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23.03.2022 | Automobilproduktion | Schwerpunkt | Online-Artikel

Ukraine-Krieg sorgt für Kabelbaum-Engpass in Deutschland

verfasst von: Christiane Köllner

5 Min. Lesedauer

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Längst ist die automobile Lieferkette infolge des Ukraine-Krieges an vielen Stellen unterbrochen. Es mangelt vor allem an Kabelbäumen. In der EU stammt etwa jeder siebte verbaute Kabelbaum aus dem osteuropäischen Land. 

In den europäischen Fahrzeugwerken fehlen derzeit Kabelbäume beziehungsweise Bordnetze aus der Ukraine. Wie viele andere Unternehmen auch, hat der Nürnberger Bordnetzspezialist Leoni nach Kriegsbeginn seine Werke in der Ukraine geschlossen. In Folge warnte der Automobilzulieferer seine Aktionäre vor niedrigeren Umsätzen und Gewinnen. Medienberichten zufolge sei die Produktion mittlerweile "in begrenztem Umfang“ wieder angelaufen. Auch hätten andere Standorte im Leoni-Produktionsverbund begonnen, ukrainische Produktionskapazitäten zu duplizieren.

In der Ukraine werden rund 7 % der Bordnetze für die Automobilwerke in der Europäischen Union (EU) gefertigt, wie eine Studie der Strategieberatung AlixPartner auf Basis der Comtrade-Daten von 2020 angibt. So bestehe, wie Analyst Frank Biller von der LBBW erklärt, in einem Worst-Case-Szenario das Risiko eines Produktionsausfalls von bis zu 650.000 Fahrzeugen in Europa beziehungsweise rund 4 %. 

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Ukraine ist Niedrigkostenstandort der Automobilzulieferer 

Zahlreiche Zulieferer haben sich in den letzten Jahren in der Ukraine angesiedelt. Seit 1998 haben insgesamt 22 ausländische Automobilzulieferer etwa 600 Millionen Dollar in den Aufbau von 38 Produktionsstandorten in der Ukraine investiert, wie Alix Partners die Angaben der ukrainischen UkraineInvest zitiert. An diesen Standorten würden rund 60.000 Menschen arbeiten. 

Den mit Abstand bedeutendsten Teil der Zulieferer bilden dabei die Hersteller von Kabelbäumen sowie damit einhergehend konfektionierte Kabel, Stecker und Elektronikkomponenten. "Fast jeder der globalen Top 10 Hersteller von Fahrzeugkabelbäumen hat zumindest einen Montagestandort in der Ukraine", gibt Alix Partners an. Die Ukraine biete ein vergleichsweise niedriges Lohnniveau bei gleichzeitiger Nähe zu Zuliefer- und Fahrzeugproduktionsstandorten in Polen, Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland. Daher hätten sich die meisten Zulieferer im Westen der Ukraine niedergelassen.

Keine großen Lagerbestände

Für die Automobilindustrie ist die Situation kritisch. Zu den ersten Montageumfängen gehört der Kabelsatz beziehungsweise Kabelbaum. Der Kabelbaum ist einer der aufwendigsten und teuersten Komponenten. "In den Kabelsätzen (KS) moderner PKWs werden einige Kilometer an Kabeln und Leitungen verbaut, einige tausend Kontaktstellen sind verbunden, gewichtsmäßig liegt man im Bereich von 50 kg", erklärt Springer-Autor Gerhard Babiel im Kapitel Einführung Bordnetzstrukturen des Buchs Bordnetze und Powermanagement. Ohne dieses Bordnetz lässt sich kein Fahrzeug fertigen. Fehlen Kabelbäume, stehen die Fabrikbänder – wie aktuell bei BMW, Volkswagen und Porsche – still.

Die Herstellung von Kabelbäumen erfolge, so Alix Partners, nach wie vor stark in Handarbeit, insbesondere bei individuell konfigurierten Kabelbäumen. "Eine automatisierte Fertigung von Kabelbäumen ist bislang noch nicht von Vorteil, u.a. auch aufgrund mangelnder Standards", so die Analysten. Aus diesem Grund hätten Kabelbaumhersteller ein weites Netzwerk von Montagestandorten in den Niedriglohnregionen Osteuropa (circa 150 Standorte) sowie Nordafrika (rund 50 Standorte) aufgebaut. Diese Standorte belieferten die Fahrzeughersteller in Zentraleuropa (Italien, Deutschland, Frankreich) und in Vereinigten Königreich (UK). Bei Kabelbäumen gebe es keine großen Lagerbestände, da diese häufig kundenspezifisch gefertigt werden. Dem Exportumsatz zufolge liege die Ukraine mit 3,4 % des globalen Umsatzes an zehnter Stelle aller Kabelbaum-exportierenden Länder.

Kabelbäume: Deutschland hängt besonders von der Ukraine ab

Besonders Deutschland ist von Kabelbäumen und deren Komponenten aus ukrainischer Herstellung abhängig. "Fast die Hälfte des Kabelbaum-Exportvolumens der Ukraine geht direkt nach Deutschland. Indirekt ist der Wert noch weit höher, zumal Kabelbäume und deren Komponenten aus der Ukraine auch zur Montage kompletter Kabelbäume z.B. nach Rumänien exportiert werden. Und diese gehen zum großen Teil ebenfalls an deutsche Fahrzeugfertigungsstandorte", erklärt Alix Partners. Auch Automobilzulieferer sowie Komponentenwerke der OEMs etwa in Polen würden Kabelkomponenten aus der Ukraine beziehen und könnten aufgrund des Mangels weitere Fahrzeugsysteme (zum Beispiel Motoren) nicht mehr herstellen. Italien, Frankreich und England werden hingegen fast nicht direkt aus der Ukraine beliefert. Aus Gründen der Logistik würden diese ihre Kabelbäume häufig aus Nordafrika beziehen.

Die große Abhängigkeit deutscher Hersteller von Kabelbäumen aus der Ukraine zeige sich Alix Partners zufolge ferner, wenn man die Rangliste der Umsätze importierter Kabelbäume nach Herkunftsland analysiere. "Mit 11,6 % der von Deutschland importierten Kabelbäume und deren Komponenten liegt die Ukraine an dritter Stelle", heißt es. Weitere indirekte Abhängigkeiten würden sich aus Kabelbaum-Bezug aus Rumänien, Tschechien, Polen oder Ungarn ergeben, für welche die Ukraine zum Teil als Unterlieferant dient.

Einzige Chance: Verlagerung der Produktion

Die einzige Möglichkeit, der Krise zu begegnen, sei eine schnelle Verlagerung der Produktion beziehungsweise Montage, rät Alix Partners. Einige Zulieferer hätten bereits vor Monaten den nahenden Konflikt vorhergesehen und ihre hochvolumigen Kabelbäume und Komponenten aus der Ukraine heraus schrittweise verlagert, so etwa Aptiv laut Aussage ihres CEOs Kevin Clark in "Automotive News Europe". Dabei gestalte sich die Verfügbarkeit und das Einlernen von Personal, die Verlagerung der Montageboards sowie des Testequipments als die größte Herausforderung.

Die Automobilhersteller und ihre Zulieferer arbeiten laut LBBW-Analyst Biller derzeit gemeinsam an Lösungen, um die Lieferketten abzusichern. Dies schließe auch eine Verlagerung an andere Standorte bei den Zulieferern ein. Allerdings sei das eine Herausforderung: Eine Verlagerung der Produktion an andere Standorte sei nur eingeschränkt möglich – das Bordnetz ist ein "Just-in-Sequence"-Zulieferteil – teuer und könnte zwischen drei bis sechs Monaten dauern. In dieser Phase käme es zu geringeren Produktionszahlen bei den Automobilherstellern und geringeren Abrufzahlen bei den Zulieferunternehmen. Letztendlich ist Biller aber optimistisch: "Wir gehen jedoch davon aus, dass fehlende Volumina durch Produktionsverlagerungen in spätestens 6 Monaten ausgeglichen sein dürften".

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