Das Kapitel widmet sich der sozialtheoretischen Fundierung der Praxistheorie und deren Verbreitung in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, darunter die Soziale Arbeit und die Erziehungswissenschaft. Es wird die Heterogenität und Vielseitigkeit der Praxistheorien beleuchtet, die aus einer Pluralität soziologischer und philosophischer Wurzeln schöpfen. Die Praxistheorie wird als eine Heuristik verstanden, die bestimmte Phänomene und Zusammenhänge sichtbar macht und deren empirische Erforschung anregt. Ein zentrales Anliegen ist die Rekonstruktion der Verflechtungen von Menschen, Technologien und Organisationen in ihrer Performativität. Dabei wird die flache Ontologie der Praxistheorie betont, die das Soziale in Praktiken und nicht in übergeordneten Strukturen verortet. Die Normativität von Praktiken wird durch das praktische Verstehen, explizite Regeln und teleoaffektive Strukturen bestimmt. Die Materialität von Praktiken wird durch die Einbindung von Körpern und Artefakten hervorgehoben, wobei die Rolle von Artefakten in der Akteur-Netzwerk-Theorie und bei Schatzki diskutiert wird. Die Teilnehmerschaft in Praktiken wird als ein dynamischer Prozess beschrieben, in dem sich die Positionen der Teilnehmer:innen kontinuierlich verändern. Schließlich wird die Verkettung und Verwicklung von Praktiken zu Bündeln und Komplexen untersucht, wobei die Relationalität und Dynamik der Praktiken im Vordergrund stehen.
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Zusammenfassung
Ein praxeologisches Vokabular hat sich in nahezu allen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern verbreitet – wozu auch die Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft mitzuzählen sind – und ist forschungsleitend für eine Reihe von Arbeiten zu Wissenschaft, Arbeit, Organisation und Technik. Unter dem Label „Praxistheorien“ versammelt sich ein heterogenes und teils disparates Feld an Arbeiten aus unterschiedlichsten Disziplinen. Die sukzessive Verbreitung und Etablierung von Praxistheorien erklärt sich auch aus dieser Heterogenität, denn „[d]ie Praxistheorie als eine Sozialtheorie hat bisher keine abgeschlossene, durchsystematisierte Form gefunden“.
Ein praxeologisches Vokabular hat sich in nahezu allen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern verbreitet – wozu auch die Soziale Arbeit (u. a. Dahmen 2022) und Erziehungswissenschaft (u. a. Carnin 2020, Bollig/ Kelle 2014, Kelle 2018) mitzuzählen sind – und ist forschungsleitend für eine Reihe von Arbeiten zu Wissenschaft, Arbeit, Organisation und Technik (Schäfer 2013: 13 & Schatzki 2001: 10 f.). Unter dem Label „Praxistheorien“ versammelt sich ein heterogenes und teils disparates Feld an Arbeiten aus unterschiedlichsten Disziplinen (Schäfer 2016). Die sukzessive Verbreitung und Etablierung von Praxistheorien erklärt sich auch aus dieser Heterogenität, denn „[d]ie Praxistheorie als eine Sozialtheorie hat bisher keine abgeschlossene, durchsystematisierte Form gefunden“ (Reckwitz 2003: 289). Die Vielseitigkeit der Praxistheorien lässt sich auf ihren reichen Ideenpool zurückführen, der aus einer Pluralität soziologischer und philosophischer Wurzeln schöpft. Zwei der frühen Protagonisten von Praxistheorien, Giddens und Bourdieu, beziehen sich in ihren Werken auf Autoren wie Marx, Heidegger, Husserl, Goffmann, Durkheim und Weber. Berücksichtigt man die unterschiedlichen Wurzeln sowie die Vielzahl der unter dem Begriff der Praxistheorie versammelten Autor:innen, gestaltet sich die Formulierung einer einheitlichen Definition von Praktiken als anspruchsvoll.
Im Folgenden sollen verschiedene Facetten beleuchtet werden, um ein Verständnis von Praktiken zu entwickeln, auf dem die nachfolgende Arbeit aufbaut. Praxistheorien sollen als eine, die Empirie anregende Heuristik verstanden werden, „die bestimmte Phänomene und Zusammenhänge zuallererst sichtbar macht und ihre empirische Erforschung anregt [Hervorh. im Original]“ (Reckwitz 2015: 28). Als Heuristik sind Praxistheorien geeignet, um die Verflechtungen von Menschen, Technologien und Organisation in ihrer Performativität zu rekonstruieren. „Die schwächere Theorieanlage einer bloßen Heuristik lässt bei ihrer Durchführung alle stärkeren Theorien und Geschichtsschreibung unterliegen, denn sie entzieht der asymmetrischen Zuordnung von Ursachen und Folgen den ontologischen Boden“ (Schüttpelz 2016: 239). Mit einer praxeologischen Heuristik gelingt die indeterministische Darstellung digitaler Technologien, in der auf die Vorgängigkeit von Explanans und dem kausal abgeleiteten Explanandum verzichtet werden kann: Weder digitale Technologie noch Organisationen, die beide im Zentrum dieser Arbeit stehen, tauchen insofern als Substanzen auf, sondern als vorläufige Resultate von Prozessen, als Effekte eines performativen Tuns. Das Ziel von Praxistheorien ist es, die Praxis allen anderen Erklärungsgrößen vorzuordnen (Schüttpelz 2020).
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Um einen ersten Zugriff auf den Gegenstand von Praxistheorien zu erhalten, sollen verstärkt die Positionen von Schatzki und Rouse rezipiert werden, da beide einen systematischen Begriff von Praktiken entwickelt haben. Nachdem in Abschnitt 2.1 sowie 2.2 die Basisannahmen und die allgemeine Normativität von Praktiken erläutert werden, sollen darauffolgend – auch unter Rückgriff auf weitere Protagonist:innen der Praxistheorien – an drei für die Arbeit besonders relevante Argumentationsstränge der Praxistheorie angeknüpft werden: Praktiken vollziehen sich in Verbindung mit Artefakten und Körpern (Abschn. 2.3), Praktiken stellen Teilnehmende-Positionen bereit (Abschn. 2.4) und Praktiken verbinden sich miteinander zu Bündeln wie Komplexen (Abschn. 2.5).
2.1 Basisannahmen Praxistheorien
Als ein weitgefasster Ansatz lassen sich Praxistheorien vor allem durch ihre Absetzbewegung von klassischen Sozialtheorien verstehen. „[S]ie [die Praxistheorie] tut es auf einer ersten sehr elementaren und allgemeinen Weise dahingehend, wo, das heißt: auf welcher Ebene sie ‚das Soziale‘ verortet, wie sie ‚das Soziale‘ versteht [Hervorh. im Original]“ (Reckwitz 2003: 286). Die verschiedenen Ansätze haben gemein, dass sie versuchen, eine Reihe etablierter philosophischer und soziologischer Dichotomien zu überwinden. Dazu gehören die Unterscheidung zwischen Struktur und Handlung, Subjekt und Objekt, einer Regel und ihrer Anwendung, der Makro- und der Mikroperspektive sowie zwischen Gesellschaft und Individuum (Schäfer 2013: 18). Auf die Frage nach dem Ort des Sozialen verfolgen Praxistheorien die Idee einer „flachen Ontologie“ (Schatzki 2016). Anstelle einer Mikro-Meso-Makro-Differenz heben Praxistheorien auf den Netzwerkcharakter aller sozialen Phänomen ab. Dreh- und Angelpunkt ist das Feld der Praktiken (Schatzki 2001: 11), das als Gesamtheit der miteinander verknüpften Aktivitäten – ein „organized nexus of actions“ (Schatzki 2002: 71) – zu verstehen ist. Flach sind Praxistheorien, weil sie das Soziale in Praktiken und nicht in subjektübergreifenden Strukturen wie Diskursen, Systemen oder Kommunikation verorten. „Praktiken bilden […] eine emergente Ebene des Sozialen, die sich jedoch nicht ‚in der Umwelt‘ ihrer körperlich-mentalen Träger befindet“ (Reckwitz 2003: 289). Eine flache Ontologie spielt sich ausschließlich auf einer Realitätsebene ab, das heißt alle sozialen Phänomene konstituieren sich auf dieser Ebene (Schatzki 2016: 30).
Soziale Phänomene etwa Organisationen, Staaten oder Märkte sind letztlich zusammenhängende Bündel und Komplexe aus Praktiken, die „durch hochgradig ontologische Gleichheit gekennzeichnet sind“ (Schatzki 2016: 33). Insofern gerät das Performative, die praktischen Vollzüge als ordnende Kraft für sich in den Blick, ohne eine „Erklärung überzustülpen, die suggeriert, dass in ihnen eigentlich eine andere Kraft oder Autorität am Werk ist“ (Volbers 2014: 78). Mit der Umstellung auf Praktiken, die in ihren Verflechtungen performativ jene Ordnungen „ausformen, perpetuieren und verändern“ (Alkemeyer et al. 2015: 39), wird „zusammen mit dem cartesianischen Körper-Geist-Dualismus auch der methodologische Gegensatz von Individualismus und Holismus“ (ebd.) überwunden. Sozialität erscheint in Praxistheorien nicht als etwas Abstraktes, sondern immer als Konkretes. Soziale Ordnungen existieren allein im Modus des Performativen (Reh et al. 2015: 302).
Für die Fokussierung auf die Verortung des Sozialen in Praktiken und deren Vernetzung ist die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses von Praktiken zentral. Praktiken können in Anschluss an Schatzki (2012) verstanden werden als:
„[a]n open-ended, spatially-temporally dispersed nexus of doings and sayings. Practices are open-ended in the sense that they are not composed of any particular number of activities. A practice that is so composed, is complete, dead, no longer being carried on. The activities that compose a practice are spatially-temporally dispersed, moreover, because each of them takes place somewhere in objective space at some point in, or over some duration of, objective time […] At the base of a practice, furthermore, lie those doings and sayings that are basic activities. Basic activities take place without the actor having to do something else“ (ebd.: 14 f.).
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2.2 Normativität von Praktiken
Als „sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten“ (Reckwitz 2003: 289) bestehen Praktiken aus Bewegungen, Handlungen, Verhaltensmustern und Interaktionsformen, die sowohl sprachlich als auch nicht-sprachlich (nexus of Doings and Sayings) sein können. Aktivitäten und Handlungen sind zu einem nachvollziehbaren Ensemble miteinander verknüpft, was, wie Schatzki (2016) und Rouse (2002) betonen, nicht impliziert, dass ihr Zusammenhalt durch Wiederholung hergestellt wird. Um sinnvoll von einem verstehbaren Bündel von Aktivitäten sprechen zu können, müssen die Aktivitäten eine „spezifische Gerichtetheit“ (Budde/Eckermann 2021: 27) aufweisen. Das heißt, die Organisation der Verknüpfung von Doings und Sayings (Schatzki 2016) enthält einen irreduziblen, normativen Moment (Wagenknecht 2020). Eine im Diskurs der Praxistheorien elaborierte Ausarbeitung dieses Gerichtet-Seins hat Schatzki (u. a. 2016 & 1996) in seinen Werken vorgelegt. Für Schatzki (1996) entsteht die Intelligibilität von Praktiken „(1) through understandings, for example, of what to say and do; (2) through explicit rules, principles, precepts, and instructions; and (3) through what I will call ‘teleoaffective’ structures embracing ends, projects, tasks, purposes, beliefs, emotions, and moods“ (ebd.: 89).
Das praktische Verstehen – Schatzki nennt dieses Verstehen auch „knowing how to x“ (Schatzki 2002: 77) – zielt auf die Intelligibilität einer Praxis ab, die dem Aktivitätenbündel innewohnt. Hierbei handelt es sich um ein implizit-prozedurales Wissen, welches den Akteuren nicht reflexiv zugänglich oder explizierbar ist. Als implizites Wissen liegt es den Aktivitäten zugrunde, allerdings determiniert es nicht, was zu tun sinnvoll ist (Schatzki 2002: 79). „Practical understanding instead executes the actions that practical intelligibility singles out“ (ebd.). Praktisches Verstehen bedeutet, dass eine Person weiß, wie man etwas tut. Zum Beispiel gehört zum Kochen eines Gerichts das Säubern und Schneiden von Gemüse, das Anbraten und das Herunterdrehen der Temperatur. Die Handlungen, aus denen sich eine bestimmte Praxis zusammensetzt, sind durch wechselseitige Bezüge und voneinander abhängigem Wissen verbunden, das sie in Bezug auf ihre Durchführung, Identifizierung, Initiierung und Reaktion zum Ausdruck bringen (Schatzki 2001: 59).
Die zweite Form der Verknüpfung geht über das praktische Verstehen hinaus und zielt auf explizite Regeln, Gewohnheiten oder Anweisungen ab. „By ‘rules’ I mean explicit formulations, principles, precepts, and instructions that enjoin, direct, or remonstrate people to perform specific actions“ (Schatzki 2002: 79). Hierunter versteht Schatzki nicht, dass es sich bei Regeln um die Explikation von zuvor unartikulierten „understandings“ (ebd.) handelt, sondern um Formulierungen, die im sozialen Leben verwendet werden, um den Verlauf von Aktivitäten zu orientieren und zu bestimmen. Regeln sind keine abstrakten Größen, die außerhalb bestimmter Praktiken lägen, sondern sie sind den Praktiken inhärent und haben ihr Dasein in der persistenten Reproduktion.
Als dritte Form der Organisation von Aktivitäten nennt Schatzki die teleo-affektiven Strukturen, die den Doings und Sayings einen teleologischen und affektiven Sinn sowie Zweck verleihen. Teleologie ist die Ausrichtung auf Ziele, während Affektivität bedeutet, wie die Dinge von Bedeutung sind. „What makes sense to a person to do largely depends on the matters for the sake of which she is prepared to act, on how she will proceed for the sake of achieving or possessing those matters“ (Schatzki 2001: 60). Praktiken haben Ziele, die von den Akteuren verfolgt werden, um bestimmte Aufgaben und Projekte durchzuführen. Mit dieser teleologischen Strukturierung verbinden sich Emotionen, Stimmungen, Hoffnungen und Erwartungen, die für die Akteure bedeutend sind und eine wesentliche Rolle dabei spielen, was für Ziele und Projekte vollzogen werden. Was hier als vermeintlich subjektives Ordnungsmoment erscheint, rekurriert nicht auf Individuen, sondern auf das praktische Verstehen. „[T]eleoaffective structure is not a set of properties of actors. It is, instead, the property of a practice“ (Schatzki 2002: 80). Reckwitz (2016) knüpft bei der Erklärung von Affekten in Praxistheorien an Heidegger an, wenn er schreibt, dass zu der jeweiligen sozialen Praktik eine affektuelle Gestimmtheit gehört. „Sobald das Individuum kompetent eine solche Praktik trägt und es sich von ihr tragen lässt, inkorporiert und realisiert es auch deren Gestimmtheit“ (Reckwitz 2016: 170). Affekte sind also nicht die Eigenschaft einer Person, sondern das Resultat einer dynamischen Aktivität und Relationierung, von der die Akteure sich affizieren lassen (Reckwitz 2016: 172).
Die dargestellten Formen der Verknüpfung sind keine Leistung einzelner Akteure, welche sich bewusst für bestimmte Regeln, Affekte oder Ziele ante situ entscheiden. Die Verständnisse, Regeln und teleoaffektiven Strukturen, die eine Praxis organisieren, legen fest, wie Handlungen ausgeführt, verstanden, initiiert und beantwortet werden sollen. Sie legen fest, was konkret und eindeutig getan oder gesagt werden soll und welche Ziele verfolgt werden sollen, welche Projekte, Aufgaben und Handlungen zu diesem Zweck ausgeführt werden und welche Emotionen vorhanden sind – wenn Akteure in die Praxis involviert sind (Schatzki 2001: 101).
2.3 Materialität von Praktiken
Mit der Intention, Dualismen von Individuum/Gesellschaft oder Handlung/Struktur zu überwinden und intentionalistische Theorien hinter sich zu lassen, stellen Praxistheorien Materialität in den Vordergrund. Sofern dingliche und körperliche Dimensionen als Bestandteil von Praktiken hervorgehoben werden, lässt sich die scholastische Festlegung von Handlungsmotiven und -intentionen vermeiden. „Stattdessen wird es möglich, die Bedingungen für das Entstehen von Praktiken vielschichtig und formal zu bestimmen, ohne dabei theoretische Logiken über die Logik der Praxis zu stellen“ (Hillebrandt 2010: 295). Für die Entstehung und Existenz von Praktiken werden in den Praxistheorien vor allem zwei Akzente gesetzt: einerseits der menschliche Körper und andererseits Artefakte. Beides, und man müsste eher sagen, die Vielfalt an Körpern und Artefakten, sind „Partizipanten“ (Hirschauer 2004: 74) der Praxis. Während bei einer Handlung die Frage nach dem „Sinnstiftungszentrum“ (ebd.), nach dem Warum in den Fokus gerät, stellen Praxistheorien auf das „was sie am Laufen hält und wie ‚man‘ oder ‚Leute‘ sie praktizieren“ (ebd.) um. Auf die Frage nach dem ‚Was‘ hat sich die Differenz von menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanten durchgesetzt, welche es im Weiteren zu beleuchten gilt.
Körper
Einerseits spielen Körper in Praxistheorien eine zentrale Rolle, denn Praktiken können ohne nicht-menschliche Partizipanten stattfinden, andersherum sieht es jedoch schwierig aus (Bedorf 2015: 130) – zumindest solange es noch keine nicht-trivialen Maschinen gibt1 (Baecker 2023). Andererseits gibt es keine Körper außerhalb von Praktiken. Bedorf (2015) hebt das besondere Weder-Noch von Körpern in Praxistheorien heraus: Körper sind „weder als Organ des rational Handelnden noch als Objekt der Zurichtung durch Strukturen“ (ebd.: 130) zu verstehen. Körper stecken in den Praktiken, was Mol (2011) als „bodies-in-practice“ (ebd.: 477) auf den Begriff bringt. Daraus lässt sich schließen, dass verschiedene Praktiken verschiedene Versionen des Körpers oder, noch treffender, verschiedene Körper hervorbringen (ebd.: 469). Eine außersoziale, eigentliche Leiberfahrung wird in praxistheoretischen Konzeptionierungen annulliert, da es Körper nur in Praktiken geben kann. Hillebrandt (2016) verweist auf zwei eng miteinander verwobene und je nach Akzentuierung anders gelagerte Foki, mit denen in der Praxis Körper Berücksichtigung finden können: Körper sind „Produkte und Quellen der Praxis“ (Hillebrandt 2016: 74), was letztlich zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Der menschliche Körper kann zugleich materiale Bedingungen der Praxis und „Materialisierungen der Praxis“ (ebd.: 75) sein. Anders gesagt, der Körper ist Partizipant und Resultat der Praxis. Hillebrandt beschreibt diese Dualität – die im eigentlichen Sinne keine Zweiseitigkeit ist, da der eine Aspekt nicht ohne den zweiten Aspekt möglich ist und umgekehrt – als „Performanz und Habitus [Hervorh. im Original]“ (Hillenbrandt 2016: 81).
Die Fähigkeit eines menschlichen Körpers an Praktiken zu partizipieren setzt voraus, dass eine „Inkorporierung von Know-how und eines praktischen Verstehens“ (Reckwitz 2003: 290) stattgefunden hat. Menschliche Körper lernen, wie jeweils spezifische Bewegungen ausgeführt werden oder welche Emotionen womöglich an welche Bewegung gekoppelt sind. „Die ‚Intentionen‘ der sogenannten Akteure sind durch die Praxis erzeugte Dispositionen, die sich in die Körper eingeschrieben haben und die auf diese Weise sozialisierte Körper zur Beteiligung an Praxis befähigen“ (Hillebrandt 2016: 78). In diesem Verständnis, welches an Bourdieus Habitus anschließt, schreibt sich die Gesellschaft in den Körper ein. „Er ist ein Angriffspunkt der Vergesellschaftung und ein Produkt von Inskriptionen“ (Hirschauer 1994: 673). Hierbei wird das Handeln des menschlichen Körpers besonders betont, da es nachhaltige Spuren hinterlässt und ein praktisches Wissen in sich trägt. Dieses praktische Wissen fokussiert sich auf vorsprachliche Kompetenzen, wohingegen das auskunftsfähige Wissen – das versprachlichte Wissen – nur als eine Restgröße angesehen werden kann. Verbunden damit ist das Einschreiben einer Hexis, also die „Materialisierung von Haltungen, Ausdrücke, Formen des Körpers, sowohl im Innen als auch im Außen“ (Hillenbrandt 2009: 379). Materialität wird in dieser Perspektive selbst als das Ergebnis eines Stabilisierungsprozesses begriffen, der die Festigkeit und Oberfläche von Körpern performativ herstellt (Schäfer 2013: 342). Diese körperliche Sozialisierung trägt zur Stabilisierung der Praxis bei, da die Partizipanten ihrem erworbenen praktischen Sinn erliegen (Hirschauer 2016: 56). „Die Inkorporation des impliziten Wissens und dessen Präreflexivität führen zu einer körperlichen Trägheit von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die soziale Praxis stabilisieren und gegen Veränderungen immunisieren können“ (Schäfer 2013: 336).
Doch obwohl sich die Dispositionen im Körper festschreiben und dort als praktisches Wissen materialisieren, haben sie keine von den Praktiken „zu trennende eigenständige und womöglich okkulte Existenz (etwa als eine unsichtbare psychische oder inkorporierte Struktur und Erzeugungsgrundlage dieser Verhaltensweisen o.ä.)“ (Schmidt 2015: 117). Dispositionen sind als bestimmtes Verhalten zu verstehen, das von jemandem unter bestimmten Umständen erwartet wird (Schatzki 1996: 43). Das im menschlichen Körper verteilte Wissen ist ein „situiertes Wissen“ (Haraway 1988). Daraus lässt sich schließen, dass in den Praktiken inkorporierte Sozialität jeweils performativ zum Ausdruck kommt. In ihnen artikuliert sich etwa bereits Erworbenes, welches jedoch nicht in dem Erworbenen komplett aufgeht. „Praktiken sind mit anderen Worten die Quellen gesellschaftlicher Strukturdynamiken, weil sie mit ihrer Entstehung als konstitutive Ereignisse der Sozialität symbolische Formen zugleich aktualisieren und variieren“ (Hillebrandt 2010: 301). In ihrer Performativität bleibt in den Körpern ein Rest: „ein Riss, eine Inkompatibilität, der Einbruch“ (Sarasin 1999: 118).
„Bodies are not passive objects seized by social practices and molded into clones (or robots) that perform stereotypical activities in common. […] The point of saying this is that, just as before we saw it is wrong to view the body as the instrument of an immaterial free will or intelligibility, so too is it wrong to conceive of it as the passive plaything of social forces. The expressive body cannot be locked into the traditional dichotomy of free will versus determinism“ (Schatzki 1996: 53).
Das praxistheoretische Denken zielt darauf ab, die Performanz des menschlichen Körpers nicht nur als Reaktualisierung des in ihm verankerten Wissens zu betrachten, sondern auch eine Offenheit gegenüber Unvorhersehbarkeiten und der Instabilität von Wiederholungen zu entwickeln. „Der praxeologische Verweis auf die Nicht-Bewusstheit und Selbstverständlichkeit des Handelns impliziert daher nicht, dass dieses wie auf Schienen verläuft und dass sich die Ordnung des Sozialen in einer statischen Reproduktion mechanisch wiederherstellt“ (Schäfer 2013: 322). Demzufolge ist es nicht die Routine, die Praktiken zusammenhält und als differentia specifica von Praktiken dienen kann, sondern – wie in Abschnitt 1.2 dargelegt – Regeln, ein praktisches Verständnis und teleoaffektive Strukturen, die eben dies bewerkstelligen.
Artefakte
Doch nicht nur Körper, sondern auch Artefakte nehmen als Partizipanten in Praxistheorien eine ko-konstitutive Position ein und tragen dazu bei, dass Praktiken entstehen und sich reproduzieren. Wie schon bei den menschlichen Körpern kritisieren Praxistheorien einerseits eine „Entmaterialisierung des Sozialen“ (Reckwitz 2003: 291), wie sie beispielsweise in Handlungstheorien vollzogen wird. Andererseits zielen Praxistheorien auf die Auflösung von Dualismen, in denen das Soziale dem Materiellen, also einer außer-sozialen Kraft, gegenübergestellt wird. Als Partizipanten sind Artefakte „als Teilelement von sozialen Praktiken zu begreifen“ (ebd.), sie sind in ein komplexes Beziehungsgeflecht mit anderen, menschlichen wie nicht-menschlichen Partizipanten verwickelt. Wie auch schon beim menschlichen Körper werden Artefakte als aktive Partizipanten von Praktiken adressiert, die an deren Herstellung, Aufrechterhaltung und Transformation beteiligt sind. Über die Frage, wie stark Artefakte an Praktiken partizipieren, welche Rolle sie haben und ob ihnen eine gleichberechtigte Handlungsfähigkeit zugebilligt werden kann, darüber herrscht in den Praxistheorien eine Kontroverse. Die Kontroverse entzündet sich vor allem an dem Namen Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Dieser Theoriezweig wird den Praxistheorien zugeordnet (Reckwitz 2009, Hillenbrandt 2016) und soll bei der Frage der Artefakte in Praktiken im Folgenden besonders beleuchtet werden, da damit eine Weichenstellung für die weitere Arbeit einhergeht.
Artefakte in der ANT
Wenn es um die Frage nach dem Status von Artefakten im Sozialen geht, dann sind Latour und die damit zusammenhängende ANT ein wichtiger – und zugleich umstrittener – Bezugspunkt. Ursprünglich aus den STS (Woolgar 1991) kommend, in der Latour zusammen mit Woolgar eine Gegenposition zum Sozialkonstruktivismus einnahm, bis zur Ausweitung der ANT durchlief das Werk Latours einige Transformationen, sodass er kaum auf eine einzige Position festzulegen ist (Schulz-Schaeffer 2008a). Durchgehende Linie in Latours Denken bildet der „Tautologieverzicht“ (ebd.: 108), dem er ein allgemeines Symmetrieprinzip entgegenstellt. Latour (2007) knüpft dabei an das Symmetrieprinzip Bloors an und verallgemeinert es in seiner Konzeption der „symmetrischen Anthropologie“ (ebd.) auf das Soziale. „Symmetrisch ist demnach ein Vorgehen, bei dem der Beobachtung keine vorgängige Unterscheidung und Asymmetrien zugrunde liegen“ (ebd.: 109). Alles, was eine Veränderung herbeiführt, was einen Unterschied macht (Latour 2007: 52), gilt als gleichberechtigter Teil einer Beschreibung, die nicht auf vorab getroffene, ontologische Differenzen zurückgreifen will. Im Sinne der ANT können sogenannte Aktanten alle möglichen Elemente sein, denen in einer „Narration die Position eines wirkmächtigen bzw. handlungsfähigen Erzählers, Lesers, Darstellers, Helden, Ermittlers, Schurken, Betroffenen etc. zugewiesen wird“ (Kneer 2009: 22). Infolgedessen ist der Status der Aktanten nicht an intrinsische Merkmale wie etwa eine Handlungsmotivation gebunden, sondern vielmehr an „ihre Positionierung in einer Erzählung“ (ebd.). Die ANT fordert dazu auf, das aktive Wirken von Objekten in die Analyse mit einzubeziehen. „Schließlich gibt es kaum Zweifel daran, dass Wasserkessel kochen, Messer Fleisch schneiden, Körbe Vorräte aufbewahren […] Bezeichnen diese Verben keine Handlungen?“ (Latour 2007: 122). Latour räumt ein, dass der Fehler vieler soziologischer Theorien nicht darin bestünde, dass sie Artefakte vernachlässigen, sondern vielmehr darin, sie nicht alle vollgültige Akteure behandeln, die auch „die kontrastreiche Landschaft erklärt […], den Abgrund von Ungleichheiten, die gewaltigen Asymmetrien“ (Latour 2007: 125).
Dieser symmetrischen Haltung folgend verzichtet die ANT auf eine eigene theoretische Metasprache, in der Aktanten ontologisch bestimmt werden würden. Stattdessen betont die ANT den „Agnostizismus des Beobachters“ (Muhle 2013: 75). Die Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse besteht nicht länger darin, „Ordnung zu schaffen, das Spektrum akzeptierbarer Entitäten zu beschränken, den Akteuren beizubringen, wer sie sind, oder in ihre blinde Praxis ein wenig Reflexivität hineinzubringen“ (Latour 2007: 28). Die Teilnahme an Netzwerken und die Art und Weise des Handelns hängen von der spezifischen Konstellation ab, der die wissenschaftliche Analyse folgen muss. Demzufolge kann ein Aktant alles sein, was in heterogenen Assoziationen von Handelnden einen Unterschied im Verlauf der Handlung eines anderen Handlungsträgers bewirkt (Latour 2007: 123). Die Identität eines Aktanten wird jedoch erst in Beziehung zu anderen heterogenen Aktanten festgelegt. „[A]n actor is what is made to act by many others“ (Latour 2007: 46). Gemäß ANT treten isolierte Artefakte nicht auf. Latour bemerkt hierzu fast zynisch, dass es „Objekte, die einfach als Objekte existieren, abgeschlossen, nicht Teil eines kollektiven Lebens“ (Latour 2007: 503) nur unter der Erde begraben zu finden sind. ‚Aktant‘ und ‚Netzwerk‘ verweisen notwendig wechselseitig aufeinander. „Ein Akteur ohne Netzwerk wäre überhaupt kein Akteur, er würde weder über eine Identität noch über ein Handlungspotential, eine Rolle oder ein Handlungsprogramm verfügen – ja, wir wüssten nicht einmal von seinem Dasein“ (Kneer 2009: 25). Im Prozess der Assoziierung erwerben Aktanten „die Identität ihrer Rolle, des ihnen eingeschriebenen Skripts oder Verhaltensprogramms“ (Schulz-Schaeffer 2008a: 119). Dadurch entstehen Aktanten mit teils heterogenen Verhaltensprogrammen. „Ein Aktant umfasst eine Liste von Antworten auf Tests, die, wenn sie einmal stabilisiert ist, dem Namen eines Gegenstandes oder einer Substanz angehängt wird. Je länger eine solche Liste, desto größer ist auch die Aktivität des Akteurs“ (Latour 2007: 388).
Aus dieser Grundauffassung über Akteur-Netzwerke ergibt sich, dass ein Akteur-Netzwerk zugleich aus zwei verschiedenen Perspektiven beobachtet werden kann. „An actor-network is simultaneously an actor whose activity is networking heterogeneous elements and a network that is able to redefine and transform what it is made of“ (Callon 1987[2012]: 87). In einer solchen Betrachtung gewinnen Aktanten allein durch ihre heterogene Assoziierung Stabilität. Von einem stabilen Akteur zu sprechen, steht vor der Herausforderung, dass seine Wirksamkeit nicht auf seine Materialität oder Ähnliches zurückgeführt werden kann, sondern auf das in ihn inskribierte Netzwerk. Die Rolle, die ein Aktant in einem Netzwerk einnimmt, bestimmt – aus der agnostizistischen Beobachter:innen-Perspektive – das Netzwerk selbst, nicht der:die wissenschaftliche Beobachter:in. Allerdings taucht damit ein Problem auf, das in der Akteur-Netzwerk-Theorie einen unlösbaren Widerspruch verursacht: Eine symmetrische Perspektive verfolgt den weitreichenden Anspruch, wissenschaftliche Beschreibungen radikal unvoreingenommen durchzuführen, indem sie auf Vorannahmen über ontologische Differenzen verzichtet. Selbst der Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten ist für sich genommen bedeutungslos (Latour 2007: 124). Ein zentrales Problem der ANT besteht darin, dass die symmetrische Beobachtung in diesen Kontexten „nichts anderes tut, als den Akteur:innen zu folgen“ und dabei „vor allem die Definitionsanstrengungen der menschlichen Akteur:innen sichtbar“ (Schulz-Schaeffer 2008a: 138) macht. Paradoxerweise führt dieses Dilemma zu dem Gegenteil dessen, was die ANT eigentlich beabsichtigte. Anstatt den Menschen zu dezentrieren und den Fokus auf die Dinge zu richten, hebt die ANT die menschlichen Erzählungen zur Definitionsmacht für das Materielle hervor und eröffnet damit Raum für Asymmetrien, denen sie ursprünglich entgegenwirken wollte.
„The consequences of the semiotic method amount to a backward step, leading us to embrace once more the very priority of technological, rule-bound description, adopted from scientists and technologists, that we once learned to ignore. This backward step has happened as a consequence of the misconceived extension of symmetry that takes humans out of their pivotal role. If nonhumans are actants, then we need a way of determining their power“ (Collins/ Yearley 1992: 322).
Latour reproduziert an bestimmten Stellen diesen Widerspruch, indem er Wissenschaftler:innen und Techniker:innen ohne kritische Auseinandersetzung als zentrale Bezugspunkte seiner Analyse betrachtet und ihnen somit eine Definitionsmacht über das Materielle zuspricht. Dieser Ansatz führte zu einer Reihe von kritischen Rückmeldungen, wie zum Beispiel von Lindemann (2008) und Kneer (2008). Die geäußerte Kritik hebt die Notwendigkeit hervor, ein breiteres Spektrum an Perspektiven und Akteur:innen in die Analyse einzubeziehen, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Wissen, Technik und Materie umfassend darzustellen. Latours Prinzip der radikalen Symmetrie zielt „nicht auf Phänomene der Ausdehnung von Attributen des Sozialen bzw. Menschlichen auf nicht-menschliche Entitäten, sondern umgekehrt auf ein reduziertes (‚flaches‘, um nicht zu sagen: plattes) Verständnis von Handlungsträgerschaft, das eine darauf bezogene Grenzziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren überflüssig macht“ (Keller/ Lau 2008: 325). Ein Mehrwert für Praxistheorien wäre vielmehr eine Differenzierung in der Handlungsträgerschaft, die jedoch durch empirische Beweise gestützt werden muss.
Materialität im Sinne Schatzki
Dass neben menschlichen Akteuren mit ihrem inkorporierten, praktischen Wissen auch Materialitäten eine ko-konstitutive Rolle einnehmen, „damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann“ (Reckwitz 2003: 291), daran zweifelt Schatzki (2002) nicht. Obwohl sich seine eigene Position von den ihm sogenannten „theories of arrangement“ oder „posthuman theories“ (ebd.) abgrenzt, zu deren Vertreter:innen er Foucault, Deleuze und Guattari, auch explizit Latour und Callon zählt, teilt er deren Grundimpuls an der Überwindung von Dualismen. Vergleichbar mit der ANT gibt es für Schatzki „keine Sphäre oder Ebene der Realität, die man mit dem Etikett ‚Gesellschaft‘, ‚soziale Einheiten‘ oder ‚Gegenstände der Sozialwissenschaften‘ versehen und sauber gegen andere vermeintlich umfassende Bereiche oder Ebenen (wie etwa Materialität, Biologie, das Physische, Natur) abgrenzen könnte“ (Schatzki 2016: 64). Im Gegensatz zur ANT verfolgt Schatzki keine nominalistische, sondern eine kontextualistische Argumentation. Er teilt die Stoßrichtung der posthumanistischen Analyse, dass nicht-menschliche Akteure handlungsfähig sind und in Verbindung mit menschlichen Akteuren stehen (Schatzki 2002: 210). Sowohl bei Schatzki als auch in der ANT ist es jedoch entscheidend, wie dieser Zusammenhang zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren konzeptualisiert wird. Der offensichtlichste Unterschied zwischen den beiden Strömungen der Praxistheorien besteht darin, dass Schatzki zwar das Soziale als mit Artefakten verwickelt ansieht, jedoch an der Symmetrisierung der ANT zweifelt. Für ihn steht die menschliche Tätigkeit im Mittelpunkt des tatsächlichen Charakters des menschlichen Lebens (Schatzki 2002: 119). Um diesen Punkt genauer zu verstehen, soll kurz auf das Materialitätsverständnis von Schatzki eingegangen werden.
Als einer der prominentesten Vertreter der Praxistheorie verlagert Schatzki den Ort des Sozialen in die Praktiken. Gemäß der flachen Ontologie ergibt sich das menschliche Zusammenleben als Teil von Verflechtungen von Praktiken sowie materiellen Arrangements (Schatzki 2016: 69). „Unter ‚materiellen Arrangements‘ verstehe ich eine Menge wechselseitig miteinander verbundener materieller Entitäten“ (ebd.). Insofern ähneln sich die von Schatzki als ‚materielle Arrangements‘ und die von der ANT als ‚Netzwerke‘ bezeichneten Phänomene. Schatzki konstatiert diese Gemeinsamkeit ebenfalls: „Beide [Netzwerke & Arrangements] werden gebildet durch wechselseitig aufeinander bezogene materielle Entitäten“ (Schatzki 2016: 74). Gleichzeitig bilden die Arrangements bei Schatzki „nur eine der beiden grundlegenden Arten von Phänomenen, aus denen sich soziale Phänomene zusammensetzen“ (ebd.). Die zweite Art bilden die Praktiken, die in der ANT keine Erwähnung finden bzw. die als solche gar nicht vorkommen können. Die Verbindung dieser beiden Arten des Sozialen, Praktiken und Arrangements ist kontingent. Wie spezialisiert Geräte oder Dinge auch sein mögen, wie sehr ihre Entwicklung oder Verwendung mit bestimmten Handlungen verbunden ist und wie sehr diese Handlungen aufeinander abgestimmt sind: Jedes materielle Arrangement ist ein Ort, an dem mehrere Praktiken stattfinden können (Schatzki 2002: 122).
Im Gegensatz zur Symmetrisierung hält Schatzki an der Asymmetrie fest. Letztendlich verleihen die Menschen den materiellen Arrangements in den Aktivitäten ihre Bedeutung und schaffen mit Artefakten bestimmte Ordnungen. Die Unbestimmtheit des entstehenden Geflechts von Praktiken und Ordnungen ergibt sich aus der Unbestimmtheit des menschlichen Handelns (ebd.). Materialitäten werden nur durch ihre Verwicklung in soziale Praktiken zu Mit-Partizipanten am Sozialen und an der (Re-)Produktion sozialer Ordnung. Die Differenz zwischen Praktiken und Arrangements führt zwar zu einer Asymmetrie, jedoch ist Schatzkis Vorschlag sowohl geeignet, klassische Handlungstheorien zu überwinden als auch den Widerspruch der ANT zu entgehen. Hirschauer (2004) bemerkt treffend, dass die ANT die Praxis von „energetischen Einheiten“ (Hirschauer 2004: 74) heraus denkt und der ANT somit die Wiederbelebung eines souveränen Akteurs eingeschrieben ist. „Das Design von Technologien als bevorzugtem Ort, an dem Agency in sie eingebaut wird, ist ein theoriestrategisches Äquivalent zu einem bevorzugten Ort der Sinnstiftung im Handlungssubjekt“ (ebd.). Für Schatzki wiederum sind Materialitäten in ihrer spezifischen Weise in den Praktiken involviert, das heißt, sie sind „materielle Partizipanden des Tuns“ (ebd.). Anstatt die ontologische Trennung zwischen Mensch und Natur unablässig zu hinterfragen, wie es Latour in einer teils polemischen Weise tut, zielt Schatzki darauf ab, das Soziale umfassend zu begreifen: „[T]o this end, it is reasonable to construct a straightforward experiential typology that classifies entities on the bases of their standings vis-à-vis human activity and of their significance for human coexistence“ (Schatzki 2002: 178). Er hebt damit graduelle Unterschiede in den Doings der materiellen Partizipanten hervor und denkt Artefakte nicht aus einer kontributorischen, sondern aus einer partizipatorischen Perspektive heraus (Hirschauer 2004).
Einen ersten Versuch der Systematisierung dieser graduellen Unterschiede unternimmt er in The Site of Social (2002), wo er zwei Typen des Handelns differenziert (ebd.: 178). Bei dem ersten Typus handelt es sich um die kausale Handlungsform, welcher von Menschen wie Nicht-Menschen ausgeführt werden kann. Die zweite Form des Handelns, die Schatzki beschreibt, ist die Performativität einer Handlung, welche die Ausführung der ihr zugrunde liegenden Praxis verkörpert. Viele menschliche Handlungen lassen sich dieser Art der Handlungsfähigkeit zuordnen. Ob jedoch auch Nicht-Menschen eine ähnliche Performativität zugeschrieben werden kann, bleibt für Schatzki eine offene Frage. Dieser Aspekt verdeutlicht die Komplexität der Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren und regt dazu an, die Bedingungen und Möglichkeiten der Zuschreibung von Handlungsfähigkeit über das menschliche Handeln hinaus zu reflektieren. Demzufolge sind materielle Arrangements und Praktiken aufs Engste miteinander verwickelt. Es gibt jedoch Formen von Handlungen, die nicht in gleicher Weise von nicht-menschlichen Akteuren ausgeführt werden können (Schatzki 2002: 178 f.).
Die Bedeutung von Schatzkis Konzept der Performativität wird verständlich, wenn der Begriff als das Beobachtbare, Kommunizierbare und Verstehbare von Praktiken verstanden wird. „Artefakte verleihen […] ihren acts nicht selbst accountability, sie zeigen nicht an, sie indizieren nicht, wie ihre Aktivität verstanden werden soll und was sie mit ihr beabsichtigen“ (Schmidt 2012: 69). Die ANT ignoriert diese unterschiedlichen Formen von Handlungen und verkennt, dass die Dinge „nicht aus sich selbst, sondern nur im Zusammenspiel mit den menschlichen Teilnehmerinnen“ dazu beitragen, „das soziale Geschehen, an dem sie beteiligt sind, als dieses und jenes soziale Geschehen zu identifizieren“ (Schmidt 2012: 69). Was bei Schmidt und Schatzki allerdings ausgeblendet bleibt, ist, dass es mittlerweile „Technologien of Accountability“ (Suchman 1993) gibt, welche einen wesentlichen Beitrag zur Zurechenbarkeit und Identifizierung beitragen können. Schatzki lässt am Ende offen, ob nicht-menschliche Entitäten irgendwann in der Lage sein werden, Performatives zu vollziehen.
In einer späteren Arbeit verfeinert Schatzki (2016) seine Auseinandersetzung mit den materiellen Arrangements und nennt gleich sieben verschiedene Formen: „Hervorbringung, Gebrauch, Konstituierung, Intentionalität, Beschränkung und Präfiguration (sowie Intelligibilität)“ (ebd.: 33). Es ist nachrangig, wie genau diese Formen zu den zuvor genannten stehen – einige Überschneidungen gibt es – und welche Besonderheiten sich jeweils zeigen. In der besagten Veröffentlichung wird darauf nicht näher eingegangen und es wird auch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, wie an mehreren Stellen betont wird. Vielmehr bleibt die Frage offen, auf welche „Art Praktiken und Arrangements überhaupt zu Geflechten verknüpft werden“ (Schatzki 2016: 86). Anstelle einer eindimensionalen Verursachung oder eines Determinismus setzt die Praxistheorie von Schatzki auf heterogene Verflechtungen von Praxis-Arrangement-Bündeln und einer partizipatorischen Perspektive. „[T]he practice approach warns us that the nature and identity of objects cannot be apprehended independently of the practice in which they are involved“ (Nicolini 2013: 171).
In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass die Praxistheorie nach Schatzki eine asymmetrische Differenzierung vornimmt. Durch ihre Fokussierung auf Praktiken kann sie jedoch die doings (Schatzki 2012) von nicht-menschlichen Entitäten gradueller einfangen als durch die radikale Symmetriesierung der ANT. Um den Aspekt der Teilnehmerschaft besser zu verstehen, soll im Weiteren vertieft darauf eingegangen werden, da er für die empirische Analyse einen zentralen Stellenwert einnimmt.
2.4 Teilnehmerschaft
Praxistheorien verweisen auf die „materielle und körperliche Bedingtheit allen Handelns und Denkens“ (Alkemeyer 2017: 142) und konzipieren das Menschliche wie Nicht-Menschliche als Konstituens der Praktiken. Ohne auf vorab bestimmte Elemente zurückzugreifen, wollen Praxistheorien erklären, „wie sich in lokal situierten praktischen Verflechtungen unterschiedlich beschaffener Entitäten und Kräfte […] performativ jene Strukturen ausformen, perpetuieren und verändern, in denen diese Entitäten und Kräfte allererst ihre Bedeutung, Identität und Teilnahmebefähigung erlangen“ (ebd.: 143). In einem fortlaufenden Prozess erhalten die Partzipanten eine je spezifische Position, die für den Vollzug einzunehmen ist (Hirschauer 2004). Bestimmte Positionen mit ihren Intentionen, Emotionen und Wahrnehmungen können „nicht als ein der Praxis vorgängiges Aktionszentrum konzeptualisiert, sondern als eine Verkörperung (an)erkannter Teilnahmebefähigungen“ (Alkemeyer et al. 2015: 30) verstanden werden. Im Rahmen der Praxistheorien rekrutieren Praktiken ihre Teilnehmer:innen nicht, indem sie auf bereits existierende Akteure oder Träger mit bestimmten prä-praktischen Fähigkeiten zurückgreifen (ebd.: 37). Fähigkeiten existieren allein in den Praktiken, nicht als freischwebende Substanzen außerhalb dessen. Dennoch ist es logisch notwendig, dass für eine Teilnahme an Praktiken mindestens ein Element vorausgesetzt wird, das aktiv teilnimmt. Dieses Element muss über eine Historizität verfügen, um an Praktiken partizipieren zu können, da es nicht erst in der Praktik ex nihilo erschaffen wird. Praktiken entstehen nicht „aus egalitären Assoziationen, d. h. unterschiedslosen Verknüpfungen interessen-, ziel- und machtloser Menschen mit natürlichen und technischen Dingen (wie in der ANT)“ (Gentzel 2017: 284).
Hier eröffnen sich zwei unterschiedliche Perspektiven, die in dem heterogenen Feld der Praxistheorien eingenommen werden. Die Dinge sowie Körper werden entweder als „notwendiger Mobilisierungsort für eine Praktik, als eine Hardware, die die Praktik mit einer ihr entsprechenden Software bespielt“ (Reckwitz 2015: 447) betrachtet oder als Mitspieler konzipiert, die notwendig sind, damit Praktiken bespielt werden können, aber zugleich mit Störungen, Unterbrechungen oder Verschiebungen einhergehen. In der einen Perspektive werden Körper und Dinge zu wandelbaren Substraten, die wandelbaren kulturellen Regimen unterliegen (Alkemeyer 2017: 149). Aus der anderen Perspektive stehen Praktiken als ein „prinzipiell störanfälliges Vollzugsgeschehen“ (Alkemeyer et al. 2015: 39) im Blick, in dem Körper sowie Artefakte als aktive, mit einem Handlungsprogramm ausgestattete Partizipanten betrachtet werden.
Hirschauer (2016) sieht hier zwei konkurrierende Formen der Dezentrierung des Subjekts am Werk, die in Praxistheorien vertreten sein können (ebd.: 61). Zum einen findet sich in der Diskussion ein an den Strukturalismus anknüpfender Zweig, der das Subjekt in seinen Subjektivierungsprozessen rekonstruiert. Der Vorwurf gegenüber dieser Position lautet, dass „[w]enn man die Historizität der Praxis, ihre ‚Fernsteuerung‘, so überzieht, dann […] kommt [man] zu einer praxistheoretischen ‚Subjektivierung‘ von Teilnehmern, die den ‚oversocialized man‘ des Strukturfunktionalismus nur durch einen ‚overculturalized man‘ ersetzt“ (Hirschauer 2016: 63). Jede Tätigkeit, sei es die von Artefakten oder von Körpern, vollzieht sich aus dieser Perspektive quasi automatisch aus dem inkorporierten Wissen der Partizipanten. Eine entgegengesetzte Perspektive argumentiert jenseits der abstrakten Mechanismen eines strukturalistisch orientierten Ansatzes. Diese Richtung hat das Ziel, „den Akteuren das zurückzugeben, was man den unsichtbaren Strukturen entzogen hatte“ (Henion 2013: 28). Diese eher handlungstheoretisch orientierte Praxistheorie in Form der Ethnomethodologie nach Goffman oder Garfinkel versäumt es jedoch, Artefakte in ihre Analyse einzubeziehen und konzentriert sich stattdessen auf Interaktionen. Ein inadäquates Gegenmittel zu diesen beiden Reduktionismen besteht darin, als Reaktion auf strukturalistische oder handlungstheoretische Positionen einen undifferenzierten Aktanten zu postulieren. „Im Umkreis der Akteur-Netzwerk-Theorie ist man noch stark an einem anspruchsvollen Handeln orientiert. […] Jedes Artefakt hat ein Skript und einen Aufforderungscharakter“ (Hirschauer 2016: 52). Um mit beiden Reduktionismen zu brechen und vor allem das Subjekt zu dezentrieren, ist es kontraproduktiv, alles zu gleichberechtigten und ‚starken‘ Aktanten zu erheben. Praxistheorien – jenseits der Reduktionismen – „lösen sich so von der Idee des ‚reinen‘ Handelns“ (Hirschauer 2016: 50) und verfolgen mit diesem „abgesenkten Aktivitätsniveau“ (Gentzel 2017: 285) eine Ko-Aktivität oder Ko-Produktion. Hirschauer (2016), aber auch Rammert/Schulz-Schaeffer (2002) entwerfen dazu Kontinuen von Aktivitätsniveaus, wobei Hirschauer deutlich differenzierter (Abb. 2.1) vorgeht.
Abbildung 2.1
Kontinuum von Aktivitätsmodi.
(Quelle: Hirschauer 2016: 49)
Partizipant einer Praktik ist demnach ein „konsequent in Beziehungen gedachter Akteur“ (ebd.: 63). Statt den Fokus auf die Inkorpierung zu legen, betonen partizipatorisch orientierte Praxistheorien, dass die Teilnehmerpositionen „als verschlungenes wechselseitiges Ins-Verhältnis-Setzen der Akteure zu sich selbst, zu anderen und zu verhandelten Weltversionen als konstruierte Sachverhalte“ (Reh et al. 2015: 304) verstanden werden müssen. Die Bedeutung für die Akteure ergibt sich aus der Relationierung und Organisation von Körpern und Dingen. In dieser Hinsicht sind es „die Praktiken selbst, die darüber bestimmen, was die Teilnehmer*innen tun müssen, um die jeweiligen praktischen Ziele und Anforderungen zu erfüllen. Differenzierungen und Positionierungen entfalten sich damit immer in Abhängigkeit davon, was praktisch vollzogen wird“ (Kelle/Schweda-Möller 2017: 130). Partizipatorische Praxistheorien betonen insofern, dass die „Teilnahmekompetenzen situativ durch wechselseitige Adressierung mobilisiert werden“ (Alkemeyer et al. 2015: 39).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass „Handlungen und Subjekte […] nur in einer Praxis existieren, in der sich die Teilnehmer als diese oder jene Handlungssubjekte adressieren, qualifizieren und anerkennen“ (ebd.). Die Handlungen der Teilnehmer:innen, seien sie körperlicher oder materieller Natur, werden durch das geprägt, was praktisch intelligibel ist. Diese Intelligibilität ist in den Praktiken verankert und nicht außerhalb oder darüber hinaus zu finden. Es ist jedoch anzumerken, dass dieser methodologischen Symmetrie eine ontologische Asymmetrie gegenübersteht. Hirschauer bringt dies auf den Punkt, indem er feststellt: „Lässt man sie [die Dinge] liegen, vermissen sie uns nicht“ (Hirschauer 2016: 53), was die fundamentale Differenz zwischen Artefakten und menschlichen Akteuren unterstreicht.
Zentral für den weiteren Fortgang dieser Arbeit ist darauf hinzuweisen, dass es auf die Skalierung ankommt. Beim Hereinzoomen in die konkreten Praktiken gerät das relationale, verwickelte und prozesshafte Geschehen ins Zentrum. Beim Herauszoomen kommt in den Blick, „dass die Teilnehmer bereits etwas in das gegenwärtige Setting einbringen – entweder als in den sozio-materiellen Arrangements etwa in Form von Gebrauchsmöglichkeiten ‘objektivierte’ oder aber als in den Akteuren in Form von Erfahrungen, Dispositionen, Gewohnheiten und Skills ‘inkorporierte’ Geschichte“ (Alkemeyer/Buschmann 2016: 128). Es bedarf des Wechselspiels zwischen Draufsicht – „practice-as-entity“ (Shove et al. 2012: 8) – und dem Einfangen heterogener Teilnehmerperspetiven – „practice-as-performance“ (ebd.) -, um „jene ambivalente Gleichzeitigkeit von Passivität und Aktivität, Geformt-Werden und Selbstformung, Einpassung und ‘eigensinnigem’ Heraustreten, von Bevollmächtigung und Selbstkonstitution analysierbar“ zu machen (Alkemeyer/ Buschmann 2016: 128). Hierin liegt eine besondere Stärke von Praxistheorien, die sie von anderen Sozialtheorien unterscheidet: Bei der Betrachtung konkreter Praktiken können sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Teilnehmer als motivierend, treibend, verstärkend etc. in Erscheinung treten, während sie bei der Betrachtung von Praktiken als Entitäten mit Dispositionen ausgestattete, materielle Entitäten in den Blick geraten.
Vor diesem Hintergrund können Subjektivierungen als eine mögliche Perspektive praxistheoretischer Forschung analysiert werden, wodurch auch Macht und Ungleichheit mit in den Fokus geraten. Demnach sind Subjektivierungen als „Institutionalisierung von Handlungen in den Körpern der Akteur*innen“ (Carnin 2020: 25) zu verstehen. „Subjekte bilden sich in situ nicht ständig neu, sondern partizipieren in ihrer Historizität an Praktiken“ (ebd.). Die Beobachter:innenperspektive2 des Herauszoomens begreift das Subjekt als „ein Ensemble jenes praktischen Wissens […], welches es inkorporiert hat, um in der Lage zu sein, bestimmte Praktiken hervorzubringen“ (Reckwitz 2009: 176). Die Analyse von Subjektivierungen konzentriert sich darauf, zu untersuchen, wie miteinander verkoppelte Praktiken das Subjekt strukturieren und formatieren. „In dieser Subjektproduktion sind Muster der Unterscheidung zwischen ausgeschlossener, undenkbarer oder problematischer Subjektivität und erstrebenswerter, normaler oder attraktiver Subjektivität inbegriffen“ (ebd.). Das Subjekt erscheint als ein „Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens/Wissenskomplexe sozialer Praktiken […], ein mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen“ (Reckwitz 2003: 296).
Um die Subjektpositionen und -ordnungen rekonstrukieren zu können, ist es demnach notwendig, die Verknüpfungen mit anderen Praktiken zu betrachten. Anhand von vereinzelten Praktiken können keine Subjektpositionen, sondern allein Partizipantenpositionen rekonstruiert werden – diese sprachliche und phänomenale Differenz ist für die empirische Analyse leitend. Um organisationale Ordnungen im Kontext digitaler Technologien zu analysieren, ist es erforderlich, den Fokus auf die Relationen zwischen Praktiken zu richten. Der Raum der Praktiken erweist sich nicht als so chaotisch, wie es zunächst den Anschein haben könnte; vielmehr sind die Praktiken untereinander organisiert (Couldry 2004: 122).
2.5 Von Bündeln und Komplexen
Praxistheorien adressieren nie eine Praktik allein, sondern Verkettungen und Verwicklungen ganzer Praktikenserien. „Practices are only identifiable as practices at all against a background of other practices, and thus can never be reduced to objective regularities“ (Rouse 2002: 170). Praktiken bilden die Grundlage für weitere Praktiken, schließen an sie an und stellen Bezüge her. Praktiken formieren sich über den Bezug auf eine Zukunft, ein Heraustreten aus der Vergangenheit und eine Bewältigung des Gegenwärtigen (Nicolini 2013: 168). Je nachdem, welchem praxistheoretischen Modell gefolgt wird, können Praktiken zusammengenommen mit materiellen Arrangements „Konstellationen“ (Schatzki 2002), „Komplexe“ (Shove et al. 2012) oder „Texturen“ (Gheradi 2006) bilden. Im Folgenden soll das Modell von Shove et al. (2012) skizziert werden, da es sich im Gegensatz zu vielen anderen Praxistheorien systematisch mit der Relationierung von Praktiken auseinandersetzt.
Um zu verstehen, wie Praktiken im Modell von Shove et al. (2012) miteinander verkettet sind, müssen zwei grundlegende Propositionen von Praxistheorien in Erinnerung gerufen werden: Praktiken zeichnen sich erstens durch ihr Gerichtet-Sein aus. Das heißt, sie enthalten ein praktisches Verstehen, teleo-affektive Strukturen und Regeln. Shove et al. (2012) vereinfachen diese Dreiteilung auf zwei Elemente, indem sie das praktische Verstehen, das Know-how (auch Regeln) mit dem Begriff der competence fassen und die teleoaffektiven Strukturen mit meanings beschreiben (Shove et al. 2012: 21 f.). Zweitens integrieren sie auch die Materialität in die Praktiken, wobei sie nicht auf den Begriff Praxis-Arrangement-Bündel zurückgreifen, sondern schlicht von Praktiken sprechen. Praktiken zeichnen sich dann durch drei Elemente aus, die zusammen das Gerichtet-Sein ausmachen.
Abbildung 2.2
Elemente von Praktiken und deren Verbindung nach Shove et al. Modell.
(Quelle: Shove et al. 2012: 25)
Das in der Abb. 2.2 dargestellte Modell suggeriert fälschlicherweise in der ersten Skizze, dass Kompetenzen, Bedeutung und Material außerhalb von Praktiken, sprich ohne eine Verkettung, existieren können. In der nachfolgenden Exemplifizierung des Modells wird zu sehen sein, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr sind die in der Abbildung 2.2 dargestellten Elemente zu Praktiken zusammengebunden, können aber auch zu neuen Praktiken verknüpft werden. Um das zu veranschaulichen, greifen Shove et al. (2012) auf die Entwicklung und Dissemination des Autofahrens zurück.
Dass das Autofahren sich durchsetzen konnte und seine moderne Form annahm, ist darauf zurückzuführen, dass sich die Praktik an vorangegangenen Elementen anschloss. Beispielsweise hat sich das Fahren des Kutschenwagens auf der rechten Seite in vielen Ländern durchgesetzt, da die Kutschfahrer auf dem linken Pferd saßen und so besser die Räder der entgegenkommenden Wagen sehen konnten (Shove et al. 2012: 26). Verkehrsregeln und die damit verbundenen Kompetenzen haben sich von den Praktiken des Kutschenfahrens auf die neue Welt des Autos übertragen. Vergleichbare Kontinuitäten und Übertragungen fanden ebenfalls bei der Materialität statt. „The first car bodies were, for instance, constructed by carriage builders accustomed to painstaking and customized forms of craft production“ (ebd.). Hieran zeigt sich, dass Materialitäten und Formen der Kompetenzen zwischen nebeneinander existierenden Praktiken migrierten – so hatten Pferdekutschen noch lange Zeit neben dem Auto einen hohen Stellenwert. Neue Kompetenzen und Materialitäten, etwa das Tanken an Tankstellen, traten hinzu, während andere, wie die Pflege von Pferden, wegfielen (ebd.). Mit der Praktik des Autofahrens verbanden sich – zumindest zu Beginn – spezifische Emotionen, die die Partizipanten affizierten. Für das Autofahren bedurfte es eines praktischen Verstehens, ein Know-how, wie das Auto unmittelbar vor Ort und mit wenigen Hilfsmitteln repariert werden konnte, da frühe Fahrzeuge noch häufig anfällig für Schäden oder Ausfälle waren.
Neuheiten, Veränderungen und Transformationen können vor diesem Hintergrund überall auftauchen. So wurde beispielsweise das zuvor in den:die Fahrer:in verankerte Know-how zunehmend an das Fahrzeug delegiert, was Veränderungen in den anderen Elementen mit sich brachte. Da die Elemente aufeinander verwiesen sind und zusammen ein dynamisches Geflecht aus „doings and sayings“ (Schatzki 2012: 14) ergeben, änderte sich beispielsweise die Bedeutung des Fahrens: Weg von der Freizeitbeschäftigung, die von den mechanisch veranlagten Reichen bevorzugt wird, hin zu einem Mittel, um Freizeitausflüge zu machen, bei denen mechanische Probleme eher zu einem Ärgernis wurden (Shove et al. 2012: 26). Dasselbe lässt sich bei den frühen Computern erkennen. Bevor die Nutzer:innen die rudimentären Programme nutzen konnten, die selbst ein Know-how über Computersprachen mit sich brachten, mussten die Computer teilweise in Eigenregie selbst zusammengebaut werden, um einsatzbereit zu sein (Heilmann 2019). Heutzutage ist davon nicht mehr viel übrig, wodurch sich Kompetenzen, Bedeutungen und Materialitäten grundlegend gewandelt haben.
Anhand dieser Beispiele lässt sich nun verdeutlichen, wie Praktiken miteinander zusammenhängen können. Verkettungen finden über einzelne Elemente (Abb. 2.2) statt, so zum Beispiel über Bedeutungen oder Materialitäten. Bezogen auf das Computerbeispiel lassen sich – stark vereinfacht ausgedrückt – Praktiken des Radio-Bastelns, die stellenweise mit der Bedeutung des Männlichen verbunden waren, auch bei dem Zusammenbau und der Programmierung der ersten Personal-Computer ausmachen. Beide Praktiken teilen Bedeutung und Kompetenzen. Dadurch rückt die Fähigkeit von Organisationselementen von Praktiken „in den Vordergrund, über verschiedene Kontexte zu streuen und sich dabei jedoch auch je spezifisch zu organisieren“ (Bollig/Kelle 2014: 275). Shove et al. (2012) verdeutlichen dies mit Hilfe folgender Skizzierung (Abb. 2.3).
Abbildung 2.3
Geteilte Elemente von Praktiken.
(Quelle: Shove et al. 2012: 73)
Was an dem Beispiel der frühen Computerkultur oder des Autofahrens ebenfalls herausgearbeitet werden kann, ist die Zeit-Räumlichkeit von Praktiken. „This is an important task in that materials, meanings and competences are not integrated in the abstract: practices, the outcomes of such integrations, happen somewhere and at some time“ (Shove et al. 2012: 73). Insofern haben Praktiken eine raumzeitlich situierte Geschichte, sie schließen an vergangene, räumlich verorte Praktiken an, was dazu führt, dass mehrere Arten des Fahrens koexistieren.
Zu Recht geraten Praxistheorien angesichts der Heterogenität von Fahrpraktiken in die Kritik konkurrierender Sozialtheorien, denn sie müssen erklären, worum es eigentlich geht, wenn sie von Fahrpraktiken als Entitäten sprechen, sofern diese immer räumlich und zeitlich situiert sind. Kritiker:innen monieren, dass aus der Perspektive der „practice-as-entity“ (Shove et al. 2012: 8) Abweichendes oder Widerständiges nivelliert wird und letzten Endes eine neue Art des Strukturalismus droht (Alkemeyer et al. 2015: 42). Mit Blick auf die Routinehaftigkeit und Regelmäßigkeit werden „Momente des Aufbegehrens, der Störung und Beunruhigung, der Unterbrechung und der Kritik“ systematisch ausgeblendet (ebd.: 43). Eine derartige Kritik vernachlässigt jedoch, dass Shove et al. neben der Draufsicht – dem sogenannten Zooming-Out – auch Praktiken als Entitäten betrachten und gleichzeitig die Perspektivverschiebung in einem „practice-as-performance“ (Shove et al. 2012: 8) mit einbeziehen. „A practice-as-performance takes place at a particular space and time when understandings, materials, practitioners and activities come together in a particular way“ (Hui 2017: 55). Stärke einer herauszoomenden Perspektivierung auf Praktiken ist, dass die Entstehung und Transformation sozialer Ordnungen und ihrer Subjekte rekonstruiert werden können. Bollig und Kelle erläutern diesen Zusammenhang anhand von Subjektpositionen (siehe auch Abschnitt 2.4):
„Als empirisches Phänomen ergibt sich die agency auch deshalb aus den Praktiken selbst, weil diese Praktiken nie statisch sind und auch nicht isoliert vorkommen, sondern vielmehr Verhältnisse des Verkoppelns, des Ineinanderübergehens und der Integration von verschiedenen Praktiken zu Ensembles aufzufinden sind. Das bedeutet aber auch, dass menschliche Teilnehmer gleichzeitig an vielfältigen Praktiken partizipieren, die nicht nur unterschiedliche Akteurspositionen vorhalten. Vielmehr werden die Akteure im Zuge dieser vielfältigen Partizipation gleichzeitig unterschiedliche, heterogene, möglicherweise auch einander widersprechende Formen praktischen Wissens inkorporieren“ (Bollig/Kelle 2014: 276).
Das inkorporierte Wissen des Körpers oder das in Artefakten als materielle Eigenschaften vorhandene Wissen besitzt eine gewisse Trägheit, die einerseits zu einer Stabilisierung und Reproduktion von Praktiken führt, andererseits aber durch die Verwicklung in vielfältige, andere Praktiken zu einem subversiven Element werden kann. „An die Stelle monokausaler Betrachtungen tritt die Einbettung der Praxis in ein Netz aus Relationen“ (Schäfer 2016: 144). Das inkorporierte Know-how eines Radio-Reparierens gerät als Element mit in die Ausführung und den Zusammenbau eines Personal-Computers (Abb. 2.3), reproduziert und transformiert sich dann wiederum. Für Shove et al. (2012) verdeutlicht sich am Beispiel der Kompetenzen, inwiefern der menschliche Körper praktisches Wissen von einer in die andere Praktik migrieren lässt. Im Gegensatz zu Artefakten, etwa digitalen Technologien, kann Know-how aus ihrer Sicht nicht von einer Praktik zu einer anderen einfach transportiert werden, vielmehr wird es verändert, umgestaltet und angepasst, wenn es von einer Situation oder Person zur nächsten wechselt und zwischen verschiedenen Praktiken zirkuliert (ebd.: 52). Doch die von Shove et al. (2012) angenomme Differenz von Artefakten und menschlichem Körper löst sich beim Blick auf diverse Studien auf, denn unter anderem haben De Laet & Mol (2000) in ihrer wunderbaren Studie zu Zimbabwe Bush Pump gezeigt, dass auch Technologien von neuen Praktiken affiziert werden und sich damit in ihrem Tun als Partizipanten modifizieren. Als Partizipanten bleiben Personen und Artefakte gleichermaßen an die Praktiken gebunden, deren Mitspieler sie sind und in denen sie zugleich in Mitleidenschaft gezogen werden (Schüttpelz 2016).
Insgesamt wird in den bisherigen Ausführungen die Relationalität von Praktiken und deren Teilnehmenden deutlich. Praktiken können sich gegenseitig einschränken, ermöglichen und bedingen. Auf einen zentralen Aspekt weist Schatzki (2016) dabei hin: „But connectedness must not be equated with dependence. The practices pursued by pedestrians walking along the docks also connect with docking, port authority, and dock practices but are not dependent on them“ (ebd.: 21). Es lässt sich demnach eine Vielzahl an möglichen Verbindungen und Verkopplungen zwischen den Praktiken erforschen. Überschneidungen, Überlappungen und Gemeinsamkeiten zwischen Praktiken können durch multiple Elemente realisiert werden, ohne dass ein deterministisches Verhältnis zwischen diesen besteht. Neue Praktiken können sich auf Kosten anderer durchsetzen, da diese nicht mehr oder zumindest nicht mehr so häufig ausgeübt werden (Shove et al. 2012: 83). In den zuvor ausgeführten Fällen sind die Elemente nicht wie Drähte fixiert, sondern sind als Zonen der Überschneidung und Überkreuzung zu verstehen (ebd.: 113). Wie innerhalb Praktiken müssen auch die Verbindungen zwischen Praktiken kontinuierlich reproduziert werden, damit sie Raum-Zeit überdauern können. Elemente von Praktiken können „loose-knit patterns“ (Shove et al. 2012: 87) bilden, die auf der Ko-Lokation beruhen. Es gibt auch Fälle, in denen Praktiken nebeneinanderstehen, ohne sich gegenseitig zu überlagen, zu verketten oder sich zu stören. Wenn jedoch Praktiken voneinander abhängen – sei es hinsichtlich Abfolge, Synchronisation, Nähe oder notwendiger Koexistenz – bilden sie Komplexe, deren emergente Merkmale nicht auf die einzelnen Praktiken, aus denen sie bestehen, reduziert werden können. Das bedeutet, dass diese Komplexe mehr sind als nur die Summe ihrer Teile. Derartige Komplexe sind Organisationen und damit im speziellen WfbM. Im nächsten Kapitel (ab Abschn. 3.2) wird das Organisationsverständnis dieser Arbeit erläutert, welches nahtlos an die bisherige Grundüberlegung anschließt. Zuvor wird jedoch der disziplinäre Diskurs um Organisation und Soziale Arbeit nachgezeichnet (Abschn. 3.1).
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Auch bei generativer KI handelt es sich noch um triviale Maschinen. „Die praktische Entwicklung konnektiver, algorithmisch gesteuerter Technologien spielt sich nach wie vor im Bereich einer trivialen Technik ab. Es geht um zunehmend, komplizierte Verschaltungen und Verrechnungen von Datenbanken, Algorithmen und Plattformen der sensorischen, motorischen und rechnerischen Datenverarbeitung, aber nirgendwo, wenn mein Eindruck nicht täuscht, um Komplexität im Sinne der Verrechnung von Unverfügbarkeit. Wir haben es mit einer trivialen Technik im Sinne determinierter Wenn/Dann-Verschaltungen zu tun. Komplex ist nicht diese Technik, sondern ihre komplexe Einbettung in Operationen sozialer, psychischer, neuronaler und organischer Systeme“ (Baecker 2023: 247).
Alkemeyer und Buschmann (2016) schlagen vor, beide Perspektivierungen nicht gegeneinander auszuspielen. „Wir schlagen vielmehr vor, sie so aufeinander zu beziehen, dass sie sich nicht nur komplementieren, indem sie jeweils unterschiedliche Aspekte sozialer Vorgänge scharf stellen, sondern auch gegenseitig relativieren, irritieren und stimulieren. Für jede der beiden Perspektiven bildet dann die jeweils andere einen Referenzrahmen der Beobachtung. Auf diese Weise wird zum einen der Konstruktcharakter jeder Beobachtung ausgewiesen: Ein soziales Geschehen liegt nicht einfach offen zu Tage, sondern muss durch die Einrichtung einer Analyse-Optik methodisch beobachtbar gemacht werden. Und zum anderen kann dann jede Beobachtung reflexiv auf die je andere Perspektive bezogen werden“ (ebd.: 127).
Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.