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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

Souveränitätsgewinne oder Freiheitsverluste – wohin treibt der Arbeitsmarkt?

verfasst von : Jutta Allmendinger, Wolfgang Schroeder

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die Arrangements der Plattformökonomie stehen für eine weitreichende Transformation, an deren Ende sich das rechtliche und soziale Band der Erwerbsarbeit auflöst. Solange die Plattformarbeit eher ein Randphänomen bleibt, wird die regulierte Arbeitsgesellschaft nicht grundlegend infrage gestellt. Entwickelt sich dieses Phänomen aber in der heutigen Form ungezügelt weiter, werden unsere Prinzipien des Sozialversicherungsstaats bedroht. Die neuen Konstellationen von Beschäftigung, Managementstrategien und Interessenvertretung führen dann zu Veränderungen, die das etablierte Akteurs- und Institutionengefüge sprengen und sich herkömmlichen sozialpartnerschaftlichen Aushandlungsformen und politischer Regulierung entziehen. Eine Arbeitspolitik der Souveränität braucht Antworten, die den Kontext der Akteure und Institutionen stärkt. Davon wird es abhängen, ob die Freiheitspotenziale erschlossen werden können. Dafür gibt es Ansätze, wie die bald weltweit verortete Initiative von Fairwork zeigt.
Die heutige Arbeitswelt ist ambivalent. Formen neuer Souveränität, Selbstbestimmung und individueller Entfaltung finden sich ebenso wie die Erkenntnis, dass vorhandene Sicherheiten und Freiheiten begrenzt werden oder gar verschwinden. Dabei sind Gewinne und Verluste nicht nur zwei Seiten einer Medaille. Oft gehen sie direkt miteinander einher. Neue Souveränitäten werden dann sofort wieder eingehegt.
Eindrücklich zeigt dies die aufstrebende digitale Dienstleistungsökonomie. Gearbeitet wird meist an selbstgewählten Orten zu selbstgewählten Zeiten für selbstgewählte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Die Stichworte: Mobilität, Kreativität und Flexibilität. Fremdbestimmte Arbeit wird reduziert, selbstbestimmte Zeit gewonnen. Wie im Brennglas sieht man hier aber auch die Schattenseiten. Wenn klassische Beschäftigten- und Arbeitszeitstrukturen erodieren und der Betrieb als sozialer und institutioneller Bezugsrahmen verloren geht, nehmen individuelle Verantwortung und damit auch Unsicherheiten zu.
Die digitalisierte Arbeitswelt von morgen braucht also neue sozial- und arbeitsrechtliche Standards. Datenschutzrechtliche Fragen müssen geklärt werden, da sich die Kontrollmöglichkeiten und die Kommunikationskanäle zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten grundlegend verändert haben. Ebenso sind die demokratisch legitimierten Institutionen der Mitbestimmung gefordert, da viele Beschäftigtengruppen arbeitspolitische Arrangements heute schlechter als zuvor aushandeln können. Outsourcing, Werkverträge und Leiharbeit haben dazu geführt, dass viele Beschäftigte trotz gemeinsamer Arbeit am gleichen Produkt mit unterschiedlichen arbeitspolitischen Rechten, Möglichkeiten der Mitbestimmung und unterschiedlicher Entlohnung ausgestattet sind. Diese Spaltung der Belegschaften mindert deren Möglichkeiten zur Mitgestaltung insgesamt und wurde in einigen Branchen bereits schleichend Bestandteil der Unternehmensführung.
Im Folgenden behandeln wir drei zentrale Entwicklungen der Arbeitswelt, die exemplarisch das Miteinander der gegenläufigen Veränderungen verdeutlichen:
  • neue Arbeitszeitarrangements,
  • das Homeoffice
  • und die Plattformarbeit.
Diese drei Entwicklungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Folgen für die individuell mögliche Abgrenzung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, für die Qualität von Arbeits- und Sozialschutz, den Datenschutz, die angemessene Ausstattung des Arbeitsplatzes und die soziale Integration über die Erwerbsarbeit im Betrieb vor Ort. Gleichermaßen wirken sie sich auch auf verschiedene soziale Gruppen sowie auf Frauen und Männer unterschiedlich aus. So stehen flexible Arbeitszeitarrangements den meisten Beschäftigten offen, mobiles Arbeiten noch knapp 40 %, die Plattformökonomie ungleich weniger Menschen. Und insbesondere für Frauen stellt die Entgrenzung von Beruf und Familie eine Chance, zugleich aber auch eine enorme Herausforderung dar – zumindest solange ihnen die Hauptverantwortung für die Pflege- und Erziehungsarbeit zugesprochen wird.
Wir schließen den Beitrag mit der Empfehlung, die angesprochenen Ambivalenzen institutionell und rechtlich so zu rahmen, dass deren emanzipative Potenziale gestärkt werden. Wir sind davon überzeugt, dass es insbesondere von den inhaltlichen, machtpolitischen und lebensweltlichen Bedingungen abhängt, ob das Pendel in Richtung Souveränitätsgewinn oder Freiheitsverlust ausschlägt.

Flexible Arbeitszeitarrangements: vom Arbeitszeitkonto zur Vertrauensarbeit

Spricht man über flexible Arbeitszeitarrangements, so verweist man auf die drei Elemente Umfang, Lage und Verteilung der Erwerbsarbeit. Die Bezahlung, die Ent- und Befristung der Erwerbsarbeit und der Sozialversicherungsschutz treten bei dieser Frage dagegen eher in den Hintergrund.
Die vertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit hat sich seit den 1990er Jahren um etwa drei Stunden auf etwa 35,4 h verringert, da die Teilzeitarbeit stark gestiegen ist (Wöhrmann et al. 2019, S. 161). Die tatsächlich geleistete wöchentliche Arbeitszeit lag laut Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2019 dennoch bei durchschnittlich 38,8 h. Damit machen die Beschäftigten in Deutschland im Durchschnitt 3,4 Überstunden pro Woche (BAuA 2020, S. 18 ff.). Zudem gab über die Hälfte der Befragten (56 %) an, gerne kürzer arbeiten zu wollen (BAuA 2020, S. 25). Längere Arbeitszeiten wünschen sich dagegen oft Minijobberinnen und Minijobber und verbinden dies mit der Hoffnung, in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit wechseln zu können (Rat der Arbeitswelt 2021, S. 70).
Längere Arbeitszeiten gehen oft mit weniger und kürzeren Ruhephasen sowie Zeit- und Leistungsdruck einher, was sich negativ auf die Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance und die Gesundheit der Betroffenen auswirken kann. Die Folgen sind beispielsweise Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung und Müdigkeit (Wöhrmann et al. 2019, S. 161 ff.). Besonders Frauen mit Pflegeverantwortung sind davon betroffen (Allmendinger und Haarbrücker 2017).
Für die zeitliche Souveränität und die Vereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche ist auch die Lage der Arbeitszeit entscheidend. Abendstunden und das Wochenende sind sozial wertvolle Zeiten, in denen ein Großteil des privaten und familiären Lebens stattfindet. Gerade Beschäftigte im Schichtdienst arbeiten häufig während dieser Zeiten (Wöhrmann et al. 2019, S. 164). Wechselnde Arbeitszeiten können den Beschäftigten zwar den Vorteil bieten, private und berufliche Ansprüche besser aufeinander abzustimmen. Hierfür bedarf es seitens der Beschäftigten jedoch eines gewissen Zeitmanagements, das auch überfordern kann.
Umfang und Lage der Arbeitszeit waren lange Zeit fest fixiert. Im „fordistisch-tayloristischen Zeitalter“ etablierte sich für (männliche) Beschäftigte das Normalarbeitsverhältnis mit einem starren Arbeitszeitregime (Kratzer und Sauer 2007, S. 174). Bis in die 1970er Jahre hinein war es ihnen kaum möglich, über ihre Arbeitszeit mitzuentscheiden, geschweige denn über den Arbeitsort. Angesichts der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen forderten bald immer mehr Gewerkschaften, den Beschäftigten einen größeren Freiraum bei der Organisation ihrer Arbeit zu geben, um die Erwerbsarbeit und die persönliche Lebenslage besser aufeinander abstimmen zu können. Erste zaghafte Schritte zur Arbeitszeitflexibilisierung erfolgten mit der Einführung der heute weit verbreiteten Arbeitszeitkonten (Seifert 2019, S. 431). Während es den Beschäftigten damit – zumindest potenziell – ermöglicht wurde, innerhalb eines gewissen Zeitraums ihre Erwerbsarbeit freier zu verteilen, änderte sich am Arbeitsvolumen und der Lage der Arbeitszeit wenig. Mit zunehmend ausdifferenzierten Lebensentwürfen und Erwerbsformen haben sich die Arbeitszeitstrukturen und -modelle dann weiter vervielfältigt. Heute bewegen sie sich zwischen dem starren fordistisch-tayloristischen Arbeitszeitregime auf der einen und der Vertrauensarbeitszeit auf der anderen Seite (Jürgens et al. 2017, S. 112). Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass Umfang, Lage und Verteilung der Arbeitszeit keiner betrieblichen oder kollektivvertraglichen Regulierung mehr unterliegen. Allein die Beschäftigten selbst sind hierfür verantwortlich (Kratzer und Sauer 2007, S. 174).
Flexible Arbeitszeiten bieten im Vergleich zum fordistisch-tayloristischen Modell mehr Zeitautonomie, zugleich machen sie die Beschäftigten zu „Arbeitskraftunternehmern“ (Voß und Pongratz 1998), die ihre Arbeit selbst organisieren müssen. Zwischen Beschäftigten und Arbeitgeberinnen bzw. Arbeitgebern verringern sich dadurch zwar die Konflikte über die Arbeitszeit, für die Beschäftigten entstehen allerdings auch neue Konflikte: Sie müssen mit sich selbst, ihrer Familie und mit den Kolleginnen und Kollegen ausmachen, wann sie wie viel arbeiten und sich entsprechend auch selbst organisieren und disziplinieren.
Diese Konflikte erleben besonders jene Beschäftigte, deren Arbeitszeit überhaupt nicht mehr über vereinbarte Anfangs- und Endzeiten oder einen gewissen Stundenumfang bestimmt wird. Einer solchen Vertrauensarbeitszeit unterliegen meist vorgegebene Leistungsziele, wie wir sie auch von der Plattformarbeit kennen (Jürgens et al. 2017, S. 118 f.). Hier wird also die Planung der Erwerbsarbeit zum integralen Bestandteil dieser selbst. Dies mag einen Freiheitsgewinn bedeuten, da man bezahlte und unbezahlte Arbeit selbstbestimmt gestalten kann. Allerdings ist mit mehr Flexibilität nicht zwingend auch mehr Zeitsouveränität verbunden, insbesondere dann nicht, wenn Erwerbsarbeitszeiten aufgrund zu hoher eigener oder betrieblicher Leistungserwartungen ausgedehnt und in sozial wertvolle Zeiten verlegt werden (ebd., S. 117). Auch die Organisation von Erwerbsarbeit kann bei fehlender Abgrenzung zur Freizeit eine Belastung werden, die sich negativ auf die Gesundheit auswirkt.
Wir halten fest: Längst nicht alle Menschen haben ein Beschäftigungsverhältnis, bei dem sie über Umfang, Lage und Verteilung ihrer Erwerbsarbeitszeit entscheiden können. Für jene, die diese Möglichkeit haben, können sich dadurch Freiräume eröffnen, um private und berufliche Angelegenheiten besser miteinander zu vereinbaren. Fragen des Arbeitsschutzes, der Arbeitsplatzausstattung oder der sozialen Integration durch den Arbeitsort ergeben sich hier nicht zwingend. Aber auch Zeitautonomie bedeutet nicht immer einen Freiheitsgewinn. Ohne klare und verbindliche Regelungen zwischen Beschäftigten und Betrieb kann die formal gewonnene Freiheit auch einschränkend wirken, wenn die Erwerbsarbeitszeit so ausgedehnt und verlagert wird, dass das Zeitmanagement zu Zeitstress, Überforderung und möglicherweise sogar gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt. Diese Einschränkungen beobachten wir insbesondere dann, wenn familiäre Anforderungen und kulturell fixierte Zuständigkeiten immer wieder nahelegen, unbezahlten (Pflege-)Arbeiten den Vorrang zu geben. Junge Mütter sind hier besonders betroffen.

Homeoffice: die örtliche Entgrenzung von bezahlter und unbezahlter Arbeit

Das Recht auf Homeoffice ist das Flaggschiff der arbeitskulturellen Revolution (Berzel und Schroeder 2021)1. Keine andere arbeitsorganisatorische Entwicklung hat die Spielräume der Beschäftigten vergleichbar erweitert. Arbeitsorte werden dezentralisiert, Arbeitsbeziehungen enthierarchisiert und Arbeitsprozesse können selbstbestimmter organisiert werden. So weit der positive Teil des Diskurses. Doch auch hier gibt es eine gefährdende und freiheitseinschränkende Dimension, die angesichts der gängigen Jubel-Narrative nicht ignoriert werden darf. Die analoge Zusammenarbeit, die zufälligen Treffen auf dem Weg zum und am Arbeitsplatz – all diese Orte der persönlichen Begegnung werden reduziert oder drohen, ganz zu verschwinden. Den meisten Beschäftigten ist das sehr bewusst: Erwerbsarbeit bedeutet ihnen nicht nur lästiges Pendeln, Hetze, Stress und Ärger mit Kollegen und Chefinnen. Erwerbsarbeit vergrößert sozial und räumlich die persönliche Welt. Dennoch: Auch nach der langen Corona-Zeit findet das Homeoffice bei den Beschäftigten viel Zuspruch. Rund zwei Drittel wollen weiterhin einige Tage pro Woche im Homeoffice arbeiten. Die Arbeit der Zukunft wird höchstwahrscheinlich hybrid, das Homeoffice zu einem Stück neuer Normalität.
Betrachten wir das mobile Arbeiten näher, wie die Arbeit im Homeoffice übergreifend genannt wird. Welche Folgen zeigen sich für die Beschäftigten? Die aktuelle Studienlage ergibt ein differenziertes Bild. Die Ergebnisse belegen eine insgesamt höhere Zufriedenheit mit der Erwerbsarbeit, bei deutlichen Unterschieden zwischen den Beschäftigtengruppen nach Haushaltszusammensetzung, sozialer Lage und Wohnort (Stadt/Land). Berichtet werden eine höhere Produktivität, Zeitgewinn durch wegfallende Arbeitswege und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Digitalisierung des Arbeitsplatzes wird nun auch insgesamt positiver als zuvor und als entlastend erlebt. Gleichzeitig fehlt vielen der direkte Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen, rund die Hälfte der Beschäftigten sieht negative Folgen für ihre Erwerbsarbeit, weil die kurzfristige Rückkopplung mit dem/der Vorgesetzten schwierig oder der Zugang zu Arbeitsmaterialien unzureichend ist.
Jüngere Studien zum Homeoffice, die mittlerweile einen längeren Zeitraum des Phänomens abbilden können, zeigen allerdings, dass mobiles Arbeiten auch zu mehr Stress führen kann. Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben sind nicht einfach zu ziehen und immer wieder zu verteidigen. Die Erwartung permanenter Erreichbarkeit wird in die private Zeit hinein ausgedehnt. Vielen fehlt ein ruhiger Arbeitsort, eine dem Büro vor Ort entsprechende Arbeitsplatzausstattung, auch Fragen des Datenschutzes stellen sich. Hinzu kommt, dass sich mobiles Arbeiten negativ auf die Gleichstellung von Frauen und Männern auswirkt. Bereits vor der Corona-Pandemie haben Studien ergeben, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erwartungen mit der Arbeit im Homeoffice verbinden. Bei Vätern geht man davon aus, dass das Homeoffice zur Vorbereitung auf neue Karriereschritte genutzt wird. Bei Müttern wird gerade das Gegenteil angenommen und die Arbeit im Homeoffice mit mehr Familienzeit gleichgesetzt. Die Pandemie scheint die Folgen dieser unterschiedlichen Erwartungen verschärft zu haben. Insbesondere junge Mütter können nur schwer diesen geschlechtsspezifischen Annahmen entkommen und sehen sich gezwungen, viele Arbeiten teilweise parallel zu verrichten oder die berufliche Arbeit in die frühen Morgen- oder späten Abendstunden zu legen. Mit dem Homeoffice entstehen zudem neue Ungleichheiten zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Beschäftigte, die wenig verdienen oder ein niedriges Qualifikationsniveau besitzen, haben häufig gar nicht die Möglichkeit, mobil zu arbeiten.
Es stellt sich daher die Frage, wie Homeoffice nach der Pandemie als „Normalfall“ so reguliert werden kann, dass die negativen Folgen gezielt zurückgedrängt und kontrolliert werden können. Dazu beitragen könnten etwa ein auf Freiwilligkeit beruhender Rechtsanspruch auf Homeoffice und auf Präsenzerwerbsarbeit, eine digitale Zeiterfassung zur Verhinderung überbordender Überstunden, eine spezifische Absicherung des Unfallrisikos im Homeoffice, gute Arbeitsbedingungen mit entsprechender Ausstattung des Arbeitsplatzes oder ein Steuerbonus. Dass die dafür notwendigen Regelungen nicht einfach den Unternehmen und dem Gesetzgeber überlassen werden dürfen, ist den Tarifparteien bewusst. Einige Unternehmen haben längst mit ihren Betriebsräten Betriebsvereinbarungen abgeschlossen und auch die Sozialpartner stehen nicht abseits. Die Betriebsvereinbarung zur Mobilarbeit bei der BMW Group und die bei VW eingeführte Nicht-Erreichbarkeit in den Abendstunden sind hierfür nur zwei Beispiele guter betrieblicher Praxis. Beim „Tarifvertrag zum Mobilen Arbeiten“ der Metall- und Elektroindustrie wurden Rahmenbedingungen festgelegt, etwa Ruhezeiten, Freiwilligkeit oder das Aussetzen von Regeln zu Nacht- und Wochenendzuschlägen.
Das Homeoffice bringt weitere Einschränkungen. Es führt buchstäblich zu einer „Verheimlichung“ (Allmendinger 2021), zu einem Schwund sozialer Interaktionen und Kontakte, es verkleinert die soziale Welt. Damit stehen Betriebsräte und Gewerkschaften in der neuen Arbeitswelt vor großen Herausforderungen, denn auch sie brauchen den direkten Kontakt mit den Beschäftigten: Die Rekrutierung von Mitgliedern und die Aktivierung der Beschäftigten sind an gemeinsame Erfahrungen und Orte gebunden. Regelungsbedarfe, etwa beim Arbeitsschutz, wandern aber aus der Vor-Ort-Sphäre des Betriebs in die Unsichtbarkeit der Wohnungen. Immer drängender stellt sich auch die Frage, was passiert, wenn Unternehmen durch die Erfahrungen in der Pandemie zu dem Schluss kommen, dass die Präsenz einiger Beschäftigtengruppen gar nicht mehr nötig und sogar kostensteigernd ist. Geht es bald nicht mehr darum, wer im Homeoffice arbeiten kann und darf, sondern im Gegenteil darum, wer im Unternehmen arbeiten darf und wer nicht? Ab wann müssen wir über einen Anspruch auf Präsenz verhandeln, um das Freiheitspotenzial der Beschäftigten zu konsolidieren?

Plattformarbeit: selbstständig abhängig?

Digitale Plattformen bieten eigenständige und in starkem Maße orts- und zeitunabhängige Verdienstmöglichkeiten. Insofern können Plattformen einen Raum für Souveränität öffnen, den die Beschäftigten frei und unabhängig betreten und dessen Bedingungen sie selbst gestalten (Greef und Schroeder 2017; Greef et al. 2020)2. Tatsächlich koordinieren Plattformen seit einigen Jahren Erwerbsarbeit und schaffen damit einen Markt, der sich deutlich von den üblichen Arrangements unterscheidet. Das klassische abhängige Beschäftigungsverhältnis zwischen Unternehmen und Erwerbstätigen wird nun ergänzt, eine Dreiecksbeziehung entsteht, bei der die Plattformbetreiber als dritter Akteur in Erscheinung treten. Auf den Plattformen werden Arbeitsaufträge vermittelt, die von Unternehmen ausgelagert und an Internetnutzerinnen und -nutzer (die „Crowd“) ausgeschrieben werden. Die Erwerbsarbeit wird dann in der Regel entweder direkt im Netz („Crowdwork“) oder außerhalb, etwa in Form von Lieferdiensten, erbracht („Gigwork“). Da sich die Plattformen nur als „Vermittler“ zwischen Angebot und Nachfrage verstehen, verfügen die Beschäftigten über keinen rechtlich geschützten Arbeitnehmerstatus. Das Dreiecksverhältnis ist somit durch ein erhebliches Machtgefälle gekennzeichnet, an dessen Spitze der Plattformbetreiber steht.
Die Plattformökonomie bietet eine große Bandbreite an Arbeitsangeboten und -aufträgen, deren Vergütung alle Einkommensgruppen mit einbezieht. Dennoch ist eine gewisse Konzentration auf besonders prekäre Beschäftigungsformen mit geringer Bezahlung und nicht definierten Arbeitszeiten ganz offensichtlich.
Die Arrangements der Plattformökonomie stehen für eine weitreichende Transformation von Erwerbsarbeit, an deren Ende sich das rechtliche und soziale Band der Erwerbsarbeit auflöst. Solange die Plattformarbeit eher ein Randphänomen bleibt, wird die regulierte Arbeitsgesellschaft nicht grundlegend infrage gestellt. Entwickelt sich dieses Phänomen aber in der heutigen Form ungezügelt weiter, werden unsere Prinzipien des Sozialversicherungsstaats bedroht. Die neuen Konstellationen von Beschäftigung, Managementstrategien und Interessenvertretung führen dann zu Veränderungen, die das etablierte Akteurs- und Institutionengefüge sprengen und sich herkömmlichen sozialpartnerschaftlichen Aushandlungsformen und politischer Regulierung ganz entziehen. Das allerdings muss nicht sein, wie die bald weltweit verortete Initiative von Fairwork zeigt. Fairwork setzt sich zur Aufgabe, die Arbeitsstandards in der Plattformökonomie anhand von fünf Kriterien fairer Arbeit (faire Bezahlung, faire Arbeitsbedingungen, faire Verträge, faires Management, faire Mitbestimmung) zu beschreiben, zu bewerten und Handlungsansätze zu entwickeln.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Plattformökonomie am weitesten in die fordistisch-tayloristischen Regelungen eingreift. Sie kann zwar zu Souveränitäts- und Freiheitsgewinnen für Beschäftigte führen, da die Arbeit orts- und vielfach auch zeitunabhängig verrichtet werden kann. Zugleich werden häufig Schutzrechte der Beschäftigten verletzt, die im Laufe der Geschichte mühsam durchgesetzt wurden, man denke nur an die Sozialversicherungen oder Arbeits- und Mitbestimmungsrechte. Klassische Arbeitnehmerrechte greifen meist nicht, die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Risiken werden sehr oft einseitig den Auftragnehmerinnen und -nehmern zugewiesen.

Fazit: der Kontext ist entscheidend

In der heutigen Arbeitswelt gibt es eine Fülle von Entwicklungen, die neue Potenziale für die Souveränität der Beschäftigten mit sich bringen, allerdings auch freiheitseinschränkend wirken können.
Drei Ankerpunkte waren bei allen Differenzierungen in den letzten Jahrzehnten dafür verantwortlich, dass die Rechts- und Schutzpositionen für die Beschäftigten ausgebaut werden konnten.
  • Als erster Anker ist der Betrieb bzw. das Unternehmen als räumlich, ökonomisch-rechtlich und sozial verortete Organisationsform zu nennen. Die Plattformökonomie stellt diesen territorialen Gestaltungsraum allerdings grundlegend infrage.
  • Der zweite Anker liegt im Normalarbeitsverhältnis. Vielfältige Entwicklungen haben diesen Kern destabilisiert und Tendenzen einer Erosion befördert.
  • Der dritte Anker besteht in einer betrieblichen Interessenvertretung, die mit der branchenbasierten Gewerkschaftsorganisation verbunden ist und einem Management, das in Arbeitgeberverbänden und Tarifverträgen regulative Instrumente zur Ordnung des Wettbewerbs sieht. Sinkende Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften, weniger Betriebsratsgremien, Verbandsabstinenz und Tarifflucht aufseiten der Unternehmen sind Zeichen eines strukturellen Wandels auf dieser Ebene.
Ob eine fortschreitende Digitalisierung von Ökonomie und Arbeit diese Entwicklungen verstärken wird, ist noch nicht abschließend geklärt. Digitale Plattformen und Crowdworkerinnen und -worker beschleunigen die Veränderungen in jedem Fall, da mit ihnen neue Akteure in den Arenen der Arbeitsbeziehungen auftreten, die mit traditionellen Vorstellungen von Betrieb und abhängiger Beschäftigung zunächst nicht kompatibel erscheinen.
Es ist daher wichtig, insbesondere die Akteure, Institutionen und Regulierungen zu betrachten, die dafür Verantwortung tragen, dass Erwerbsarbeit eher zu Souveränität als zu Fremdbestimmung führt. Eine Arbeitspolitik der Souveränität braucht Antworten, die den Kontext der Akteure und Institutionen stärkt. Davon wird es abhängen, ob die Freiheitspotenziale erschlossen werden können. Durch die Auflösung des Erwerbsarbeitsverhältnisses, die Absage an feste Arbeitsorte, durch eine Schwächung der kollektiven Organisationen der Erwerbsarbeit und durch den Rückzug des Staates wird sich die Selbstbestimmung für die meisten Erwerbstätigen jedenfalls nicht verbessern. Im Gegenteil. Daher müssen vorhandene Spielräume, die die Souveränität der Beschäftigten stärken, verhandelt und rechtlich abgesichert werden. Es bedarf einer institutionalisierten Mitbestimmungs- und Schutzpolitik. Allerdings lässt sich nicht alles, was als freiheitsgefährdend identifiziert wird, rechtlich regulieren. Mit der neuen Arbeitswelt kommt es auch zu nicht intendierten Einschränkungen der Freiheit, die veränderte Verhaltensweisen und Maßnahmen zum Selbstschutz notwendig machen. Hier braucht es Anleitungen, Trainings, Hilfen – ein Empowerment. Letztlich ist die Erwerbsarbeit so zu gestalten, dass auch der gesellschaftliche Zusammenhalt bewahrt und gefördert wird. Denn eine Arbeitswelt, die zu einer Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird, hat keine Zukunft.
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Fußnoten
1
Die Ausführungen zum Homeoffice beziehen sich auf diesen Literatur- und Forschungsbericht. Für einzelne Belege sei auf diese Quelle verwiesen.
 
2
Die Ausführungen zur Plattformökonomie beziehen sich auf diesen Forschungsbericht und Aufsatz. Für weitere Belege sei auf diese Publikationen verwiesen.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Allmendinger, J. (2021). Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen. Berlin: Ullstein Allmendinger, J. (2021). Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen. Berlin: Ullstein
Zurück zum Zitat Greef, S., Schroeder, W., & Sperling, H. J. (2020): Plattformökonomie und Crowdworking als Herausforderung für das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen. Industrielle Beziehungen, 27(2), S. 205–226CrossRef Greef, S., Schroeder, W., & Sperling, H. J. (2020): Plattformökonomie und Crowdworking als Herausforderung für das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen. Industrielle Beziehungen, 27(2), S. 205–226CrossRef
Zurück zum Zitat Jürgens, K., Hoffmann, R., & Schildmann, C. (2017). Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Bielefeld: transcript Jürgens, K., Hoffmann, R., & Schildmann, C. (2017). Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Bielefeld: transcript
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Zurück zum Zitat Seifert, H. (2019). Wie viel Zeitautonomie bieten flexible Arbeitszeiten? WSI-Mitteilungen, 72(6), S. 431–439CrossRef Seifert, H. (2019). Wie viel Zeitautonomie bieten flexible Arbeitszeiten? WSI-Mitteilungen, 72(6), S. 431–439CrossRef
Zurück zum Zitat Voß, G. G., & Pongratz, H. J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50(1), S. 131–158 Voß, G. G., & Pongratz, H. J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50(1), S. 131–158
Zurück zum Zitat Wöhrmann, A. M., Brenscheidt, F., & Gerstenberg, S. (2019). Arbeitszeit in Deutschland: Länge, Lage, Flexibilität der Arbeitszeit und die Gesundheit der Beschäftigten. In J. Rump, & S. Eilers (Hrsg.): Arbeitszeitpolitik. Zielkonflikte in der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung lösen (S. 159–177). Wiesbaden: Springer Gabler Wöhrmann, A. M., Brenscheidt, F., & Gerstenberg, S. (2019). Arbeitszeit in Deutschland: Länge, Lage, Flexibilität der Arbeitszeit und die Gesundheit der Beschäftigten. In J. Rump, & S. Eilers (Hrsg.): Arbeitszeitpolitik. Zielkonflikte in der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung lösen (S. 159–177). Wiesbaden: Springer Gabler
Metadaten
Titel
Souveränitätsgewinne oder Freiheitsverluste – wohin treibt der Arbeitsmarkt?
verfasst von
Jutta Allmendinger
Wolfgang Schroeder
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_10