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2008 | Buch

Sozialpolitik

Ökonomisierung und Entgrenzung

herausgegeben von: Adalbert Evers, Rolf G. Heinze

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung

Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung
Auszug
In der Diskussion des Verhältnisses von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik gab es immer geteilte Meinungen und Kontroversen, insbesondere zur Frage des wirtschaftlichen Werts der Sozialpolitik. Eines aber war bis in die jüngste Zeit konstant: die weitgehende Trennung von beiden Politikbereichen als Sektoren mit je eigenen Prioritäten und Wertorientierungen. Inzwischen ist es jedoch in der Sozialpolitik selbstverständlich geworden, hier auch wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Erwägungen Raum zu geben. Das betrifft die Frage der wirtschaftlichen Effekte von Reformen der Alterssicherungssysteme ebenso wie die wirtschaftspolitischen Effekte bestimmter Familienpolitiken oder die Diskussion des Gesundheitssystems als sozialpolitischem Garanten und wirtschaftlichem Wachstumsfaktor. Die Grenzen zwischen Sozialpolitik und anderen öffentlichen Politiken, speziell die Grenzziehungen zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik scheinen immer durchlässiger zu werden.
Adalbert Evers, Rolf G. Heinze

Soziale Investitionen. Zur Ökonomisierung der Sozialpolitik

Frontmatter
Ökonomisierung der Sozialpolitik? Neue Begründungsmuster sozialstaatlicher Tätigkeit in der Gesundheits- und Familienpolitik
Auszug
Ökonomische Entwicklung und Sozialpolitik stehen in engen Wechselwirkungen (Lampert 2002; Krupp/Webber 2002). Historisch ist der Wohlfahrtsstaat entstanden, um die als inakzeptabel empfundenen Verteilungswirkungen kapitalistischer Ökonomien redistributiv zu korrigieren. Ähnlich war der Sozialstaat auch beim Wiederaufbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg unverzichtbar — in Deutschland (Achinger 1958; Kaufmann 2003), aber auch in anderen Ländern (Flora/Heidenheimer 1981). Sozialpolitik hat in diesem Kontext eine kompensatorische Funktion und kann als Problemlöser verstanden werden. Entsprechend wird auch in Bezug auf den seit Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems einsetzenden und sich seit Ende des vorigen Jahrhunderts intensivierenden Globalisierungsschubs argumentiert, dass diese Globalisierung nur möglich war und ist, weil wohlfahrtsstaatliche Arrangements die Verluste der Globalisierungsverlierer kompensieren und der Sozialstaat in dieser Beziehung als funktionales Äquivalent zu protektionistischen Wirtschaftspolitiken angesehen werden kann (Leibfried/Rieger 2001). Zugleich wird der Sozialstaat aber auch als Problemverursacher angesehen, der die Leistungsbereitschaft seiner Klientel unterminiert und so zum „Problem für sich selbst“ (Vobruba 1978; vgl. auch Offe 1972) wird, und durch die zu seiner Finanzierung notwendigen Abgabenlasten, die Position der eigenen Volkswirtschaft im internationalen Standortwettbewerb um mobiles Kapital verschlechtert (vgl. z.B. Krugmann 1995; Siebert 2000).
Heinz Rothgang, Maike Preuss
Ökonomisierung der Lebenswelt durch aktivierende Familienpolitik?
Auszug
Für viele überraschend wechselte die deutsche Familienpolitik: in den letzten Jahren ihre Ziele, schuf neue Instrumente und verwarf alte. Man kann durchaus von einem familienpolitischen Paradigmenwechsel sprechen und diesen annäherungsweise als „Ökonomisierung der Lebenswelt“ bezeichnen. Der Wechsel stand und steht bis heute im Zusammenhang mit einer grundsätzlicheren Neuprogrammierung der deutschen Sozialpolitik, wie sie von der Regierung Schröder mit der an OECD-Vorschläge und EU-Vorgaben angelehnten Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden sollte. Die OECD hatte ihr auf die Familie gerichtetes Aktivierungsparadigma wie folgt beschrieben: „The new social policy agenda is how to achieve social solidarity through enabling individuals and families to support themselves ...“ (OECD 1999: 4). Der OECD Employment Outlook 2001 begründete dieses Paradigma ausführlicher. So heißt es dort in der Einleitung zum Kapitel, das Maßnahmen der Work-Life-Balance in den OECD-Ländern vergleicht:
„The main policy concern addressed is that of encouraging a higher participation by mothers in paid employment. This is important to maintain their labour market skills, to ensure adequate resources for families and women living by themselves, and to make further progress towards gender equity. In addition, the skills of mothers will be increasingly needed in the labour market as the population of working age in most OECD countries begins to shrink. The chapter notes the probable relevance of the work/family relationship to fertility — the low fertility rates seen in most OECD countries will exacerbate shortfalls in labour supply if they continue“(OECD 2001: 29).
Ilona Ostner
Ökonomische Funktionalität der Familienpolitik oder familienpolitische Funktionalisierung der Ökonomie?
Auszug
Üblicherweise wird von der mit der „Logik des Industrialismus“ argumentierenden funktionalistischen Schule der Sozialpolitikforschung ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Entwicklung unterstellt: Erst ab einem bestimmten Niveau wirtschaftlicher „Reife“ entstehe staatliche Sozialpolitik, und ihr Ausbaugrad werde entscheidend von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen determiniert (Zöllner 1963, Wilensky 1975, Schmidt 1997). Angesichts eines im langjährigen Durchschnitt geringen Wirtschaftswachstums und einer (nach Maastrichtkriterien seit 2002: zu) hohen Neuverschuldung scheinen die jüngeren Entwicklungen in der deutschen Familienpolitik auf den ersten Blick einen Widerspruch zu diesem theoretischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Sozialpolitik darzustellen. Während die Reform von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld im Jahr 2000 „nur“ auf die Flexibilisierung bestehender Regelungen abzielte und dabei sogar noch Kosten einsparte1, erfolgte mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) seit 2005 und mit dem ab 1.1.2007 eingeführten Elterngeld tatsächlich ein Ausbau familienpolitischer Leistungen. So steigt die Ausgabenlast durch die Umstellung vom alten Erziehungsauf das neue Elterngeld von 2,85 Mrd. Euro auf rund 4 Mrd. Euro pro Jahr (Müller-Heine 2006: 62), und für den im TAG angestrebten Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren um 230.000 Plätze bis zum Jahr 2010 wurden 1,5 Mrd. Euro jährlich veranschlagt (BMFSFJ 2006a: 4).
Sigrid Leitner
Ökonomisierung, Pflegepolitik und Strukturen der Pflege älterer Menschen
Auszug
Im Verlauf der 1990er Jahre waren die Wohlfahrtsstaaten westlicher Gesellschaften mit neuen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. Diese waren in exogenen Prozessen wie der „Globalisierung“ und der EU-Integration begründet wie auch in endogenen Prozessen sozialen und ökonomischen Wandels in den europäischen Gesellschaften (Esping-Andersen, 1999). Auf der Grundlage neuer politischer Leitideen, mit denen die Regierungen versuchten, diese neuen Herausforderungen zu bewältigen, fand vielfach eine Restrukturierung der Wohlfahrtsstaaten statt. Der Wandel war zu einem erheblichen Anteil von Prozessen geprägt, die im Allgemeinen als „Ökonomisierung“ wohlfahrtsstaatlicher Politiken gekennzeichnet werden. Prinzipien von Effizienz und Markt gewannen an Bedeutung für die gesellschaftliche Organisation sozialer Sicherung und sozialer Dienstleistungen. Dieser Beitrag befasst sich mit den Wirkungen der Ökonomisierung im sozialen Feld der Altenpflege. Es wird gefragt, inwieweit die Ökonomisierung der ambulanten Pflege dazu beigetragen hat, dass die durch die Pflegeversicherung geschaffenen Optionen für die privaten Haushalte, professionelle Pflegedienstleistungen durch ambulante Anbieter in Anspruch zu nehmen, in einem vergleichsweise geringen Umfang genutzt werden. In einem ersten Teil wird erläutert, was die Autoren/-innen unter „Ökonomisierung“ verstehen. In einem zweiten Teil wird umrissen, inwieweit das Pflegeversicherungsgesetz die Ökonomisierung im Feld der Altenpflege gefördert hat.
Birgit Pfau-Effinger, Ralf Och, Melanie Eichler
Wirtschaftspolitik „schlägt“ Sozialpolitik: Die Rentenreformen in den Staaten Mitteleuropas
Auszug
Institutionelle Wohlfahrtsanalysen konzentrieren sich auf die Art und Weise, wie sich soziale und wirtschaftliche Faktoren auf Sozialpolitik auswirken und wie aufgrund dessen institutionelle Unterschiede zu erklären sind. Sozialpolitik weist in diesem Kontext eine hohe Eigendynamik auf, die sich auf die Binnenkomplexität der modernen Wohlfahrtsstaaten zurückführen lässt. Diese Binnenkomplexität ist in besonderer Weise auch davon geprägt, in welchem Verhältnis Wirtschafts- und Sozialpolitik zueinander stehen. Die Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten unterschiedlich austariert. Esping-Andersen legt seiner Wohlfahrtsstaats-Typologie drei Kriterien zugrunde: den Grad der Dekommodifizierung, den Einfluss auf die gesellschaftliche Stratifikation und den Welfare-Mix. Diese drei Unterscheidungskriterien geben auch einen Hinweis auf das Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik: In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten spielt die Sozialpolitik gegenüber der Wirtschaftspolitik eine dominante Rolle, während dieses Verhältnis in liberalen Wohlfahrtsstaaten umgekehrt ist. In konservativen Wohlfahrtsstaaten kann dagegen von einem eher ausgewogenen Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgegangen werden. Erweitert man Esping-Andersens Typologie — wie dies verschiedene Autoren anregen1 — so wäre nicht nur der Typus des postautoritären Wohlfahrtsstaates hinzuzufügen, sondern auch ein postsozialistischer Typus.
Barbara Wasner
Grenzverschiebungen. Das Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene und die Neubestimmungen des „Sozialen“
Auszug
Politische wie wissenschaftliche Debatten über das Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik bleiben unvollständig, wenn sie nicht die EU-Ebene sowie die dort stattfindenden Auseinandersetzungen und Politikentwicklungen systematisch mit in Betracht ziehen. Der „Quellcode“ europäischer Sozialstaatlichkeit wird seit den 1990er Jahren maßgeblich auf europäischer Ebene verhandelt, wobei das Verhältnis von Sozial- und Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene neu ausbalanciert wird. Dabei werden die Interessen am Sozialstaat auf EU-Ebene neu definiert, wobei seit den 1990er Jahren ein Diskurs der Wettbewerbsfähigkeit und der Modernisierung dominant ist, innerhalb dessen Sozialpolitik sich einem erheblichen Rechtfertigungszwang v.a. in den Bereichen ausgesetzt sieht, die auf mitgliedstaatlicher Ebene in der Nachkriegszeit in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang „entmarktlicht“ und in Sozialrecht gegossen worden sind. Als bewusste Abkehr von den „politics against markets“ (Esping-Andersen) geht der von der europäischer Ebene verfolgte Primat der „politics for markets“ (van Kersbergen 2000, 27) damit einher, dass den Mitgliedstaaten zugleich legitimativ (Lissabon-Strategie; Binnenmarktschaffung und -liberalisierung etc.) und faktisch (supranationale Selbstbindungen; restringierte sozialpolitische Entscheidungsspielräume auf EU-Ebene etc.) die klassischen sozialpolitischen Instrumente für eine Politik des sozialen Beschützens abhanden kommen — und zudem die Sozialabgaben, Arbeitspolitiken, Löhne und Steuern zu den wesentlichen Anpassungsvariablen gegenüber internen Herausforderungen und exogenen Schocks, wie dem regionalen und globalen Standortwettbewerb, aufgestiegen sind. Dieser Beitrag argumentiert, dass die neue europäische politische Ökonomie sich indes nicht allein als liberalistische „politics for markets“ verstehen lässt, sondern dass es sich im Kern zugleich um eine politics with markets handelt, die in den nationalen Wohlfahrtsstaaten zunehmend ihre Entsprechung findet.
Wolfram Lamping

Wohlfahrt und Wachstum. Die Entgrenzung der Sozialpolitik als Öffnung zur Wirtschaftspolitik

Frontmatter
Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft? Wie Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftsmodell zusammenhängen
Auszug
Der westliche Wohlfahrtsstaat existiert nur im Plural. Nach (1990) gibt es drei verschiedene Welten: eine sozialdemokratische, eine liberale und eine konservative. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten beruhen auf universalistischen Sozialversicherungssystemen mit relativ hohen Leistungen, die einen hohen Grad an Schutz vor Marktrisiken bieten, und das unabhängig vom Einkommen. Der Anteil der Steuerfinanzierung ist hoch und damit auch das Ausmaß der Umverteilung. Die Dekommodifizierung — die Abkopplung sozialer Sicherheit vom Arbeitsmarkt — ist in diesem Typus am größten. Die nordischen Länder entsprechen laut Analysen von Esping-Andersen diesem Typus.
Christoph Strünck
Status quo vadis? Die Pluralisierung und Liberalisierung der „Social-Politik“: Eine Herausforderung für die politikwissenschaftliche und soziologische Sozialpolitikforschung
Auszug
Sowohl in der Soziologie als auch in der Politikwissenschaft gibt es eine Reihe von Studien, die für die Sozialpolitik das Vorhandensein einer gegenüber ihrer Umwelt (Ökonomie und politisch-administratives System) relativ autonomen bzw. verselbstständigten Konfiguration von Akteuren, Interessen und Machtverhältnissen identifiziert haben, die sich strukturell als stabil erweist und zwischen Staat und Gesellschaft eine intermediäre Stellung einnimmt. In der Politikwissenschaft wird dieser Befund vor allem in Studien der Policy-Forschung herausgestellt. Diese interessiert sich für die Sozialpolitik als Politikfeld, worunter jene institutionelle, prozessuale und materielle Politik gezählt wird, die sich darauf richtet, die soziale Sicherheit der Bevölkerung gesamtgesellschaftlich verbindlich zu regeln (Schmidt 2004: 654). In der Soziologie tragen zu dieser Phänomenologie der Sozialpolitik Studien bei, die die Sozialpolitik unter dem Gesichtspunkt der Genese und Entwicklung eines Sozialsektors thematisieren (Kaufmann 2005: 231). Der Begriff des „Sozialsektors“ spricht dabei „Prozesse institutioneller Verselbstständigung im umstrittenen Grenzbereich zwischen Staat einerseits und Gesellschaft andererseits“ (ebd.) an, was, wie Kaufmann (ebd.) konstatiert, genau dem „Gedanken“ entspricht, „der das früheste Konzept von Social-Politik2 geprägt hat“.
Christine Trampusch
Irrwege und Umwege in die neue Wohlfahrtswelt
Auszug
Ein Wohlfahrtsstaat, der die Verteilung des Volkseinkommens im Blick hat, sollte die Schaffung des Volkseinkommens nicht vernachlässigen. Hinter dieser banalen Forderung verbirgt sich ein Grundkonflikt der Sozialpolitik. Er entzündet sich an der Frage, ob und inwieweit wohlfahrtsstaatliche Politik das zur Verteilung stehende Volkseinkommen mehrt oder — im Gegenteil — negative Wachstums- und Beschäftigungseffekte zeitigt. Nachdem er noch in den 1970er Jahren als „vierter Produktionsfaktor“ gegolten hatte1, werden dem deutschen Wohlfahrtsstaat in der Zwischenzeit wachstumshemmende Wirkungen nachgesagt. Die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik war über viele Jahre mit abnehmenden Verteilungsspielräumen konfrontiert und ist dabei von ihrer einstigen Pionierrolle in eine Nachzüglerposition geraten. Die maßgeblichen Ursachen sowie mögliche Reformperspektiven sollen im Folgenden skizziert werden. Dabei werden Zusammenhänge zwischen wegweisenden politischen Weichenstellungen und der Entwicklung der Wirtschaft und Staatsfinanzen sowie der gesellschaftlichen Wohlfahrtsbilanz besonders herausgestellt.
Roland Czada
Wohlfahrtsstaat und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit: Zur Neujustierung eines angespannten Verhältnisses
Auszug
Die soziologischen Debatten zur Zukunft des Sozialstaats konzentrierten sich in den letzten Jahren stark auf das engere sozialpolitische Terrain und gingen von einer relativ großen Autonomie der Politikgestaltung aus, vernachlässigten dabei aber die funktionalen Interdependenzen zwischen der Ökonomie und den sozialpolitischen Sicherungssystemen. Zwar wurden in verschiedenen Beiträgen die Reformhindernisse und Selbstblockaden der einzelnen sozialpolitischen Systeme thematisiert und es gab auch eine intensivere Diskussion um den Wandel vom „Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat“, eine grundlegende Funktionsdebatte, die strukturelle „Störungen“ der wechselseitigen Bezüge und deren Überwindungsmöglichkeiten in den Vordergrund stellt, ist aber erst im Entstehen. Gerade weil der Wohlfahrtsstaat nur in seiner Doppelfunktion adäquat zu begreifen ist (vgl. Lenhardt/Offe 1977 sowie die Beiträge in Vobruba 1989), also einerseits Funktionsvoraussetzung einer wettbewerbsfähigen und globalisierten Wirtschaft ist und andererseits in einem Spannungsverhältnis zu der Marktlogik steht, sind Überlegungen zur politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates gerade auch vor dem Hintergrund des nicht unerheblichen Sanierungsbedarfs der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sowohl für die sozialwissenschaftliche Forschung als auch für politische Reformprojekte von Bedeutung. Damit sollen nicht die enormen Integrationsleistungen der sozialpolitischen Sicherungssysteme in Frage gestellt werden. Mit der Erosion des deutschen „Prosperitätsmodells“ werden nun aber auch — wie in vergleichbaren Ländern — Zielkonflikte zwischen einer ausgebauten Sozialpolitik und wirtschaftlicher Dynamik sichtbarer.
Rolf G. Heinze
Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken
Auszug
Die folgenden Überlegungen bauen auf einer Annahme auf, die in diesem Beitrag selbst nicht belegt werden kann. Seit einigen Jahrzehnten bildet sich im Kontext von Globalisierung, neuen technologischen Entwicklungen und tiefgreifenden politischen und kulturellen Brüchen mit veränderten Gesellschaftspolitiken auch so etwas wie eine neue Generation von Sozialpolitiken heraus. Sie unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von denen der „trentes glorieuses“, der mehr oder minder störungsfreien Rekonstruktions-, Konsolidierungs- und Wachstumsphasen, die bis in die Zeit der 1980er Jahre hinein reichte. Die Rede von einer „neuen Generation“ zielt auf Gemeinsamkeiten jenseits des Umstands, dass natürlich auch heute liberale, konservative oder sozialdemokratische Parteien Sozialpolitik unterschiedlich akzentuieren. Der Duktus dieser neuen Generation von Sozialpolitiken unterscheidet sich vor allem an zwei Punkten von den Sozialpolitiken der vorangegangenen Generation:
1.
Sozialpolitiken sind heute weit weniger, als das noch bei der Nachkriegsgeneration der Fall war, ein abgegrenztes Terrain, in dem vor allem anderen genuin soziale Maximen tonangebend sind — wie z. B. sozialer Schutz, Sicherheit und die Verringerung von Ungleichheiten; heute werden sie sehr viel mehr mit Blick auf ihren Beitrag zu wirtschaftlicher Entwicklung und Modernisierung konstruiert und bewertet. Das ist der Kern des „investive turn“ in der Sozialpolitik, dessen, was international als investive Sozialpolitik, Sozialinvestitionsstaat u. Ä. bezeichnet wird.
 
Adalbert Evers

Fördern und Fordern. Die Entgrenzung der Sozialpolitik in Bezug auf Gesellschafts- und Demokratiepolitik

Frontmatter
Fördern, Fordern, Lenken — Sozialreform im Dienst staatlicher Eigeninteressen
Auszug
Die familienpolitischen Initiativen der jüngsten Zeit erfahren derzeit viel Aufmerksamkeit, weil sich in ihnen der aktuelle Politikwechsel zu einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik in besonderer Weise widerspiegelt: An die Stelle des sozialen Ausgleichs, der lange Zeit die Leitidee der Familienpolitik bildete1, tritt nun der Gedanke der Sozialpolitik als Hilfe zur Selbsthilfe. Die Sozialpolitik erhält danach die Aufgabe, den Bürgern Erwerbstätigkeit in möglichst allen Lebenslagen zu ermöglichen, diese auch einzufordern, während die in den verbleibenden Situationen gewährten sozialpolitischen Leistungen als Kompensation für entgangenes Erwerbseinkommen aufgefasst werden. Das seit 2007 geltende Elterngeld ist als Lohnersatzleistung ausgestaltet — das kompensierende Element — und es begünstigt Eltern, die über ein relativ hohes Erwerbseinkommen verfügen: Diese Eltern können bis zu 1800 EUR Elterngeld beziehen, während Geringverdiener sehr viel weniger bekommen und an Nichterwerbstätige gar nur der Grundbetrag von 300 EUR bezahlt wird (vgl. Müller-Heine 2006)2. Gleichzeitig — das aktivierende Element — ist die Bezugsdauer auf ein Jahr verkürzt, und die neue Elterngeldregelung wird begleitet von einem massiven Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für sehr kleine Kinder. Die Familienpolitik verfolgt damit sehr viel ausgeprägter und offener als es in diesem Politikfeld bisher der Fall war inhaltliche Gestaltungsziele. Familienpolitische Maßnahmen sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (vor allem für gut verdienende Frauen) fördern und sich damit auf die Geburtenrate und die weibliche Erwerbsbeteiligung gleichermaßen positiv auswirken.
Margitta Mätzke
Disziplinieren und Motivieren: Zur Praxis der neuen Arbeitsmarktpolitik
Auszug
Die neue Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik lässt sich unschwer als Schritt in Richtung einer Ökonomisierung (oder, in [2001] Terminologie: einer Rekommodifizierung) von Sozialpolitik interpretieren, steht sie doch mit ihrer Ausrichtung am Ziel der Integration Arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit Bedrohter in den ersten Arbeitsmarkt schon von ihrer gesetzlichen Grundlage her unter recht eindeutigen Vorzeichen. Im SGB III sind die Leistungen der Arbeitsförderung „insbesondere darauf auszurichten, das Entstehen von Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen“ (§ 1 Abs. 1 Satz 2 SGB III), und §5 SGB III dekretiert: „Die Leistungen der aktiven Arbeitsförderung sind ... einzusetzen, um sonst erforderliche Leistungen zum Ersatz des Arbeitsentgelts bei Arbeitslosigkeit nicht nur vorübergehend zu vermeiden und dem Entstehen von Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen.“ Ähnliches gilt auch für das SGB II. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) soll die „Eigenverantwortung“ der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stärken (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II). § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB II nennt als erstes die Unterstützung bei Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit und erst dann die Sicherung des Lebensunterhalts als Ziel. § 1 Abs. 1 Satz 4 SGB II führt dann noch einmal explizit an, die Leistungen der Grundsicherung seien insbesondere darauf auszurichten, „dass 1. durch eine Erwerbstätigkeit Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird, 2. die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen erhalten, verbessert oder wiederhergestellt wird“.
Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann
Sozialpolitische Verbraucheraktivierung. Konsumsubjekt und Bürgergemeinschaft in der Marktgesellschaft
Auszug
Im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs richten sich politische Begehrlichkeiten und Ambitionen vermehrt auf die Verbraucher1. Wo Zugriffsmöglichkeiten der staatlichen Handlungsagenturen schwinden, werden die nicht-staatlichen Akteure, insbesondere Unternehmen und Verbraucher, aufgewertet und mit der normativen Erwartung konfrontiert, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Das gilt insbesondere für „Dritte Wege“ der Sozialpolitik, die das Feld der Marktwirtschaft nicht mehr als feindliches Territorium begreifen, sondern offensiv in ihre Gestaltungsansätze einbeziehen und dort handelnde Akteure deshalb nicht als Störgröße, sondern als Kooperationspartner betrachten. Insbesondere der Aktivierungsgedanke dieser Sozialpolitik wird entgrenzt und findet nicht nur auf das Erwerbssubjekt, sondern zunehmend auch auf schwer zu steuernde Verbraucher Anwendung. Leitbilder eines Consumer-Citizen, der seine Wahlhandlungen in Marktumgebungen immer schon mit Gesichtspunkten des Gemeinwohls verknüpft, oder des CitizenConsumer, der die Effizienzvorteile der exitOption auch gegenüber öffentlich-rechtlichen Leistungsanbietern wirksam zur Geltung bringt (vgl. Giddens 2003: 18), sind Teil einer Lösungskonstruktion für einige der dringlichsten politischen Steuerungsprobleme unserer gesellschaftlichen Gegenwart. Gerade mit Blick auf die Sozialpolitik und ihre Aktivierungsansätze sind die Bedingungen und Reichweiten allerdings sehr genau zu analysieren, unter denen öffentliche Funktionen einer Aktivbürgerschaft von Konsumenten übernommen werden können, ohne dass diese zum Ausfallbürgen für den politischen Souveränitätsverlust des Staates werden.
Jörn Lamla
Society matters. Die kommunikationspolitische Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat
Auszug
Das Motiv der aktiven Gesellschaft greift auf eine Reformperiode der 1960er Jahre zurück (vgl. Etzioni 1975, zuerst erschienen 1968), in der die Nachkriegsmodernisierung im Westen ihren Höhepunkt erreichte und zugleich an ihre Grenzen zu stoßen begann. Es war nach der Gründungsperiode am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine zweite konstituierende Phase der Soziologie (vgl. Burawoy 2005). In der aktiven Gesellschaft kamen amerikanisch-liberale und europäisch-sozialistische Motive für einen historischen Moment zusammen, in dem Gesellschaft als Gesellschaft interdependenter Individuen (Elias 1999) tatsächlich Gestalt zu gewinnen schien. Lange bevor sich kommunistaristische und libertäre Interpretation sozialen Zusammenlebens von Individuen in entgegengesetzter Richtung zu entwickeln begannen, waren tatkräftige Individuen — und ihre Familien — und Gesellschaft fast synonym. Man könnte diesen Moment auch einen romantischen nennen, insoweit zumindest die frühe Romantik einen Sinn für den Menschen im Plural und die unveräußerliche Verschlingung von Individuum und Gesellschaft hatte (Bohrer 2006). Kein Zweifel, dass das Bewusstsein dieser dialektischen Einheit von „sozialer“ Gesellschaft und „individueller“ Tätigkeit ein Stück weit verloren gegangen ist, vielleicht verloren gehen musste, um ihrem widersprüchlichen Inhalt Raum zu geben. Auf der einen Seite sprießen seitdem Vorstellungen einer liberalen Tätigkeitsgesellschaft, die zugleich mehr und weniger als die durch Erwerb geprägte Arbeitsgesellschaft ist. Sie ist mehr, weil sie die ganze Komplexität des Lebens zu umfassen sucht und weniger, wenn es um die Institutionen geht, die diesem Prozess Gestalt geben sollen. Noch in der heutigen Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen sind diese alten Spuren anzutreffen, wenn die Befürworter einen emphatischen Begriff der Tätigkeit verfolgen, aber bei der Finanzierung die Zuwendungen knapp über der Sozialhilfe zusammenschnurren. Die Gegner wiederum richten sich allzu häufig auf einer Vorstellung von Arbeit ein, deren Grundlagen im globalen Strukturwandel erodieren. Für die einen schrumpft so die aktive Gesellschaft zur Nötigung der Individuen, auch noch für das geringste Einkommen alles zu geben, während für die anderen die aktive Gesellschaft bereits durch die Emanzipation der Arbeiterklasse von den Zwängen obrigkeitsstaatlicher Vergesellschaftung gegeben war.
Hermann Schwengel
Backmatter
Metadaten
Titel
Sozialpolitik
herausgegeben von
Adalbert Evers
Rolf G. Heinze
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90929-5
Print ISBN
978-3-531-15766-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90929-5