Dieses Kapitel hat zwei Ziele, nachdem uns die Analyse im vorangegangenen Kapitel zu einer wichtigen Frage geführt hat: Wenn sich jedes gesellschaftliche Ergebnis, das durch Gesetzgebung erzielt werden kann, auch ohne sie einstellen kann, indem die Akteure das vom Gesetz vorgeschriebene Verhalten imitieren, da sich solches Verhalten selbst verstärkt, sobald alle es angenommen haben – können wir dann überhaupt sinnvoll zwischen Gesetzen und Normen unterscheiden? Das erste Ziel dieses Kapitels ist es, diese Frage bejahend zu beantworten. Ich will zeigen, dass obwohl es aus grundlegender Sicht keinen Unterschied macht, ob das Verhalten durch soziale Normen oder durch das Recht gelenkt wird, wir in gewisser Weise dennoch zwischen diesen beiden Effekten unterscheiden können. Zu dieser Schlussfolgerung gelange ich über einige Beispiele, die dem zweiten Ziel dieses Abschnitts dienen: Während der Großteil meiner Analysen bisher relativ abstrakter Natur war, möchte ich nun zeigen, dass die bereits entwickelten Ideen wie multiple Gleichgewichte, fokale Punkte und selbstverstärkende Verhaltensweisen wichtige Zutaten für ein besseres Verständnis zahlreicher Phänomene des echten Lebens sind. Zur Unterscheidung zwischen sozialen Normen und dem Recht gebe ich in jedem der folgenden drei Unterabschnitte ein Beispiel und kann so beide Ziele dieses Kapitels auf einmal angehen.
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Inzwischen liegt hierzu eine recht umfangreiche Literatur vor. Siehe z. B. Akerlof (1976), Granovetter/Soong (1983), Platteau (1994), Schlicht (1998), Basu (2011), Cooter (2000), Posner (2000), Benabou/Tirole (2006), Fisman/Miguel (2007). Für eine interessante Ausführung zur Ausbreitung von Normen, siehe Funcke (2016). In Basu (1998) habe ich versucht, verschiedene Arten von Normen zu klassifizieren. Posner (1996) bietet eine rechtswissenschaftliche Perspektive darauf, wie Normen dazu führen können, dass Gruppen von Menschen aus ineffizienten Situationen nicht wieder herauskommen. Abbink/Freidin/Gangadharan/Moro (2016) haben gezeigt, wie soziale Normen unter Laborbedingungen entstehen und illegales Verhalten (hier: Bestechung) steuern können.
Zu den bekanntesten dieser Werke gehört das Buch von Gluckman (1955). Das indische Kastensystem ist ein gutes Beispiel eines Brauches, der das Verhalten ebenso zuverlässig lenkt wie ein penibel durchgesetztes Gesetz (Deshpande 2011). Einen interessanten Beitrag hierzu hat Malinowski (1921) mit einer seiner wenigen Veröffentlichungen in einem Economics-Journal geleistet. Zu dieser Literatur gehört auch Akerlofs (1976) Modell des indischen Kastensystems. Für mich war dieses Modell eine wichtige Motivation für einige eigene Arbeiten im Bereich der politischen Ökonomie (Basu 1986, 2000). Siehe auch Zambrano (1999). Wohlgemerkt können auch scheinbar informelle soziale Phänomene durch staatliches Wirken und das Recht erst ermöglich werden, wofür Rothsteins (2017) Studie zur Rassentrennung ein beeindruckendes Beispiel liefert.
In den späten 1980ern hatte ich in Princeton einmal eine Verabredung mit dem Nobelpreisträger Arthur Lewis. Natürlich wollte ich ihn nicht warten lassen, und so kam ich überpünktlich an seinem Büro an. Seinen ersten Satz werde ich nie vergessen: „Ihr Inder seid immer so pünktlich.“ Ich war erstaunt, denn mein Heimatland war eher für das Gegenteil von Pünktlichkeit bekannt. Hatte er in seinem gehobenen Alter vielleicht Inder mit Japanern verwechselt? Bald wurde mir aber klar, dass sein Bezugspunkt nicht Inder in Indien waren, sondern jene, die in den USA lebten und arbeiteten. Und viele von denen hatten in der Tat die Gewohnheiten ihrer Heimat hinter sich gelassen, hatten sich ihrer neuen Umgebung angepasst und waren pünktlich geworden – genau wie das obige Spiel vorhersagt. Doch selbst in Indien haben sich die Zeiten geändert. Als ich ab 2009 für knapp drei Jahre für die indische Regierung arbeitete, hatte ich das Gefühl, dass sich zumindest in Neu-Delhi die Pünktlichkeitsnormen rapide verbesserten. Es ist schwer zu sagen, was genau der Auslöser war, aber die Pünktlichkeit in der öffentlichen Verwaltung war ganz eindeutig besser als nur ein oder zwei Jahrzehnte zuvor. „Normierungsentrepreneure“ im Sinne von Sunstein (1996) werden dabei eine gewisse Rolle gespielt haben: Einige wenige Führungspersonen können solche Veränderungen oftmals durch das Beispiel ihres eigenen Verhaltens initiieren.
In seinem Aufsatz „Punctuality Pays“ berichtet James Surowiecki (New Yorker, 5. April 2004) von dem Versuch Ecuadors, quasi über Nacht, nämlich am 1. Oktober 2003, zu einer pünktlichen Nation zu werden, wobei das Land bis dahin eher für sein laxes Zeitgefühl bekannt war. Die Idee hinter dieser nationalen „Kampagne gegen die Unpünktlichkeit“ entsprach genau der unseres Modells, nämlich dass der Übergang vom unpünktlichen zum pünktlichen Gleichgewicht große Gewinne bringen kann, aber nur funktioniert, wenn alle mitziehen. Eine so tiefgreifende kulturelle Veränderung ist entsprechend schwierig zu erzielen. In Ecuador hat sich diesbezüglich auch wenig geändert.
Cooter (1994), McAdams (1995). Posner (2000, Kap. 8) liefert eine ausgezeichnete Zusammenfassung der rechtswissenschaftlichen Forschung zur Diskriminierung gegen Teile der Gesellschaft.
Zur Diskriminierung gegen gesellschaftliche Gruppen ist in den letzten 20 Jahren einige ökonomische Literatur entstanden (Kuran 1998; Varshney 2002; Genicot und Ray 2003; Basu 2005; Sen 2006; Esteban und Ray 2008; Akerlof und Kranton 2010; Morita und Servatka 2013; Mukherjee 2015; Landa 2016; Ray und Esteban 2017). Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist bemerkenswert zäh, sodass auch längst verstorbene Generationen noch heute die Identität neuer Gruppenmitglieder beeinflussen können (Tirole 1996).
Das in einer Gesellschaft vorhandene Maß an Diskriminierung hängt davon ab, wie wir messen. Dabei treten schwierige Fragen der Statistik und der Ethik auf, wie Subramanian (2011) umfassend diskutiert. Interessanterweise wird in diesem Artikel anerkannt, dass Diskriminierung im Zusammenhang mit externen Effekten durchaus auch eine positive Wirkung haben kann. Das bedeutet nicht, dass wir Diskriminierung tolerieren sollten, sondern nur, dass wir uns einiger schwieriger Abwägungen bewusst sein müssen.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Sozialgeschichte einer Gesellschaft das Identitätsgefühl seiner Mitglieder prägt. Durlauf (2001) weist beispielsweise darauf hin, dass die Erfahrung der Pest in Athen im Jahr 430 v. Chr. am „Charakter“ nachfolgender Generationen von Athenerinnen und Athenern abzulesen war. In der traditionellen Ökonomik werden individuelle Entscheidungen durch Interaktionen auf dem Markt geprägt. Ein umfassenderes Verständnis menschlichen Verhaltens, inklusive des Entstehens von Gruppenidentität, erfordert jedoch die Berücksichtigung des Einflusses sozialer Interaktion auf individuelle Entscheidungen. Modelle, die auf sozialer Interaktion beruhen, können zudem im Prinzip nicht nur individuelles Verhalten abbilden, sondern auch jenes von Gruppen (Blume/Durlauf 2003).
Dass die Neigung zu Diskriminierung wahrscheinlich nicht nur angeboren ist, stellt auch Tom Stoppard (1982, S. 57 f.) in seinem Theaterstück „The Real Thing“ sehr schön dar:
BILLY: You approve of the class system?
ANNIE: You mean on trains or in general?
BILLY: In general […]
ANNIE: There’s no system. People group together when they’ve got something in common. Sometimes its religion, and sometimes it’s […] being at Eton. […] There’s nothing really there – it’s just the way you see it. Your perception.
BILLY: Bloody brilliant. There’s people who’ve spent their lives trying to get rid of the class system, and you’ve done it without leaving your seat.
Ich spreche hier vom fokalen Punkt, obwohl eine förmliche Ausarbeitung dieser Idee möglicherweise ein mengenbasiertes Konzept des fokalen Ergebnisses erfordert (siehe Kap. 4).
Dies ist zugegebenermaßen nur eine statische Analyse der Effizienzwirkung von Diskriminierung. Neuere Forschung zu dynamischen Zusammenhängen hat unerwartete Verbindungen zwischen der Größe des zu verteilenden Kuchens und seiner tatsächlichen Verteilung zutage gefördert. Giraud/Grasselli (2017) entwickeln ein makrodynamisches Modell, in dem größere Ungleichverteilung zunächst zu einem größeren Kuchen führen kann, woraus aber eine Dynamik entsteht, die dann unweigerlich zu einem Zusammenbruch und somit zu einer drastischen Verkleinerung des Kuchens führt.
Streng genommen legt die Analyse also nahe, dass sich jeder als Teil einer Ein-Personen-Gruppe vermarkten sollte. Ein umfänglicheres Modell würde aber die kognitiven Einschränkungen des Beobachters berücksichtigen, der mit so kleinteiligen Informationen kaum umgehen kann. Dann würde klar, dass es keinen Sinn macht, eine beliebig kleine Gruppe zu definieren.
Ich habe andernorts (Basu 2014) ausführlich argumentiert, dass die reine Wissenschaft allein uns nicht hilft, der Welt zu helfen. Nur in Kombination mit eben jenem gesunden Menschenverstand und überlegter Intuition können aus Datenanalyse und Theoriebildung wertvolle Einsichten über das echte Leben erwachsen.
Zu den wichtigsten Forschungsergebnissen hierzu gehören Shih/Pittinsky/Ambady (1999) und Hoff/Pande (2006). Siehe auch Hoff/Stiglitz (2015) und World Bank (2015).
Diese Modellierung nehme ich im Kontext der politischen Ökonomie vor (Basu 2000) und gehe noch einen Schritt weiter, indem ich zeige, dass es sich sogar um ein teilspielperfektes Gleichgewicht handeln kann. Im nächsten Abschnitt werde ich ein Modell politischer Macht skizzieren, das auf der gleichen Logik basiert. Solche Modelle sind Teil einer weiterreichenden Literatur zu triadischen Interaktionen. Siehe auch Hatlebakk (2002), Villanger (2005) und Han (2016).
Die parametrischen Bedingungen, unter denen multiple Gleichgewichte auftreten können, lassen sich aus formalen theoretischen Modellen ableiten (siehe z. B. Basu/Van 1998; Swinnerton/Rogers 1999; Basu 2005; Doepke/Zilibotti 2005). Obgleich sich die ursprüngliche Theorie nicht auf ein Spiel, sondern auf ein wettbewerbliches Gleichgewichtsmodell bezog, sollte es möglich sein, ein entsprechendes spieltheoretisches Modell aufzustellen, das multiple Gleichgewichte erzeugt.
Im Gegensatz zu unseren bisherigen Modellen ist diese Argumentation nicht rein spieltheoretischer Natur; sie nutzt auch ein Merkmal wettbewerblicher Gleichgewichtsanalyse, nämlich dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Lohnniveau als gegeben annehmen.
Die empirische Literatur zu Kinderarbeit ist sehr umfangreich. Siehe z. B. Ray (2000), Emerson/Souza (2003), Bhalotra/Heady (2003), Cigno/Rosati (2005), Edmonds/Schady (2012), Bhardwaj/Lakdawala/Li (2013), Humphries (2013), Carpio/Loayza/Wada (2016), sowie Menon/Rogers (2018).
Bestimmte Arten von Verboten können das Problem der Kinderarbeit sogar noch verschlimmern; siehe hierzu Basu/Zarghamee (2009), sowie den Artikel von Tim Worstall in Forbes vom 15. März 2016 („India’s Mistake in Trying to Ban Child Labor“). Siehe auch Baradaran/Barclay (2011) und Bagenstos (2013).
Dieses Modell kann als Teil einer größeren Frage gelten, nämlich wie das formale Recht angewendet werden kann, um das Gewohnheitsrecht zu verändern. Aldashev/Chaara/Platteau/Wahhaj (2011, 2012) modellieren, wie der Staat mit Instrumenten des formalen Rechts eine Gesellschaft aus einem gewohnheitsrechtlichen Gleichgewicht herauslösen kann, in dem große Gruppen systematisch zugunsten der Eliten benachteiligt werden. Zu bedenken bleibt natürlich, dass formalrechtliche Regeln nicht fair sein müssen. Solche Instrumente haben all zu oft ausschließlich den Interessen der Kolonialherren gedient, z. B. um die unterdrückte Bevölkerung um ihre Rechte an Land und anderen Ressourcen zu bringen.
Der Unterschied zwischen einmaligen ‚nudge‘-Interventionen und permanenten Eingriffen wird bei langfristigen Modellen und generationsübergreifenden Systemen sehr wichtig. Der gesellschaftliche Nutzen einmaliger Eingriffe, die heute hohe gesellschaftliche Kosten aufwerfen, aber dann ohne weiteres staatliches Zutun sehr lange positiv wirken – wie z. B. eine Umstellung von Links- auf Rechtsverkehr im Einklang mit den Nachbarländern – wird oftmals unterschätzt. Deshalb kann man argumentieren, dass die Politik ‚nudge‘-Interventionen zu selten nutzt.
Es gibt viele andere solcher Normen, die wir mehr oder weniger internalisiert haben, darunter die Normen bezüglich Gerechtigkeit, Rache, Güte und Altruismus (Fehr/Gächter 2000; Platteau 2000). Zur Diskussion einige dieser Normen in Kontext der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts, siehe Jolls/Sunstein/Thaler (1998) und Cameron/Chaudhuri/Erkal/Gangadharan (2009).
Dies kommt der Idee der Rechtsdurchsetzung durch Dritte nahe, die von vielen Ökonomen diskutiert wird. Die Tücken solcher Strategien bespricht z. B. Ferguson (2013, Kap. 10). Meine Analyse unterscheidet sich jedoch dadurch, dass auch eine solche dritte Partei als Teil des Spiels betrachtet werden muss. Sie mag zwar aus Sicht der ersten und der zweiten Partei exogen erscheinen, ist aber dennoch ein endogener und integraler Bestandteil des Spiel des Lebens in seiner Gesamtheit.
Auch Davis (2016) stellt ein spieltheoretisches Modell des Rechts auf, das explizit zwischen Bürgern und staatlichen Funktionären unterscheidet. Er geht insofern noch weiter, als dass bei ihm die rechtsdurchsetzende Instanz keine homogene Akteursgruppe ist, sondern eine Behörde, die mehrere Jurisdiktionen umfasst.
Zu den verschiedenen Formen solcher Verweigerung gibt es eine umfangreiche empirische und theoretische Literatur, siehe z. B. Bernstein (1992) und Acemoglu/Jackson (2015).
Hier ist noch einmal W. H. Audens zugleich lyrischere und unausgereiftere Beschreibung des Rechts (aus seinem Gedicht „Law Like Love“):
Law is neither wrong nor right,
Law is only crimes
Punished by places and by times,
Law is the clothes men wear
Anytime, anywhere,
Law is Good-morning and Good-night.