z. B. im Daoismus, Konfuzianismus, im Buddhismus, und im Christentum thematisiert (vgl. Janssen und Grün
2017, S. 31). Selbstführung (Self-Leadership) in seinem aktuellen arbeitspsychologischen Verständnis weist eine Schnittmenge zum Selbstmanagement auf. Furtner und Baldegger (
2016, S. 61 f.) ordnen das von Manz (
1986) entwickelte Konzept der Selbstführung als darüberhinausgehend ein, da dies eine systematische Steuerung von kognitiven, emotionalen und motivationalen Faktoren zur Weiterentwicklung der Selbstführungskompetenz einschließt (vgl. Manz
2015).
Die bewusste oder reflektierte Selbstführung umfasst folgende Teilprozesse:
-
die Selbstbeobachtung, d. h. die möglichst vorurteilsfreie Betrachtung der tatsächlichen eigenen Leistungsmöglichkeiten, eigener Bedürfnisse und Verhaltensgewohnheiten (Müller
2003, S. 183 ff.),
-
die Willenssteuerung, d. h. die Fokussierung und Verstärkung der Vorsatzbildung, das Setzen von Prioritäten, die systematische Handlungsplanung und den Abbau von Überkontrolle (vgl. Müller et al.
2018, S. 42 ff.),
-
die Gefühlsregulation, diese schließt Strategien der Umbewertung von als aversiv erlebten beruflichen Situationen und die rückwirkende Beeinflussung der Emotionen durch den Körperausdruck ein (Furtner und Baldegger
2016, S. 86 f.),
-
die Selbstmotivierung, d. h. die Person beeinflusst ihr Arbeitsverhalten durch Leistungsanreize und natürliche Belohnungsstrategien in der Arbeitsausführung selbst (Furtner und Baldegger
2016, S. 79 f.),
-
die Entwicklung einer proaktiven Denkhaltung, d. h. die Verstärkung des für die Selbstführung günstigen Chancen-Denkens (Probleme als Herausforderung betrachten, eigenen Fähigkeiten vertrauen, Hindernisse als überwindbar betrachten u. a.) (s. Müller und Braun
2009, S. 66 f.).
Neben der bewussten reflektierten Selbstführung sind Anteile der unbewussten (latenten) Selbstführung in Form von Handlungsroutinen und spontanen emotionalen Impulsen bedeutsam (Müller et al.
2018, S. 8 ff.). Es besteht ein Spannungsfeld von Impulsivität (eng verbunden mit den unbewussten Anteilen der Selbstführung) und bewusstem kontrolliertem Handeln. Storch und Krause (
2017, S. 121 f.) sehen darin ein dynamisches Wechselspiel zwischen den unbewussten Persönlichkeitsanteilen, Erfahrungsinhalten und den bewussten Verstandesprozessen, in dem beide Systeme in mehreren Rückkopplungsschleifen (im Erfolgsfall) auf das gleiche Ziel hin ausgerichtet werden. Die/der Autor/in haben diese Erkenntnisse im „Züricher Ressourcen Modell“ systematisiert und dazu ein verhaltensorientiertes Trainingsmanual entwickelt (Storch und Krause
2017).
Selbstführung erhält seine Bedeutung als notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Führung. „Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen“ (Janssen und Grün
2017, S. 31). Dies schließt die Vorbildfunktion einer Führungskraft, die zielorientierte Planungs- und Entscheidungskompetenz, die Selbstmotivierung in herausfordernden Arbeitssituationen und die sozial-kommunikativen Fähigkeiten im Kontakt mit Mitarbeiter/innen, Vorgesetzen, Auftraggeber/innen und Kund/innen ein. Bensmann (
2019) beschreibt den Stellenwert von Selbstführung darüber hinaus im Kontext der beruflichen Karriereplanung (neben der personalen Selbstführung findet sich in der Literatur auch der Begriff der organisationalen Selbstführung im Sinne von Selbstorganisation von Teams oder ganzen Organisationen; s. Müller et al.
2018, S. 94 ff.).
Theoretische Bezüge bestehen zur humanistischen Psychologie. Ziel der Selbstführung ist danach ein mit dem persönlichen Wertesystem der Führungskraft übereinstimmendes Führungsverhalten. Im Paradigma der humanistischen Psychologie bildet die Selbstverwirklichung als menschliches Grundbedürfnis die zentrale Zielgröße der Entwicklung. Im Unterschied zum Selbstmanagement, das auf die (technisch-methodische) Optimierung von Arbeitsabläufen gerichtet ist, zielt Selbstführung (in diesem Sinne) auf die der Persönlichkeit entsprechende Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitstätigkeit gemäß eigenen Zielen, Visionen und persönlichen Voraussetzungen (Müller und Braun
2009, S. 13 f.). Angestrebt wird dabei eine vergrößerte Identifikation mit den Arbeitsinhalten, die Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung und der Arbeitszufriedenheit.
Als weitere theoretische Begründung sind die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (
1988), das Rubikon-Modell der Verhaltenssteuerung (Heckhausen und Gollwitzer
1987) und die Sozial-kognitive Theorie von Bandura (
1986) zu nennen. Die Selbstbestimmungstheorie zielt auf die Erklärung der Herausbildung und Aufrechterhaltung von intrinsischer Motivation, das Rubikon-Modell auf die Beschreibung der relevanten Prozessschritte von der Intentionsbildung (Abwägungsphase) bis zur Evaluation der Handlung (Bewertungsphase), und die Sozial-kognitive Theorie erklärt die für eine dauerhafte Verhaltensänderung bedeutsamen Lern‑, Denk- und Verstärkerprozesse (s. Furtner und Baldegger
2016, S. 63 ff.).
Die Weiterentwicklung der Selbstführungskompetenz schließt drei Ebenen ein:
1.
Selbstveränderung (Selbstbeobachtung, sozial-emotionales Lernen, kognitives Umstrukturieren u. a.),
2.
Kontextgestaltung (Gestaltung des Arbeitsplatzes, des Teamkontextes u. a.),
3.
Kontextwechsel (Suche nach einem veränderten Aufgabenfeld, Wechsel der Arbeitsstelle u. a.) (Müller et al.
2018).
Eine Gefahr der unreflektierten Anwendung des Begriffs Selbstführung besteht darin, dass dieser individualistisch überhöht wird, d. h. dass die Quellen der Selbstführung ausschließlich in den persönlichen Fähigkeiten, Kompetenzen und der Eigenmotivation als Ressource für das eigene Führungsverhalten gesehen werden. Seliger (
2008, S. 42 f.) betont die Notwendigkeit zur Balance zwischen Selbstführung, Mitarbeiter/innenführung und Führung der Organisation. Insbesondere betrifft dies das Abwägen zwischen den Ansprüchen der Organisation und der Perspektive der Mitarbeiter/innen. Beide Zielgrößen stehen bei der Selbstführung in einem Spannungsverhältnis. Auch braucht es eine Betrachtung der Passung der Form der Selbstführung mit dem organisationalen Kontext und den relevanten Kooperationspartnern.
Hierzu ein Fallbeispiel: Günther H. leitet eine Organisation mit 70 Mitarbeiter/innen. Als erfahrene Führungskraft ist sein Selbstbild mit Tatkraft, Engagement und Achtsamkeit im Führungshandeln verbunden. Die Mitteilung einer Mitarbeiterin, dass sie seinetwegen die Organisation verlasse, und ein Feedback von übergeordneter Stelle mit ähnlichem Inhalt bringen sein Selbstbild ins Wanken. Er nimmt sich die Worte „sehr zu Herzen“. Im Coaching überwiegen anfangs starke Selbstzweifel und eine Verunsicherung, wie sein ideales Selbstbild einer Führungskraft, die mit kritischen Situationen gut umgehen könne, so sehr mit der Außenwahrnehmung als auch dem real erlebten Selbstbild auseinanderklaffen konnte. Durch die Unterscheidung von berechtigter Kritik an seinem Entscheidungsverhalten und unsachlicher Kritik stabilisiert er sich. Er erkennt, dass er seinen Führungsfokus bislang darauf gelegt hat, besser zu sein als alle anderen, und dass er aus mangelndem Vertrauen in andere Personen Entscheidungen oft allein fällte. Sein innerer Antreiber, ständig beweisen zu müssen, dass er der Beste sei, hatte ihn in eine Art Beziehungslosigkeit und Einsamkeit geführt. Er gesteht sich ein, dass sein bisheriger Weg, sich selbst über eine imaginäre Peitsche zu führen, nicht nur ihn, sondern zunehmend auch seine Familie und seine Kinder „krank mache“.
In der selbstfürsorglichen Hinwendung kann er sich zunehmend die Erlaubnis geben, zu entschleunigen und neue Wege des Selbstvertrauens zu finden, die nicht auf Leistung beruhen. Er wendet sich mit Selbstmitgefühl (vgl. Neff
2012) alten Gefühlen von Einsamkeit, Angst und Beschämung zu, lernt diese Gefühle und dahinterliegende Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Eingebundensein wahrzunehmen: „
Mich selbst zu führen, heißt für mich im Besonderen: Mich selbst zu fühlen!“ Durch diese Erkenntnisse erlebt er seinen Arbeitsalltag zunehmend als anstrengungsfreier und kann sich vermehrt auf die Mitarbeiter/innen fokussieren und deren Sichtweisen schätzen, statt seinem inneren Leistungsdruck zu folgen: „Vor lauter Prozessgestaltung hatte ich die Menschen vergessen.“
Das Konzept der Selbstführung wäre verkürzt wiedergegeben, wenn dies nicht auch auf Fragen der Beziehung zwischen beruflichem Handeln und anderen Lebenssphären angewendet wird (Müller et al.
2018, S. 129 ff.). Die Überidentifikation mit der beruflichen Aufgabe und seinen Projekten birgt die Gefahr, sich von der Selbstführung wegzubewegen und sich der Arbeitslogik zu unterwerfen.
Die Aneignung von Selbstführungsstrategien ist im Kontext von Trainings evaluiert worden. Furtner (
2018, S. 1 ff.) verweist auf Studien in verschiedenen Arbeitsfeldern, die belegen, dass Trainingsgruppen eine Steigerung der mentalen und geistigen Leistungsfähigkeit, positiver Emotionen, der Arbeitszufriedenheit und der Selbstwirksamkeit erbringen (s. auch Müller et al.
2018, S. 76 ff.).
2.3 Selbstfürsorge
Fragen der psychischen Gesunderhaltung (Psychohygiene) sind eng mit der Entwicklung der Psychotherapie und der Professionalisierung helfender Berufe verbunden. Diese Erkenntnisse trugen wesentlich zur Entwicklung der Supervision bei (Belardi
2020) und wurden in einem erweiterten theoretischen Rahmen im Begriff der
Interaktionsarbeit diskutiert (Büssing und Glaser
1999; s. auch Balz und Spieß
2009, S. 72 ff.). Selbstfürsorge zielt auf die Bearbeitung und Bewältigung berufsbedingter physischer und psychischer Belastungen, auf Burnout- und Krankheitsprävention (Zito und Martin
2021; Hoffmann und Hoffmann
2020), auf den Verzicht auf Verhalten, das der eigenen Person schadet (z. B. überlange Arbeitszeiten, Suchtmittelgebrauch), auf die Vermeidung negativer Rückwirkungen auf die Beratung/Therapie (Überidentifikation, Gereiztheit, Unsicherheit u. a.) sowie auf die „Erhaltung und Förderung von Neugierde, Interesse und Freude“ (Hoffmann und Hoffmann
2020, S. 28) in der Berufsausübung.
Dahl (
2019, S. 69 f.) sieht in der Selbstfürsorge die Integration von drei Aspekten: „sich selbst liebevoll und wertschätzend zu begegnen, das eigene Befinden und die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und aktiv zum eigenen Wohlergehen beizutragen.“ Diese schließen Aspekte körperlicher, emotionaler, kognitiver, sozialer und spiritueller Selbstfürsorge ein. Selbstfürsorge braucht einen festen Platz im Bewusstsein im Sinne einer Grundhaltung (Dahl
2019, S. 70). Dies umfasst neben der Selbstaufmerksamkeit die Aufmerksamkeit für die sich verändernden Arbeitsbedingungen und -inhalte.
Es liegen zahlreiche Ratgeber und Trainingsprogramme zur Selbstfürsorge vor (z. B. Hoffmann und Hoffmann
2020; Zito und Martin
2021; Dahl
2018; Holzrichter
2016). Eine besondere Bedeutung wird darin der Selbstreflexion beigemessen. Das schließt die Selbstbeobachtung eigener Emotionen, Körperempfindungen und Handlungsimpulse, die Auswertung von Belastungserleben und -bedingungen sowie die Analyse eigener Glaubenssätze ein. Daneben richtet sich Selbstfürsorge auf das eigene aktive Handeln. Zur konkreten Planung gehört es, den eigenen Arbeitsalltag auf Chancen zur selbstfürsorglichen Umgestaltung zu prüfen, konkrete Verhaltensschritte zu planen, dabei auch die berufliche Kommunikation und die Arbeitsregeln zu modifizieren sowie sich die Unterstützung durch vertraute Personen zu holen. Auch erfordert Selbstfürsorge ein längerfristiges Üben und ein gezieltes Einrichten von ritualisierten Reflexions- und Entspannungsräumen im Arbeitsalltag (Hoffmann und Hoffmann
2020).
Warum wird der Selbstfürsorge dennoch häufig wenig Aufmerksamkeit gewidmet? Hier ist auf ein Spannungsfeld der Selbstfürsorge mit weit verbreiteten Idealen der Erwerbsarbeit wie Hilfsbereitschaft, Tapferkeit, Engagement u. a. zu verweisen. Auch empfinden Personen schnell Schuldgefühle, wenn es darum geht, etwas für sich zu tun, da sie oft annehmen, dass andere in der Selbstfürsorge eine egoistische Selbstliebe sehen. Auch setzt Selbstfürsorge das Bewusstsein der eigenen Wichtigkeit und die Überzeugung voraus, dass sich das (berufliche) Leben durch Selbstfürsorge dauerhaft verbessern lässt und die Person selbst etwas dazu beitragen kann.
Ein Praxisbeispiel aus dem Coaching: Eine beruflich sehr engagierte und erfolgreiche Führungskraft in einer größeren Organisation hat zunehmend das Gefühl, in ein Burnout zu rutschen. Sie fühle sich immer für alles verantwortlich und arbeite von morgens bis abends. Die vielen äußeren Anforderungen, gepaart mit der Haltung eines inneren hohen Anspruchs, geben ihr das Gefühl, sich nur noch in einem Hamsterrad zu bewegen. Der anspruchsvolle, komplexe Führungsalltag sowie ihre familiären Aufgaben laugen sie zunehmend aus. Nur schwer kann sie sich eingestehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte ist. Dafür schämt sie sich – es passt nicht zu ihrem Rollen- und Selbstverständnis als erfolgreiche Frau.
Auf die Frage, welche alten gelernten Sätze ihr zu ihrer Arbeitsmentalität einfallen, sagt sie: „Es ist nichts zu viel“, „Schaue, dass es anderen gut geht“, „wenn man will, dann schafft man alles“, „Du hast kein Recht auf deine Bedürfnisse“. Ihre Lerngeschichte, die eigenen Bedürfnisse zu überhören und sich im Dienst für andere förmlich aufzuopfern, sitzt so tief, dass sie ihre Not zwar ausdrückt, aber nicht entsprechend handelt. Ihre stellvertretende Leitung ist hilflos – egal, wie oft sie ihr Unterstützung anbietet. Sie erwidert, dass sie das schon schaffe, und lehnt ihre Hilfe ab. Insgeheim jedoch spürt sie im Coaching den Impuls, von außen gerettet zu werden, ohne dies explizit formulieren zu müssen. Die Stellvertreterin zieht sich zunehmend zurück und wendet sich anderen beruflichen Prioritäten zu. Sie reagiert verletzt und fühlt sich zunehmend von den Menschen entfremdet. Erst durch die tiefe Angst ihrer Tochter, die weinend um ihr Leben bangt, erwacht sie. Diese mahnende Situation wird zur dringenden Einladung, ihr automatisiert ablaufendes Aufopferungsmuster zu verändern.
Die Krise fordert die Führungskraft auf, ihre Fürsorge für sich selbst in die Hand zu nehmen und sich von den Rettungsphantasien von außen zu lösen. In der Krise erhält sie die Chance, neu zu lernen, nicht nur für die Bedürfnisse anderer, sondern auch für ihre eigenen Bedürfnisse einzustehen. Über ein Bedeutungs-Reframing im Coaching wird ihr bewusst, dass das Rückzugsverhalten der Stellvertreterin ihr widerspiegelt, dass sie sich letztendlich selbst verlassen hat. Sie verhält sich gegenüber sich selbst ähnlich, wie sie sich von ihrer Mutter behandelt fühlte (Isomorphie i.S. von Schiepek
1994). Ihre Tochter spiegelt ihr das innere verlassene Kind.
Durch das Erlernen einer selbstfürsorglichen Haltung und durch die Hinwendung zu den verletzten Seiten aus einer erwachsenen Perspektive heraus entsteht nach und nach eine neue Haltung: „Ich gebe so viel – da habe ich ein Recht auf mich“, „Wer gibt so viel wie ich?“ Sie lernt, ihre Bedürfnisse wie Erholung, Teilhabe und auch Bewegung ernst zu nehmen, und streift die Erwartungen, immer für alle anderen verantwortlich zu sein, zunehmend ab: „Die Kleine in mir muss Pause haben“. Sie spürt, dass sie sich Anerkennung nicht verdienen muss. Durch diese gelöstere Haltung gelingt es ihr, die Aufgaben besser zu verteilen, Verantwortung u. a. durch Delegation zu teilen und von sich aus mehr auf die Mitarbeiter/innen zuzugehen.
Die Förderung der Selbstfürsorge findet sich in Trainings- bzw. Seminarkonzepten der betrieblichen Gesundheitsvorsorge. Dahl (
2019) berichtet in diesem Zusammenhang über den präventiven Nutzen einer Seminarreihe für psychosoziale Fachkräfte zur Förderung der Selbstfürsorge. Auch Krick und Felfe (
2020) belegen bei mehreren Personengruppen positive Effekte ihres Stärken- und Ressourcentrainings zur Förderung der gesundheitsförderlichen Selbstführungskompetenz.
2.4 Achtsamkeit
Eng mit Selbstfürsorge verbunden ist das Konzept der Achtsamkeit (
mindfulness). Seine Wurzeln liegen in der vor ca. 2500 Jahren entstandenen buddhistischen Praxis, sie werden von Verkuil (
2021a, S. 45 ff.) jedoch auch in der hinduistischen und der jüdisch-christlichen Tradition gesehen. Achtsamkeitsbasierte Techniken fanden verstärkt ab Ende der 1970er Jahre den Einsatz im therapeutischen Bereich und erhielten mit dem Mindfulness-Based Stress Reduction-Programm (MBSR) von Kabat-Zinn und Mitarbeiter/innen eine breitere Bekanntheit (Kabat-Zinn
2013). Das MBSR-Programm wurde ursprünglich zur Schmerzbehandlung angewandt, nach sich einstellenden Behandlungserfolgen dann auf weitere klinische und nicht-klinische Bereiche zur Vorbeugung und Bewältigung von Stresssituationen ausgeweitet (Schulte und Hübenthal
2021, S. 26 f.).
„Achtsamkeit ist die Fähigkeit, in jedem Augenblick unseres täglichen Lebens wirklich präsent zu sein (…). Achtsamkeit lässt uns erkennen, was im gegenwärtigen Augenblick in uns und um uns herum wirklich geschieht“ (Nhat Hanh
1998, S. 19). Sie richtet sich auf die Bewusstheit und Aufmerksamkeit für das aktuelle körperliche und seelische Erleben. Als Grundhaltung verbinden sich damit ethische Prinzipien wie die Maxime der Mäßigung und des wertschätzenden Umgangs mit anderen Menschen.
Schulte et al. (
2021b) sehen eine zunehmende Bedeutung des Achtsamkeitskonzepts für Unternehmen, einerseits als allgemeine wertebasierte Plattform, andererseits auch zum frühzeitigen Erkennen von gesundheitlichen Risiken. Achtsamkeit trägt als Haltung dazu bei, dass Mitarbeitende besser für die eigenen Bedürfnisse einstehen und körperliche Signale achten.
Kernpunkt achtsamkeitsbasierter Methoden ist die (Selbst‑)Wahrnehmung. Als Prinzipien der Aufmerksamkeitsfokussierung beschreiben Weiss et al. (
2012, S. 22 ff.):
-
die Lenkung der Aufmerksamkeit, d. h. das Lernen der bewussten Auswahl von Aufmerksamkeitsbereichen (z. B. Atmung, Gehen, Körperwahrnehmung),
-
die Gegenwärtigkeit, d. h. sich dem gegenwärtigen Moment zuzuwenden,
-
die Akzeptanz der Beobachtung, d. h. die wohlwollende und vorurteilsfreie Akzeptanz des Beobachteten,
-
die Verwendung der Position des „Inneren Beobachters“, d. h. die Stärkung der Fähigkeit zum Perspektivwechsel und der Außenbetrachtung der eigenen Person.
Arnold (
2019) formuliert in seiner „selbsteinschließenden Reflexion“ als Schritte für einen systemisch-achtsamen Meditationsleitfaden den Rückblick, das Imaginieren eines neuen, alternativen Ichs und das Habitualisieren. Das Erlernen meditativer Methoden baut auf langfristige und regelmäßige Übung (Bauer
2020). Diese Übungspraxis fördert dabei eine achtsamkeitsbasierte Grundhaltung im Leben (s. Weiss et al.
2012). Kritisch schaut Schindler (
2020) auf den Achtsamkeits-Hype und zeigt Defizite und Limitierungen der vorliegenden Wirksamkeitsstudien auf. Zusammenfassend sieht er dennoch eine positive Wirkung u. a. auf die Emotionsregulation, die Stressbewältigung und die Lebenszufriedenheit (vgl. Schulte und Hübenthal
2021).
2.5 Verbindende und trennende Aspekte der vorgestellten Konzepte
Die skizzierten Konzepte weisen zahlreiche Schnittmengen auf (Ziele, Anwendungsgebiete u. a.), unterscheiden sich jedoch in ihrer Herkunft, in den theoretischen Grundlagen und insbesondere in ihrer methodischen Ausgestaltung. Hier sollen einige für die weitere Diskussion wichtige Aspekte hervorgehoben werden.
Als übereinstimmend ist die Fokussierung aller vier Konzepte auf innerpsychische Regulationsprozesse, die dafür wichtige Wahrnehmung im
Hier und Jetzt, die Betonung der Selbstaufmerksamkeit, der Selbstreflexion und der Stellenwert von (sozialen) Feedbackprozessen zu benennen. Alle Konzepte bieten eine differenzierte Beschreibung von Methoden und Strategien für Reflexionsprozesse, wie diese sich auf der körperlichen, emotionalen und kognitiven Ebene vertiefen und als Selbstregulationsprozesse in den Alltag integrieren lassen (z. B. Furtner
2018, S. 9 ff.; Weiss et al.
2012).
Auf der Zielebene findet sich ein Spannungsfeld zwischen Optimierungsstrategien unter dem Gesichtspunkt quasi objektivierbarer Kenngrößen (Erhöhung der Wahrnehmungsfähigkeit, Konzentration, der Leistungsfähigkeit u. a.) und der Ausrichtung auf personenbezogene Selbstverwirklichungsziele (Bedürfnisse, Motive, Werte u. a.). Beim Selbstmanagement und im Konzept der Selbstführung liegt der Schwerpunkt auf der Optimierung von psychischen Prozessen zur Verhaltensregulation. Demgegenüber stellen Selbstfürsorge und Achtsamkeit das physische und psychische Belastungserleben und das Verhältnis von persönlicher Leistungsfähigkeit und von beruflichen Anforderungen im Spannungsfeld zwischen persönlichen Bedürfnissen und Organisationszielen in den Mittelpunkt. Dabei geht es um die Stressreduktion und die Stärkung des Selbsterlebens und der Bewusstheit.
Damit ist auch eine wichtige Differenz verbunden. Im Achtsamkeitskonzept stehen die Seins-Formen im Mittelpunkt, wohingegen das Selbstmanagement die Selbstführung und auch das Konzept der Selbstfürsorge die Handlungsebene mit einbeziehen („Aktions-Modus“ bei Dahl
2018, S. 70).