In diesem Kapitel werden die Ergebnisse aus den Expertenbefragungen zusammengefasst, interpretiert und zusammen mit den Erkenntnissen aus der Literurrecherche dazu genutzt, die Forschungsfragen zu beantworten.
12.6.1 Ableitungen auf die Forschungsfragen
Forschungsfrage 1
Die 1. Forschungsfrage, Eignet sich Selbstorganisation als Arbeitsform in Spitälern und welcher Nutzen entsteht aus dieser Art der Zusammenarbeit?, kann bejaht werden, zumindest der 1. Teil der Frage.
Zwar muss zuvor der Begriff „Selbstorganisation“ geklärt werden, jedoch zeigt diese Unklarheit zugleich die Vielfältigkeit des Begriffs. Ein genauer Blick auf verschiedene Ansätze von Selbstorganisation zeigt ein sehr unterschiedliches Verständnis und viel Interpretationsspielraum in der Umsetzung. „Die Selbstorganisation“ existiert somit nicht, dies wird verdeutlicht durch die Expertenaussagen. Dabei wird Selbstorganisation meist in Verbindung mit Agilität und im Zusammenhang mit Frederic Lalouxs Reinventing Organizations, der Soziokratie und deren Ableitung Holacracy genannt. Das aus dem ambulanten Gesundheitssektor bekannte Beispiel Buurtzorg aus Holland ist ebenfalls weitgehend bekannt. Gemeinsam haben die verschiedenen Ansätze das Ziel einer möglichst großen Hierarchiefreiheit und Verteilung von Verantwortung auf klare Rollen im Team. Das Verantwortungsbewusstsein der Teammitglieder und die Identifikation mit dem Unternehmen soll damit gestärkt werden. Stärken einzelner Teammitglieder werden besser genutzt und das Team wird dynamischer durch kurze Entscheidungswege. Klare Rollenmodelle und Regeln der Zusammenarbeit, Entscheidungsfindung sowie Konfliktlösung bilden die Grundlage.
Zwar kennen die meisten Experten diese bekannten Methoden, dennoch werden sie in der Praxis meist nur als Orientierungspunkte gesehen. Praktisch alle haben ihre eigene, für sich passende, Methode entwickelt bzw. abgewandelt. Einzelne Elemente der Selbstorganisation finden in den Organisationen der Experten zwar Anwendung, werden aber nicht als solche benannt, da sie sich über viele Jahre selbst entwickelt haben. Dadurch dass es eine Art „fließendes“ Modell sei, passe es sich laufend den neuen Bedingungen an. Einzig die Methode Holacracy lässt durch ihr klar definiertes Regelwerk kaum Spielraum für Individualitäten zu, was einerseits ein Vor- zugleich aber auch Nachteil darstellen kann.
Um abschließend nochmals die Forschungsfrage aufzugreifen, lässt sich sagen, dass Selbstorganisation eine Arbeitsform ist, welche auch im Gesundheitswesen und konkret in Spitälern Anwendung finden kann. Nebst der Literatur haben eine Mehrheit der befragten Experten diese These gestützt und sind der Meinung, dass es kaum Organisationen gäbe, wo eine selbstorganisierte Arbeitsweise nicht möglich sei. In welcher Form Selbstorganisation dabei zum Tragen komme, müsse jede Organisation aber für sich selbst definieren. Die Literatur unterstreicht jedoch viele damit verbundene positive Effekte.
Mehrere Führungspersonen beschreiben in den Experteninterviews, dass für sie durch die Befähigung von Mitarbeitenden in der Selbstorganisation mehr Freiheit und eine bessere Work-Life-Balance resultiert sei. Lösungen für immer wiederkehrende, ermüdende Themen konnten nun im Team selbst erarbeitet werden und auch sogenannt „ungeliebte Aufgaben“ konnten eher abgegeben werden. All dies hätte zu einer bedeutenden Zunahme der Arbeitszufriedenheit bei den Führungspersonen geführt.
Zudem werden in der Selbstorganisation folgende Effekte von den befragten Experten beobachtet: Schlankere Prozesse, mehr Effizienz, Nachhaltigkeit und Kreativität, eine Magnetwirkung in einem Umfeld des Fachkräftemangels und eine höhere Mitarbeitendenzufriedenheit durch befriedigende, sinnstiftende Arbeit. Das Commitment der Mitarbeitenden zum Ergebnis und die Identifikation mit der Organisation steigen. Mitarbeitende werden selbst zum „Leader“, denken unternehmensorientierter und ökonomischer und entwickeln sich selbst weiter. Der Lerneffekt in diesem System sei zudem viel größer als im trägen, hierarchischen System.
Forschungsfrage 2
Bei der 2. Forschungsfrage geht es um Erfolgsfaktoren. Konkret, Was sind Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Einführung selbstorganisierter Teams?.
Kulturelle Aspekte werden bei der Einführung von Selbstorganisation von praktisch allen befragten Personen als wichtigen Erfolgsfaktor genannt, genauso wie die Haltung des Managements, denn der Ansatz muss gezwungenermaßen Top-down sein. Dabei werden Vertrauen, Transparenz und klare Kommunikation als Grundvoraussetzung mehrfach genannt. Gemäß den Experten gehe es um ein anderes Menschenbild und darum, dass man davon ausgehen sollte, dass Menschen gute Arbeit machen wollen und man ihnen zutrauen kann, gute Entscheidungen zu treffen. Eine Fehler- bzw. Lernkultur sei hierbei zwingend notwendig, die Mitarbeitenden müssen auch Fehler machen dürfen, um daraus zu lernen. Damit einher ist es ebenso wichtig, eine gut etablierte Feedbackkultur im Unternehmen zu haben. Darüber hinaus brauche es Offenheit für Neues sowie Mut, nicht immer perfekt sein zu wollen.
Zwei Interviewpartner sagen, dass sie im Grunde dann einen guten Job machen würden, wenn sie sich selbst in ihrer Funktion als Vorgesetzte abgeschafft hätten und die einzelnen Mitarbeitenden so befähigt wurden, dass sie selbstständig agieren können. Das Management und die Führung nehmen in diesem Change-Prozess hin zur Selbstorganisation eine zentrale Stellung ein und lenken. Denn sie sind es, die dem Team Macht geben. Führungspersonen selbst müssen überzeugt sein, mit gutem Beispiel vorangehen und ihre Passion durch viel Überzeugungsarbeit auf andere übertragen. Kollegialität und das Vertrauen des Teams sind dabei essenziell. Als zentrale Führungsaufgabe werden die Förderung der Autonomie im Team, das Empowerment und die Entwicklung der Mitarbeitenden sowie das Motivieren, Begleiten und Coachen des Teams genannt. Teamentwicklung als wichtiger Begleitprozess soll sichergestellt werden. Diese Art des Führens erfordert eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Führungsverständnis, der eigenen Rolle und Fähigkeiten. Gegebenenfalls werden neue Skills benötigt. Der Begriff „Servant Leadership“ bekommt in diesem neuen, agilen Führungsverständnis eine zentrale Bedeutung.
Wie auch immer die Rolle der Führungsperson konkret aussehen mag in der Praxis. Die Experten haben mehrmals darauf hingewiesen, dass es weiterhin übergeordnete Rollen brauchen wird, welche einen Überblick haben. Das Team wird nicht in der Lage sein, für alles die Verantwortung zu tragen, einen klaren Rahmen ihrer Entscheidungskompetenz gilt es festzulegen. Speziell wenn es um existenzielle, finanzielle oder auch rechtliche Aspekte geht. Dafür wird es auch künftig klare Verantwortlichkeiten benötigen. Auch im Bereich des Konfliktmanagements kann eine gewisse Autorität vonnöten sein.
Nebst guter Führung braucht es auch die Bereitschaft und Offenheit eines jeden Einzelnen, sich darauf einzulassen. Die Eigenverantwortung wahrzunehmen, um miteinander an der bestmöglichen Lösung zu arbeiten, sind Grundvoraussetzungen agilen Arbeitens. Das kann auch mal persönlichen Verzicht bedeuten für die Erreichung des Ziels der Gruppe. Man nimmt dabei eine Rolle ein und nicht eine Funktion.
Im Idealfall werden Mitarbeitende von Beginn an in den Einführungsprozess mit eingebunden, eine Mehrheit empfiehlt während der Einführungsphase einen Coach zu engagieren, um den Prozess zu begleiten. Das Risiko, dass Mitarbeitende sich „Sicherheitsnetzte“ spannen und in alte Muster zurückfallen, ist groß und führt zu einem viel kleineren Lerneffekt.
Für Teams, welche bereits einen hohen Grad an Selbstständigkeit aufweisen, ist der Übergang in die Selbstorganisation einfacher. Es wird aber immer wieder beschrieben, dass Selbstorganisation auch überfordern kann, da nicht alle Personen damit umgehen könnten oder über die notwendigen Skills verfügen. Zur Erlangung dieser Skills brauchen Mitarbeitende die Unterstützung des Managements.
Widerstände gehören genauso wie bei den meisten Change-Projekten mit dazu. Hierbei kann hilfreich sein, wenn Beteiligte von ihren Erfahrungen erzählen, gemäß dem Schneeball-Prinzip. Es ist wichtig, dass die Leute verstehen, um was es geht. Mehrfach wird auf die Wichtigkeit gewisser Barrieren oder Regeln hingewiesen, die in einer bestimmten Form definieren, in welchem Rahmen sich ein Team bewegen kann oder auch darf. Regeln geben Sicherheit und vermitteln Ankerpunkte, an denen sich die Mitarbeitenden orientieren können. Experten haben in den Interviews von Verwirrung und unklaren Prozessen berichtet, welche viele zeitintensive Diskussionen und Klärungen erfordert haben. Daher gilt, je klarer die Strukturen und Prozesse, desto reibungsloser die Einführung.
Der geeignete Zeitpunkt für die Einführung der Selbstorganisation zu finden, wird als nicht unerheblich betrachtet. Gleichzeitig sollen nicht zu viele andere Großprojekte am Laufen sein. Es braucht Zeit und muss über Jahre wachsen können. Die Implementierung erfordert ein gewisses Budget an zeitlichen und ggf. auch finanziellen Ressourcen. Zudem kann es zu einer Produktivitätseinbuße kommen, dies muss berücksichtigt werden. Zwei Experten beschreiben eine ziemlich „radikale“ Vorgehensweise aufgrund einer guten Gelegenheit und 2 andere hatten sich für eine Methode entschieden, welche keine andere Vorgehensweise als eine komplette Reorganisation zulässt. Die Mehrheit war aber der Meinung, dass eine schrittweise Implementierung grundsätzlich eher zu bevorzugen sei. Dabei brauche es ständige Anpassungen und Weiterentwicklungen.
Das Ziel und die Erwartungen, welche durch Selbstorganisation erreicht werden wollen, sollten zu Beginn klar sein. So sagt ein Interviewpartner, sie hätten die Risiken abgeschätzt und gemerkt, dass sie vergleichsweise wenig zu verlieren hätten und die Kosten seien kalkulierbar gewesen.
12.6.2 Weitere Ableitungen
Nebst Chancen und positiven Effekten wird in den Interviews auch Bezug auf negative Effekte und Risiken genommen.
So kann, wie bereits erläutert, der Begriff „Selbstorganisation“ auch zu Verwirrung führen. Speziell Führungspersonen fühlen sich rasch angegriffen und sehen ihre Daseinsberechtigung infrage gestellt. Bei genauerem Erklären sind Führungspersonen zwar leicht zu begeistern, der ganzen Tragweite der Veränderung sind sich aber nur die wenigsten bewusst. Dies kann zu großen Widerständen führen. Unabhängig von der Rolle, wird es immer Menschen geben, die sich weder in der Selbstorganisation zurecht finden wollen noch können. Gleichzeitig verhindert Selbstorganisation die Chance einer klassischen Karriere und mindert damit die Wettbewerbsfähigkeit außerhalb des selbstorganisierten Systems. Dies könnte hemmende Auswirkungen auf Motivation und Stellenbesetzungen haben.
Ein weiteres Risiko wird im zu starken Auseinanderdriften von heterogenen Teams durch mangelhafte Regelung von Schnittstellen gesehen. Zur Sicherstellung des Informationsflusses oder der Entscheidungsfindung könnte man sich in einer „Meeting-Flut“ verlieren. Eine gewisse Gefahr der „Silobildung“ bestehe. Um den Überblick nicht zu verlieren, brauche es übergeordnete Rollen, die alle Teams wieder zusammenfügen.
Aber nicht nur Teams können überfordert sein, auch für Kunden ist die agile Arbeitsweise unter Umständen neu. Jemand beschreibt, dass ihre Arbeitsweise darauf basiert, gemeinsam mit dem Kunden eine Lösung zu entwickeln, ohne das Ziel zu kennen. Damit bekommt der Kunde keine Garantie für das, was er sich vorstellt. Dies sei für einige schwierig.