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01.03.2022 | Industrie 4.0 | Interview | Online-Artikel

"Die Automobilindustrie muss schneller und flexibler reagieren"

verfasst von: Thomas Siebel

6:30 Min. Lesedauer

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Der Wandel in der Automobilindustrie fordert die Produktionstechnik heraus. Im Interview plädiert Christina Franke für eine stärkere Trennung von Software und Hardware, um die Fertigung maximal flexibel zu gestalten.

Springer Professional: Die Automobilindustrie steht an einer Zeitenwende. Wie betrifft das die Fahrzeugproduktion?

Christina Franke: Die Gestaltung der Produktion wird durch den tiefgreifenden Wandel in der Fahrzeug- und Zulieferindustrie stark beeinflusst. Bisher arbeitete die Industrie mit langen Modelllaufzeiten, vergleichsweise robusten Stückzahlprognosen und einer entsprechend langfristigen Produktionsplanung. Projekte zum Aufbau oder Umbau von Produktionskapazitäten wurden in Zeiträumen von mehreren Jahren gemessen. Um hohe Qualitätsanforderungen zu erfüllen, galt es, Änderungen in der Serienproduktion zu vermeiden.

Und nun stehen die Zeichen in der Produktion auf Veränderung?

Ja, allerdings bringt die Transformation der Fahrzeug- und Zulieferindustrie – wie jeder Wandel – ein hohes Maß an Unsicherheit mit sich: Welche Antriebstechnologien setzen sich bei den Kunden wann durch? Welche Komponenten und Systeme sind für das automatisierte Fahren in Pkw- und Lkw-Produktion gefragt? Wie entwickeln sich politische Rahmenbedingungen? Diese Unsicherheiten verstärken sich durch Folgen der Corona-Pandemie und geopolitische Verwerfungen. So bringen beispielsweise Lieferengpässe die fein abgestimmte Just-in-time-Produktion aus dem Takt. Die Automobilindustrie muss sich in die Lage versetzen, viel schneller und flexibler auf sich ändernde Anforderungen zu reagieren. 

Gemeinsam mit 30 Partnern erforscht Bosch nun einen neuen Typ von einem Produktionssystem, das die Automobilindustrie fit für die Zukunft machen soll. Sie nennen es softwaredefinierte Fertigung. Was ist darunter zu verstehen? 

Bei komplexen digitalen Systemen wie großen Online-Shopping-Plattformen lässt sich beobachten, wie sich diese blitzschnell an veränderte Markt- und Kundenanforderungen anpassen. Die softwaredefinierte Fertigung überträgt diesen Ansatz in die industrielle Produktion. Das Vorhaben zielt also nicht primär darauf ab, Produktionssysteme komplett neu aufzubauen, sondern soll Unternehmen befähigen, flexible und sich wandelnde Produktionssysteme einzurichten und dynamisch an sich ändernde Anforderungen anzupassen. Mithilfe intelligenter Software werden dabei Einflüsse auf die Produktion kurzzyklisch geprüft, Lösungen simuliert und digital erprobt, sodass sich Anpassungen unter möglichst geringem Ressourcen- und Zeiteinsatz realisieren lassen. 

Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?

Wird beispielsweise ein Unternehmen mit steigenden Kundenabrufen konfrontiert, kann es so künftig parallel zum laufenden Betrieb das Produktionssystem für den neuen Bedarf virtuell konfigurieren, den Ablauf simulieren, die Änderungen freigeben, möglichst automatisiert umsetzen und so die Kundenabrufe in der physischen Welt bedienen.

Worin unterscheidet sich die softwaredefinierte Fertigung von bisherigen Entwicklungen auf dem Feld der modularen Produktionssysteme?

Modulare Produktionssysteme, die aus standardisierten, voll funktionsfähigen Einheiten bestehen und zu Systemen mit gewünschten Fähigkeiten kombiniert werden, sind eine wesentliche Grundlage für eine softwaredefinierte Fertigung. Auch heute schon ist Software in der Fertigung ein dominanter Faktor, aber das Potential ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. So ist Software meist starr an Anlagen gekoppelt und kann nicht ohne Weiteres auf andere Maschinen und Linien übertragen und dort ausgeführt werden. 

Wie könnte man Software in der Fertigung noch besser einsetzen?

Ein gutes Beispiel ist der 3D-Druck. Hier finden wir echte softwaredefinierte Prozesse. Durch entsprechende Programme lässt sich ein riesiges Spektrum an Bauteilen produzieren. Im Projekt SDM4FZI – das steht für Software-defined Manufacturing für die Fahrzeug- und Zulieferindustrie –arbeiten wir daran, dieses Portfolio zu erweitern und sinnvoll in den Rahmen einer softwaredefinierten Fertigung einzubetten. Dabei haben wir sowohl bestehende als auch neue Technologien und Konzepte im Blick. 

Welche Technologien und Konzepte meinen Sie?

Zu den bereits verfügbaren Bausteinen zählen beispielsweise etablierte Standards wie OPC UA für den Datenaustausch in industriellen Netzwerken. Softwaredefinierte Fertigung erfordert aber auch, gezielt durch Innovationen Lücken zu schließen: Wir müssen eine stärkere Trennung von Automatisierungssoftware und -hardware erreichen und cloudbasierte Steuerungstechnik weiterentwickeln.

Wieviel Zeit und Kosten ließen sich damit gegenüber heutigen Produktionssystemen einsparen?

Software ist ein wichtiger Baustein für eine moderne Produktion. Bosch digitalisiert und vernetzt seit rund zehn Jahren die eigenen Werke und die seiner Kunden. Industrie 4.0 bietet messbaren Mehrwert. Die Projekte zeigen: Mit Vernetzung lässt sich die Produktivität an Standorten um bis zu 25 Prozent steigern und die Maschinenverfügbarkeiten um bis zu 15 Prozent erhöhen, während Wartungskosten um bis zu 25 Prozent sinken. In einem nächsten Schritt überführen wir standardisierte Software und Tools zur Produktionssteuerung in eine zentrale Fertigungsplattform, die allen Bosch-Werken zur Verfügung steht. Im Forschungsprojekt greifen wir diesen Ansatz auf: Mit softwaredefinierter Fertigung wollen wir Planungsaufwände signifikant reduzieren.

Welche Entwicklungsschwerpunkte setzen Sie im Projekt?

Bosch ist mit vier Geschäftseinheiten am Forschungsprojekt beteiligt. Neben der zentralen Forschung gehören Fertigungsexperten von Bosch Rexroth, Bosch Manufacturing Solutions und Bosch Automotive Steering zum Team. Gemeinsam arbeiten wir an technischen Grundlagen wie Softwarearchitekturen und Virtualisierungstechniken, entwickeln Maschinensteuerungen und Antriebe und neue Anlagenkonzepte inklusive passender Software. Auch die praxisbezogene Begleitung und Erprobung der Ergebnisse in der Bosch-Produktion von Lenksystemen ist Teil des Projekts.

Welche Voraussetzungen müssen Maschinen für die softwaredefinierte Fertigung erfüllen? 

Erstens: Je umfassender die Prozesse in Maschinen durch Software beeinflussbar sind, desto mehr Möglichkeiten eines softwaredefinierten, variablen Einsatzes bieten sich. Das erste Ziel ist somit, diese Beeinflussbarkeit zu erreichen. Zweitens benötigen wir digitale Zwillinge von Produkten, Maschinen und Produktionssystemen. Und drittens braucht es Daten aus Produkten, Prozessen und Produktion. 

Könnten bestehende Maschinenparks in diesem Kontext weitergenutzt werden?

Schon heute sind Produktionssysteme vielfach in der Lage, Daten zu Fertigungsparametern wie Qualität oder Zustand von Anlagen zu liefern. Auch das Nachrüsten von bestehenden Maschinenparks, um diese Industrie-4.0-fähig zu machen, ist mittlerweile kostengünstig möglich. Die Herausforderung liegt nun vor allem darin, die richtigen Daten durchgängig für unterschiedliche Anwendungen nutzbar zu machen und damit Potenziale auch durch den Einsatz digitaler Zwillinge zu heben.

Das neue Produktionssystem soll Steuerungssoftware automatisch generieren. Maschinen könnten dann Aufgaben übernehmen, für die sie möglicherweise nicht vorgesehen waren. Ist das im heutigen rechtlichen Rahmen machbar?

Wir sehen aktuell noch keinen Änderungsbedarf im Hinblick auf den rechtlichen Rahmen, sehr wohl aber in Bezug auf die Rahmenbedingungen in unseren Prozess- und Lieferketten: Fabrikbetreiber müssen mehr Freiraum in der Gestaltung des Produktionsprozesses bekommen, um von den Vorteilen einer softwaredefinierten Produktion zu profitieren. Zu starre Vorgaben, Prozesse und Richtlinien hemmen. Die Erweiterung des Funktionalitätsspektrums von Maschinen bietet darüber hinaus die Chance, den Lebenszyklus von Maschinen auszudehnen: Sie sind länger im Einsatz und bleiben länger in Betrieb. Wir erzielen also nicht nur ökonomische Effekte, sondern machen die Produktion auch nachhaltiger.

Welches sind die größten Hürden auf dem Weg hin zur Trennung von Produktionshardware und Software?

Im Gegensatz zur IT-Welt, in der die Trennung von Hardware und Software seit Jahren etabliert ist, haben wir in der Produktion noch die eine oder andere Hürde zu überwinden. Dazu gehört beispielsweise die unglaubliche Menge an verschiedenen Anlagen und Prozessen, die in den Fabriken dieser Welt eingesetzt werden, sowie die Vielzahl an Automatisierungsgeräten unterschiedlicher Hersteller, die im Einsatz sind. Allerdings lieferte die IT-Welt bisher noch nicht die Echtzeitfähigkeit, die für eine softwaredefinierte Fertigung erforderlich ist. Zudem stoßen wir auf gewachsene Organisationsstrukturen, die Daten und Software den klassischen Maschinenbau- und Produktionsthemen unterordnen. Aber viele Unternehmen haben das bereits erkannt und richten sich neu aus. Dazu gehören nicht nur Industrie-4.0-Pioniere wie Bosch, auch viele kleinere und mittelständische Unternehmen haben sich auf den Weg gemacht, Potenziale von Software in der Produktion umfassend zu nutzen.

Frau Franke, vielen Dank für das Interview.

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